Immaterielle Gesetzmäßigkeiten ohne Gott- wie geht das?

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janw
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Di 29. Aug 2006, 13:23 - Beitrag #1

Immaterielle Gesetzmäßigkeiten ohne Gott- wie geht das?

Mal eine Frage zum Bereich der buddhistischen Weltsicht...

Einer der Wesenszüge von Religionen mit Göttern ist, daß diesen die Aufstellung von Regeln zugeschrieben wird, die von den Gläubigen mehr oder weniger streng zu befolgen sind.

Wenn ich es nun richtig sehe, dann macht auch der Buddhismus Aussagen über die Beschaffenheit der Welt und den Verlauf des Lebens, aus denen sich Regeln für ein im Sinne des Glaubens "gutes" Leben ergeben.
Ich frage mich nun, wie kann das sein?
Was treibt die "Wiedergeburtsmühle" an, was bestimmt, als was ein Wesen wiedergeboren wird?

Ipsissimus
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Do 31. Aug 2006, 14:58 - Beitrag #2

Der Buddhismus hat von konkurrierenden indischen Religionen sowohl die Vorstellung des "Rads der Wiedergeburten" als auch die Vorstellung vom "Karma" übernommen.

"Karma" (Sanskrit, n., कर्मन, karman, Pali, kamma, Wirken, Tat) bezeichnet ein spirituelles Konzept, demzufolge jegliche Handlung, sei sie physischer oder psychischer Natur, unweigerlich eine auf den Akteur rückwirkende Folge hat, die allerdings nicht unbedingt im aktuellen Leben wirksam wird, sondern über das Rad der Wiedergeburten u. U. in einer anderen Inkarnation. "Karma" formuliert also den Glauben in die Gültigkeit des Ursache-Wirkungsprinzips auf geistiger Ebene auch über mehrere Lebensspannen hinweg.

Das buddhistische Karma-Konzept beschreibt ausschließlich die Wirkungen von Handlungen und Gedanken, insbesondere die Rückwirkungen auf den Handelnden selbst. Karma entsteht demnach durch eine universelle Gesetzmäßigkeit und nicht infolge der moralisch-ethischen Beurteilung durch einen Weltenrichter oder Gott. Es geht um das Prinzip von Ursache und Wirkung, nicht um "Göttliche Gnade" oder "Strafe". Daher erzeugt nicht nur "schlechtes" Karma den Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) sondern gleichermaßen das "gute" Karma.

Dieser letzte Satz beschreibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der hinduistischen und buddhistischen Karma-Konzeption

Letztes Ziel des Hinduisten ist es, durch das Ansammeln von gutem Karma, überwiegend durch gute Taten, zur Erkenntnis seiner ursprünglichen Gottgleichheit zu gelangen. In jenem Augenblick, da sich der Atman als der ursprüngliche Braman erkennt, verlässt er Maya und das Rad der Wiedergeburt und geht in göttliche Glückseligkeit ein.

Letztes Ziel des Buddhisten ist, überhaupt kein Karma mehr zu haben, weder gutes noch schlechtes. Dies kann er nicht über Taten bewirken, auch nicht über Gebete, sondern überhaupt nicht. Er ist also gefangen im Rad. Hebt er nur den kleinsten Finger, erzeugt er Karma. Der erste Atemzug des Neugeborenen erzeugt schon Karma. Alles erzeugt Karma.

Freiheit vom Rad erlangt er nur durch eine Einsicht, die Einsicht in die Nichtigkeit des Rads und aller Existenz. Und diese Freiheit führt zum Eingang ins Nirvana, das wir uns in aller Berechtigung als das endgültige, irreversible Auslöschen der persönlichen Existenz vorstellen können.


Nun, das ist "unpraktisch" für eine Religion, da hast du recht, janw, auch wenn es für einen Philosophen, der tatsächlich genug hat vom Rad, befreiend ist.

Unsere an Religion interessierten Pragmatiker waren auch unmittelbar nach Buddhas Tod eher nicht um eine Lösung verlegen. Wie erlangt mensch denn die besagte Einsicht?

Nun, Buddha hatte da etwas im Sinn, das seiner eignen Vorgehensweise entsprach, und die verlief in strenger Meditation. Natürlich gibt es auch von ihm Verhaltensregeln. Die sind aber nicht im Sinne einer moralischen Lebensweise zu verstehen, sondern als praktische Lebensregeln, die das ganze etwas vereinfachen sollten (und führten zu dem analogen Irrtum wie bei den Juden, wo Vorschriften wie das Schweinefleisch- und Meeresfrüchteverbot aus dem ursprünglichen medizinischen Kontext in den moralischen Kontext umgedeutet wurden).

