Selbstwiderlegungen in Zitaten

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
janw
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Di 17. Apr 2007, 17:21 - Beitrag #1

Selbstwiderlegungen in Zitaten

Seit einiger Zeit habe ich in meiner Sig ein Zitat, dessen Aussage wesentlichen Grundparadigmen des Urhebers widerspricht. Ich frage mich dabei seit eben dieser Zeit, ob mir dies nur so vorkommt, oder ob dieser Widerspruch tatsächlich zu konstatieren ist, ebenso, wie dieser Widerspruch zu bewerten wäre, ein Lapsus oder ein Wandel in der Weltsicht in einem altersweise gewordenen Philosophen?
Man muss versuchen zu lernen, dass man sein Sein, sein Leben nur suchen kann, indem man für die anderen tätig ist. Darin liegt die Wahrheit. Es gibt keine andere.
J.P.Sartre, zit.n. Rupert Neudeck


Sartre ist einer der wesentlichen Verfechter des Nihilismus in der modernen europäischen Philosophie. Eine Suche nach einem Sein außerhalb desselben erscheint mir demgegenüber als Rückschritt, als Rückkehr zu einer Sinngebung des Lebens - auch wenn er nicht explizit von Sinn spricht - welche zwangsläufig immer nur subjektiv und intentional sein kann.

Nun taucht bei Spender in seiner Sig ein ähnlicher Fall auf, der mich gleichfalls stutzig macht.
Wie ist dieses Zitat zu sehen, beruht es auf einem Übersetzungsfehler, ist es aus dem Zusammenhang gerissen?
Alles was ist, ist nur, weil es mit allem kommuniziert.
Nichts ist für sich selbst, ein jedes hat seine Existenz im Anderen!

Dalai Lama


Hier ebenfalls - wenn ich den Buddhismus richtig verstehe, versucht er, wenn auch teilweise verwässert, sich von Sinnzuweisungen frei zu machen, wie sie in dem "weil"-Ausdruck zum Ausdruck kommt.
Ich hätte den Satz eher so formuliert:
Alles was ist, ist nur, indem es mit allem kommuniziert.
Nichts ist für sich selbst, ein jedes hat seine Existenz im Anderen!

wenn man schon Interaktion als Grundeigenschaft des Seins auffassen will - wogegen für mich aus nächster Näherung nichts spricht.

Maurice
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Di 17. Apr 2007, 20:11 - Beitrag #2

@Satre: Ich habe keine Ahnung von Satre und auch kein nennenswertes Interesse, da ich mich primär in der analaytischen Philosophie heimisch fühle und für diese "emotionale" Philosphie wie Existenzialismus & Co nicht übrig habe.
Sollte ich Satre aber wohlwollend interpretieren, würde ich die These aufstellen, dass er hier mit "sein Sein" soetwas wie "sich selbst" meint. Er will also vielleicht sagen, dass man nur sich selbst erkennen und wirklich leben kann, wenn man sich auch um die Belange anderer kümmert.
Aber diese Existenzalisten schreiben extra so unnötig geschwollen, um den mageren Inhalt zu kaschieren... oder weil sie es nicht besser können. :rolleyes:

PS: Wenn wir hier Satre, den Dalai Lama und andere philosophische Charaktere interpretieren wollen, ist der Thread eindeutig besser in der Philo-Sektion aufgehoben.

Ipsissimus
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Mi 18. Apr 2007, 11:43 - Beitrag #3

janw, Sartre ist nicht Verfechter des philosophischen Nihilismus, sondern des Existentialismus. Dieser betont die Vorrangigkeit der Existenz vor jeder Sinnzuweisung. Der Mensch "ist" qua seines Menschseins weder göttlich, noch vernünftig oder rational usw., er ist einfach nur. Jede Sinnzuweisung enthält einen Theorieaspekt, der in der schieren Existenz nicht zu finden ist. Die Betonung dieses Umstands hat dem Existentialismus zwar den Ruf des Nihilismus eingebracht, aber diese beiden philosophischen Strömungen behaupten mitnichten dasselbe.

Das heißt, der "Lapsus" Sartres erklärt sich ganz einfach aus einem Missverständnis hinsichtlich des Anliegens des Existentialismus. Dieser verneint nicht grundsätzlich alle Werte, er verneint lediglich a-priori-Werte, verneint alle diejenigen Werte, die nicht der individuellen Existenz abgerungen werden, die nicht im realen Leben mit "Mühe und Arbeit" verwirklicht wurden, sondern die angeblich unabhängig von der realen Existenz und dem realen Erweis des Einzelnen qua allgemeiner oder auch individueller Zuweisung und Proklamation gegeben sein sollen. Ein Wert wäre also beispielsweise nicht die proklamierte Liebensfähigkeit von Menschen, ein Wert wäre aber sehr wohl die erwiesene Liebe im Leben zweier einander zugewandter Menschen, die aufgrund dieser Liebe taten, was sie ohne diese Liebe nicht getan hätten.


