Was ist geistig normal - und alles andere krank?

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
e-noon
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Fr 5. Mai 2006, 19:08 - Beitrag #81

Klar finde ich das nicht gut - wohl keiner hier findet das gut - aber dennoch ändert das nichts an der Tatsache, dass diese Menschen dann im Sinne der Definition Hexen sind: Wenn du sagst, eine Frau mit Eigenschaften xy ist eine Hexe, und du findest dann eine Frau, die diese Eigenschaften hat, dann ist sie im Sinne dieser Definition eine Hexe. Wenn du den Begriff so definierst, beinhaltet er allerdings nicht mehr magische Kräfte etc., was du womöglich vergessen hast? Denn wenn du "Hexe" so definierst und eine solche Frau findest, dann ist sie ja tatsächlich eine Hexe - nämlich eine rothaarige nichtmonastische etc. Frau!

Und doch, es ging um Definitionen - zumindest in denen aus unseren Post, deren Inhalt aus mir unerklärlichen Gründen für falsch erklärt wurde.

janw
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Fr 5. Mai 2006, 19:27 - Beitrag #82

e-noon, das Problem, zumindest ein Problem dabei ist, daß "Hexe" wie auch "krank" nicht nur wertfreie Eigenschaften sind wie "die Tomate hat ein Lichtabsorptionsmaximum bei 800 nm", sondern Gegenstand von sozialen Algorithmen sind - in dem Moment, wo Du einen Menschen mit einer bestimmten Eigenschaft belegst, weist Du ihn auch automatisch einer bestimmten Wertzumessung und Behandlung zu.

Ich weiß, das wird recht kompliziert, gerade, wo es tatsächlich Zustände gibt, in denen Menschen anderer Hilfe bedürfen - nur werden diese Zustände meist eben den Menschen zugesprochen und nicht diesen dann Hilfe gegeben, wenn sie selbst aus sich heraus dieser bedürfen.

Ceitlyn
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Di 9. Mai 2006, 10:51 - Beitrag #83

ich würde meinen, eine solche Zuschreibung ("krank", "Hexe", ....) (ver)hindert unter Umständen auch den eigentlichen Menschen sehen zu können. Es mag dann schwer fallen über das "krank" od "Hexe" (oder was immer) hinauszublicken und sehen zu können....

janw
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Di 9. Mai 2006, 11:47 - Beitrag #84

Stimmt, vor lauter Eigenschaft verschwindet der Mensch dahinter :(
Überhaupt eines der Probleme der Schulmedizin, daß sie den Menschen aus den Augen verliert...

Ceitlyn
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Di 9. Mai 2006, 11:54 - Beitrag #85

ich möchte es nicht verallgemeinern, Jan.
ich habe schon beides erlebt, nicht nur in der Medizin: Menschen die den anderen Menschen vor lauter Kategorisierens nicht mehr sehen, und Menschen die trotz eigenen Kategorisierens dennoch den Menschen ihnen gegenüber sehen können
Aber die wirklich unangenehmste Erfahrung der ersten Art habe ich meistens auf Behördengängen, dort sehr oft das Gefühl zur Nummer zu schrumpfen die ein paar Daten, Fertigkeiten etc vorzuweisen hatte...

Lykurg
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Di 9. Mai 2006, 12:02 - Beitrag #86

Gottfried Benn: Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

[...]

Letztlich ist das Sehen des Krankheitsfalls anstelle der Person auch eine Schutzfunktion für den Arzt. Konfrontation mit dem extremen Leid führt hier zur Reduktion auf die Pflicht, wenn alles darüber hinausgehende Übermenschliches verlangen würde. Der Arzt ist als Heilender dem physischen und psychischen Wohl seiner Patienten verpflichtet. In einer Situation wie der von Benn beschriebenen Krebsbaracke ist aber das Menschliche so weit entfernt, daß hier im Ausblenden der einzige Weg erscheint, nicht vollends an der Welt zu zerbrechen.

In Behörden sollten - trotz chronischer Überlastung der Sachbearbeiter - derartige Zustände eigentlich nicht herrschen. :rolleyes:

janw
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Di 9. Mai 2006, 15:26 - Beitrag #87

Das Problem des Sich-abgrenzen-Müssens haben wohl alle Menschen, die beruflich oder ehrenamtlich mit Leid und Elend konfrontiert sind, letztlich auch Sachbearbeiter von Behörden.
Das Problem ist immer, die eigene Abgrenzung nicht zu Lasten der Wertschätzung des ganzen Menschen hinter dem Fall vorzunehmen.

Auch ein Beispiel für Zuwendung:
Sagt der Chefarzt nach sehr gut gelungener Operation zum jugendlichen Patienten, der sich etwas sozial unangepasst verhalten hat: Na das ist ja sehr gut gelaufen, ein völlig unverdient gutes Ergebnis!