"Ungeeignet für die breite Masse", lautete das Verdikt seiner Apologeten und Nachfolger in moderner Sprache, und die geniale Lösung des Mahayana lautete: "Wer auch immer nach Nirvana strebt, wird es nicht erlangen, solange er so selbstsüchtig ist, ins Nirvana einzugehen, ehe noch die letzte empfindende Seele zum Nirvana befähigt wurde."

Damit hielt prinzipiell die Moral Einzug in den Buddhismus, und auch, wenn Hinayana, Theravada und Zen darüber lächeln, erwiesen sich Vajrasana und Mahayana geschichtlich bei weitem wirkungsmächtiger. Das moralische System wurde im Laufe der Zeit entfaltet und ausgeweitet, und das war´s schon^^

janw
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Do 31. Aug 2006, 23:44 - Beitrag #3

Danke, für die gut verständliche Erklärung :)

Bleibt mir nur ein Einwand gegen Hinayana, nämlich der, daß eine der wesentlichen Eigenschaften des Menschen ist, mit anderen mitfühlen und sich solidarisch verhalten zu können, irgendjemand hat es mal auf den Satz zugespitzt, durch den Menschen sei "die Liebe in die Welt gekommen".
Ist das Konzept der individuellen Erreichung des Nirvana nicht demgegenüber recht eigennützig, Mahayana also "menschen-gerechter"?
Oder liegt die Qualität des Hinayana darin, mit der Mitmenschlichkeit auch Hass usw. auszublenden, die dem Menschen in gleicher Weise möglich sind?
Was dem Einzelnen ermöglicht, sich letztlich selbst ohne jeden Druck zu entscheiden, ob er allein ins Nirvana eingehen will oder erst, wenn auch alle anderen fühlenden Wesen bereit dazu sind...?

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Fr 1. Sep 2006, 10:32 - Beitrag #4

die "alten Formen" - Hinayana und vor allem Theravada - zielen auf etwas, das man in westlicher Terminologie den "freien Menschen" bezeichnen könnte.

"Frei" bedeutet hier soviel wie die Freiheit des Alkoholikers vom Zwang des Alkoholkonsums.

Karma ist Folge des Anhaftens an die Erscheinungen der Welt infolge dreier Geistesgifte des Menschen

  • Bindung oder Gier (Lobha)
  • Hass (Dosa)
  • Unwissenheit (Moha).


Die Wirkungweise dieser Gifte können wir uns schon als geistige Analogie zu Heroin vorstellen. Buddhismus stellt Werkzeuge zur Verfügung, die Wirkung dieser Geistesgifte zu neutralisieren. Ein in diesem Sinne freier Mensch geht den Rest seiner Inkarnation durch die Welt, aber er ist nicht mehr Teil der Welt, weil er ihr und ihren Phänomenen nicht mehr anhaftet.

Der Begriff des Anhaftens ist tatsächlich zentral, in vielerlei Hinsicht. Wir können uns auch klebrige, honigverschmierte Finger vorstellen, mit denen du versuchst, eine Briefmarkensammlung zu sortieren.

Der Standpunkt des Mahayana ist aus Sicht des Theravada nichts als übliche menschliche Hybris. Noch dem freigewordenen Menschen soll vorgeschrieben werden, nach den Regeln menschlicher Ängstlichkeit zu spielen. Was Mahayana und alle moralgewordenen System übersehen - der freigewordene Mensch haftet nicht mehr an - und läßt sich daher auch nichts mehr vorschreiben. Mag sein, einige Freie gehen als Samariter durch die Welt - aber ganz sicher nicht, weil sie irgendeinem moralischen oder ethischem Impakt folgen; sie tun es deswegen, weil sie erkannt haben, daß es ihnen angemessen ist.

janw
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Fr 1. Sep 2006, 13:22 - Beitrag #5

Das eigene Selbst wird also zum Bezugsrahmen, Selbstangemessenheit zum alleinigen Kriterium ?

Wenn Gier und Bindungen wegfallen, Hass durch Verständnis für die Hintergründe
ersetzt und Unwissenheit beseitigt ist, dann bleibt Mitgefühl als einzige nach außen gerichtete Emotion übrig - kommt dieses Modell der Vorstellung nahe?

Ein mir durchaus sympathisches Konzept...wie verträgt es sich mit der Ausübung von Macht, die ja durchaus auch in Händen von Buddhisten ist?

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Di 19. Sep 2006, 12:13 - Beitrag #6

nun, ein freier Mensch ist kein moralischer Mensch, er ist aber auch kein hasserfüllter oder gieriger Mensch mehr. Wenn er Macht in den Händen hält, wird er sie so verwenden, daß er den Geistesgiften nicht auf´s Neue anheimfällt. Was das im Einzelnen konkret heißt, müßte einzeln untersucht werden. Jedenfalls läßt sich sagen, daß der Buddhismus afaik die einzige größere Religion ist, die unblutig missioniert hat; darüber hinaus wurden Kriege buddhistischer Herrscher kaum einmal religiös begründet.


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