Beim Dalai Lama heißt das Problem "Tibet". Der tibetische Buddhismus ist in Wirklichkeit ein Ekklektizismus aus Buddhismus und Bön, der ursprünglichen, schamanistischen Volksreligion Tibets. Dabei ist der im Sinne des originären Buddhismus kritische Teil der zitierten Passage nicht erst das "weil", es sind schon die ersten drei Worte, die ein "klassischer" Buddhist niemals mit diesem "laisser faire"-Duktus, ohne jedes erkenntliche Problembewußtsein so verwenden würde.

janw
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Do 19. Apr 2007, 02:57 - Beitrag #4

Gut, dann muss ich noch etwas an meinem Verständnis des Existenzialismus arbeiten, die Abgrenzung zum Nihilismus ist mir noch etwas unscharf.
Verstehe ich es also richtig, daß mensch genauso gut "sein Sein, sein Leben suchen kann, indem mensch irgendetwas tut" - ist der Erweis des Proklamierten das Relevante?
Denn in der Originalfassung läuft es ja zumindest scheinbar auf eine ziemlich altruistische Position hinaus - und das wäre denn doch hinterfragbar, oder nicht?

"Alles was ist..." - ist das deshalb so ein No-No für einen echten Buddhisten, weil es impliziert, daß es auch das Nicht-Seiende gibt?

Ipsissimus
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Do 19. Apr 2007, 09:27 - Beitrag #5

lies mal "Der Ekel", janw, dann wird es klarer. Deses Buch, eine Art Romanfassung von "Das Sein und das Nichts", dem grundlegenden Buch des Existentialismus, endet nach 400 Seiten nicht in Verzweiflung, obwohl man das 396 Seiten lang hätte schwören können. Am Ende wird der Protagonist - der im Laufe des Buches jeden und jeden Wert abstreifen mußte wegen des Gefühls von Ekel, das sich zuverlässig bei ihm einstellte, sobald er mit einer Wertvorstellung konfrontiert wurde - von etwas ergriffen, an das der Ekel nicht heranreichte. In diesem Fall war es die Musik einer bestimten Jazz-Sängerin, aber das ist nur ein Beispiel. Er hat etwas gefunden, das ihm wesentlich war, etwas das trotz des generellen Daseins-Ekels standhielt.

Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.

Maurice
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Do 19. Apr 2007, 18:45 - Beitrag #6

Ratschlag von mir: Jan, verbann den Ausdruck "Nihilismus" am besten in deine neuronale Mottenkiste - es handelt sich nämlich um einen der schwammigsten (wenn nicht vielleicht den schwammigsten) und unterbestimmtesten Begriffe in der Philosophie. Statt jemanden als "Nihilisten" zu bezeichnen zu versuchen, sollte man imo besser von Amoralist, Skeptiker, usw. sprechen, denn je nach Autor meint "Nihilismus" ein anderes Potpourri an Beschreibungen. ;)

janw
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Mi 25. Apr 2007, 22:08 - Beitrag #7

Gut, dann hab ich ja wieder eine Schwarte vor mir^^

Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.

Das heißt, die Gesamtheit aller Menschen ist die voraussetzungsloseste Entität des Menschseins, roh formuliert?
Scheint sinnvoll, wenn man sie als grundlegende Sammlung aller Seinsmerkmale der Individuen ansieht...

Ipsissimus
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Do 26. Apr 2007, 12:12 - Beitrag #8

es heißt soviel wie,

wenn ich ein eiskaltes, gefühlloses Arschloch bin, ist es gleichgültig, daß Menschen grundsätzlich die Fähigkeit zu lieben haben
wenn ich in debilem Kretinismus gefangen bin, ist es gleichgültig, daß Menschen grundsätzlich intelligente Wesen sind
wenn ich meine Tage im stumpfsinnigen Wiederholen stumpfsinniger Tätigkeiten verbringe, ist es gleichgültig, daß Menschen kreative Wesen sind

meine Existenz ist leer, ich bin ein ungeschriebenes Blatt. Alles, was vom Potential dieses ungeschriebenen Blattes gesagt werden kann, reicht nicht an die sich hic et nunc erweisende Realität des leeren Blattes heran.

Est allmählich wird das Blatt beschrieben, treten also Eigenschaften hinzu. Und es treten wiederum nicht die qua kultureller Zielsetzung erwünschten Eigenschaften hinzu, sondern die, die tatsächlich hinzukommen, auch wenn diese aufgrund kultureller Einflüsse hinzukommen können. Aber da gilt eben das oben gesagte: kulturell verlangte Liebesfähigkeit ersetzt nicht reale Gefühlskälte.

Deswegen - die Existenz, das reale Sosein, der konkrete Erweis, ist das Primäre. Dieser Erweis zeigt die Essenz eines Menschen, und nur dieser Erweis zeigt sie, nicht etwa irgentwelche Proklamationen, Wertzuschreibungen usw.


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