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Fr 12. Mai 2006, 14:19 - Beitrag #88

Zitat von Ceitlyn:ich möchte es nicht verallgemeinern, Jan.
ich habe schon beides erlebt, nicht nur in der Medizin: Menschen die den anderen Menschen vor lauter Kategorisierens nicht mehr sehen, und Menschen die trotz eigenen Kategorisierens dennoch den Menschen ihnen gegenüber sehen können
Aber die wirklich unangenehmste Erfahrung der ersten Art habe ich meistens auf Behördengängen, dort sehr oft das Gefühl zur Nummer zu schrumpfen die ein paar Daten, Fertigkeiten etc vorzuweisen hatte...
Das sehe ich genauso! Das Schubladendenken macht auch nicht vor den vermeintlich gesunden Mitgliedern eine Gesellschaftsgruppe halt. Wobei das Etikett "krank" schon sehr schwer wiegt, selbst wenn es sich nur als Gerücht oder Ruf verbreitet und garnicht wahr ist. Die meisten Menschen denken bequem und nehmen die bequemste Schublade als Wahrheit an. Die meisten Menschen wollen belogen werden und belügen sich gerne selbst, weil es einfach und bequem ist.

Maglor
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Do 18. Mai 2006, 09:44 - Beitrag #89

Ob jemand geisteskrank ist, oder nicht, oder reden wir besser vonpsychisch krank, hängt vor allen Dingen davon ab, ob die Person darunter leidet oder gar sich selbst oder andere gefährdert. Erst im letzten Fall kann und darf eine Zwangseinlieferung erfolgen.
Natürlich haben auch "gesunde"/"normale" Menschen Zwänge, Stimmungsschwankungen, Ängste zuweilen auch Halluzinationen aber sie leiden nicht darunter, da diese Phänomene bei ihnen nicht so ausgeprägt sind.
Es gibt also eine Art Maß.
MfG Maglor

Ipsissimus
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Fr 19. Mai 2006, 15:27 - Beitrag #90

äh, doch, Maglor, ich leide unter meinen Zwängen, Ängsten, Stimmungsschwankungen und Wahnvorstellungen :-) na gut, ich vielleicht nicht so sehr^^

aber ich kenne eigentlich sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld nur Leute, bei denen dieses Leiden an sich selbst der Normalfall ist, und die wenigsten davon gelten als psychisch krank

e-noon
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Fr 19. Mai 2006, 15:34 - Beitrag #91

Als psychisch krank im herkömmlichen Sinne (die Diskussion um Logik und Definitionen hat sich ja als fruchtlos erwiesen) gilt wohl erst, wer für andere offensichtlich krank ist. Ständige Traurigkeit ist aber mittlerweile auch als psychische Erkrankung akzeptiert (wenn auch nicht immer mit Verständnis betrachtet) und nennt sich Depression. Zur Einordnung als psychische Krankheit gehören imo auch die Umstände; ist jemand lange traurig, weil er einen geliebten Menschen verloren hat, gilt er nicht als psychisch krank, ist der Grund seiner Trauer für kaum einen nachvollziehbar, dann schon.

Ich denke, Maglor wollte nicht bestreiten, dass auch normale Menschen unter ihren Ängsten leiden ^^ Aber sie leiden eben meist nicht so, dass es ihr Leben blockiert, denn dann spricht man schon von einer psychischen Erkrankung.

janw
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Fr 19. Mai 2006, 16:38 - Beitrag #92

Zitat von Ipsissimus:aber ich kenne eigentlich sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld nur Leute, bei denen dieses Leiden an sich selbst der Normalfall ist, und die wenigsten davon gelten als psychisch krank

Ipsi, ich kann das nachvollziehen, wenn ich mich so umsehe, frage mich manchmal, warum das so ist.
Ist es wirklich kollektive Gewalt, die da bewußt wird, und eben, nach meinem Empfinden gerade vielen bewußt wird, die sehr viel denken, oder ist etwas dran am "to be too wise for one´s own good"?

Ceitlyn
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Fr 19. Mai 2006, 18:15 - Beitrag #93

Gedanke. Vielleicht ist das nur ein kleiner Púnkt auf diese Entwicklung, aber in dem anderen thread hast du von Großfamilien gesprochen. Sehr oft wird "der Mensch" als ein Wesen dargestellt, das nicht allein leben kann, das die Gesellschaft seinesgleichen braucht und sucht, nicht die ganze Zeit vielleicht aber doch immer wieder. Und nun sieh dir die vielen Singles, Alleinerziehenden, die Alters- und Kinderheime, die Sonderschulen und -heime etc an... (Und vielleicht nicht nur diese, sondern auch: Wie viele Menschen wachsen trotz "intakter" Familie allein auf?)

Vielleicht fehlt einfach etwas, Gegenstücke die solche Lücken im eigenen Empfinden auffangen können

janw
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Fr 19. Mai 2006, 20:19 - Beitrag #94

Ceitlyn, "der Mensch" als individuelles Wesen oder soziales Wesen sind zwei Zuschreibungen, die beide zutreffen in dem Sinne, daß sie Möglichkeiten beschreiben, wie mensch leben kann, die aber zugleich auch sehr interessegeleitet verwendet werden.
Von Seiten der Agilen der Gesellschaft wird das Recht des Individuums betont, Gesellschaft als potentiell hemmende Instanz verstanden, die mit Konventionen den Einzelnen in seiner Entfaltung zu beschneiden sucht, in den Augen der Liberalen hält Gesellschaft ihn gar von seiner Möglichkeit zur Leistung und der Erzielung "wohlverdienten" Gewinns ab.
Von Seiten der weniger Agilen wird hingegen die letztliche Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft betont, mit Verweis auf die unzweifelbar vorhandenen sozialen Wahrnehmungskerne und sozialrelevanten Hirnregionen und auf die ständige Gefahr des Einzelnen, durch unglückliches Schicksal selbst zu einem der weniger Agilen zu werden und damit abhängig von der Hilfe anderer. Letzteres, auch im Verbund mit religiösen Haltungen, wird dann zur Entwicklung des Verantwortungsbegriffs verwendet, dem Agilen Einzelnen wird gesellschaftlich auferlegt, seinen Gewinn mit allen zu teilen.

Beide Haltungen haben also rational nachvollziehbare Fundamente, die aber interessegeleitet verwendbar sind in in gut- bis böswilliger Absicht.

Soweit mein unverstellter Blick auf das Dilemma^^, daß ich dennoch eher der sozialen Sichtweise zuneige, hat viel mit mir selbst zu tun, damit, daß ich sehr wohl unter Vielen meine eigenen Wege gesucht, vor mich hin gelesen, im Garten gebuddelt usw. habe, mir aber auch immer wieder aufgefallen ist, daß mir dann und wann Gesellschaft ziemlich gut tut. Außerdem, wird nicht das Einzelne erst zum Einzelnen, wenn es die anderen daneben gibt, wie das Meer ein anderes wäre ohne das Land darin?

Wobei der Gegensatz individuelle contra soziale Sichtweise eigentlich auch nicht ganz richtig ist, denn was "den Menschen" vom Schimpansen unterscheidet ist zum einen, daß der Mensch durchaus einzeln gehalten werden kann, ohne krank zu werden, vor allen Dingen und überhaupt aber seine Fähigkeit zur Empathie. Der Gorilla-Silberrückenmann ist Chef der Horde, aber wenn er sich ein Bein bricht, wird er liegen gelassen.
Mit-Menschlichkeit, dem anderen einen Platz im eigenen Herzen zu geben, sich in ihn einzufühlen, sich um ihn zu kümmern, einfach weil er er ist, das ist das, was den Menschen zum Menschen macht.
Durch die Zuspitzung der Sichtweisen individuell contra sozial wird eigentlich dieser Aspekt negiert, Macht versucht, dem Menschen die Menschlichkeit auszutreiben.

Was Deine Beispiele gesellschaftlicher Realität betrifft, man kann durchaus die Frage stellen, ob diese Gesellschaft "gesund" ist in dem Sinne, daß die Menschen sich in diesen Singlesituationen, in den Alters- und Kinderheimen und Sonderschulen wohl fühlen, ob sie es nicht lieber anders hätten.
Nun, als Erwachsene haben sie es, eine gute Kindheit vorausgesetzt, einigermaßen in der Hand, etwas an ihrer Lage zu ändern, was nicht heißen soll, daß der Einzelfall einfach zu verbessern ist.
Ich denke aber schon, daß mehr Bezugspersonen in der Kindheit nicht schlechter sind als nur eine...zumindest ich habe doch von meinem Vater und meiner Schwester einiges bekommen, was meine Mutter mir nicht geben konnte...und daß ein Kind etwas andere "Lebensraumansprüche" hat als ein Erwachsener, sonst vielleicht nicht alle Freiheitsgrade und Selbstverankerung bekommt, die es ihm als Erwachsenem leicht ermöglichen, Beziehung zu leben, wenn er das will oder glücklich allein zu leben, wenn das der Wunsch ist.
Was nicht heißen soll, daß beides nicht nachher gelernt werden kann, aber das ist zumindest anstrengend...

Vertrauen in uns selbst und auf uns selbst kommt nicht von selbst, in meinen Augen.

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