In dieser Gesellschaft brodelt es

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Ipsissimus
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Sa 14. Aug 2010, 22:11 - Beitrag #1

In dieser Gesellschaft brodelt es

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,710880,00.html

ein Interview des Spiegel mit dem emeritierten Philosophie-Professor Oskar Negt über die Risse in der Sozialordnung, die Notwendigkeit politischer Bildung und die Spannung zwischen Wirklichkeit und Utopie

SPIEGEL: Professor Negt, in Ihrem neuen Buch über den politischen Menschen und die Demokratie als Lebensform unterziehen Sie die gegenwärtige Verfassung unserer Gesellschaftsordnung einer radikalen Kritik. Es gebe geschichtliche Situationen, so schreiben Sie, in denen nur noch die Utopien realistisch seien. Wieso glauben Sie, dass wir in einer solchen Zeit leben?

Negt: Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer Zwischenwelt der Ratlosigkeit. Die Probleme unserer Arbeitsgesellschaft spitzen sich derart krisenhaft zu, dass der innere Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr gesichert scheint. In dieser brisanten Lage zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht müsste die gesellschaftliche Phantasie eigentlich alle Kräfte darauf konzentrieren, Auswege zu suchen und zu finden. Stattdessen bildet sich eine zwiespältige Wirklichkeit, eine Aufteilung von Wirklichkeitsschichten.


vier luzide Seiten

Lykurg
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Sa 14. Aug 2010, 23:42 - Beitrag #2

Interessant mal wieder... Von den vier Seiten fand ich die erste weltfremd und unlesbar, die zweite und dritte brauchbar bis sehr gut und die letzte wieder recht gemischt. Warum seine Äußerungen sich gerade auf die Gegenwart beziehen sollen und nicht auf etwa einen Zeitraum vor 30 oder 200 Jahren, und warum gerade auf Deutschland und nicht auf Belgien oder Spanien, ist mir nicht ersichtlich. Dagegen sind seine Überlegungen etwa zu Aufgaben der Politik und Politikverdrossenheit zutreffend, wenn auch er natürlich keine neuen Lösungsansätze zu bieten hat.

blobbfish
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So 15. Aug 2010, 18:03 - Beitrag #3

Faszinierend Lykurg, wo ich Seite 1 schrecklich finde, bieten Seiten 2 und 3 tatsächlich was, Seite 4 ist da wieder nix. Seine Argumentationen auf Seiten 2 und 3 finde ich faszinierend, ad hoc widersprüchlich, aber immerhin mit Besinnung auf das ideale Wesen der Demokratie: Das Volk als Souverän hat die Macht - und die soll im Moment darin bestehen die abdriftende Politik einzufangen indem das Volk sich mehr um Demokratie bemüht. Analog zur Frage, ob der Mensch für die Arbeit oder umgekehrt da ist stelle ich die Frage, ob der Mensch für die Demokratie da ist. Überspitzt behaupte ich: Die Herren Politiker oben haben Narrenfreiheit und kümmern müssen sich die unten. Üblicherweise steht da statt Politiker aber Lobbyisten. Merkwürdig.

Bei derart viel Idealismus wie ich bei dem Herren finde wundere ich mich, dass er sich überhaupt auf eine Demokratie einschränkt. Anstatt das richtige und gute Handeln in Bezug auf Politik von jedem einzelnen Bürger zu verlangen wäre es wesentlich sinnvoller das von Regierenden einzufordern. Damit wäre ja, wie er es auch mehr oder weniger explizit fordert, Last von denen genommen, die dzt. praktisch weniger zu sagen haben.

Maglor
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So 15. Aug 2010, 18:13 - Beitrag #4

Ich fand ja Seite 1 am besten. ;)
Besonders den hier:
Das sind ja keine richtigen Reformen, sondern bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung...

Das bedauerliche ist, dass im Verlauf des Textes doch noch jede Hoffnung zerstört wird, vor allem durch den armen Platon.

Was bleibt ist der Traum von einem neuen Menschen, der letzten Endes doch unerfüllt bleibt.

Was das brodeln angeht so, sehe ich nichts brodeln. Der Bürger selbst ist zu bequem, hat alte Zöpfe liebgewonnen und fürchtet die Veränderungen.
Der Wunsch Staat und Gesellschaft von Grund auf auf zu verändern, ist in Deutschland zurzeit zu klein wie nie, es sei denn es geht gegen Ausländer.
Es bedürfte wohl des Hungers, des Krieges und überhaupt des Todes, um an dieser Einstellung etwas zu ändern.

Ipsissimus
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Mo 16. Aug 2010, 10:51 - Beitrag #5

wenn du was brodeln sehen willst, Maglor, dann geh mal durch Prekariatsviertel und lass dich von der Atmosphäre ergreifen^^

Lykurg, blobbfish, auch ich sehe nicht, dass die Haie zu bändigen wären^^ das rechtfertigt sie noch lange nicht - und ja, sie brauchen keine Rechtfertigung, weil sie die Macht halten. Trotzdem erachte ich klares Sehen als wertvoll für die Selbstverteidigung.

blobbfish
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Mo 16. Aug 2010, 11:27 - Beitrag #6

Brodeln tut es sicher immer irgendwo, die Frage ist, wie intensiv und großflächig.

Von Haien und Rechtfertigungen habe ich nichts geschrieben, ich habe nur Kritik an der Demokratie geübt, wie sie der Herr wohl wünscht, und die aktuelle Misstände beheben soll, nur ist es das gleiche wie im wirtschaftlichen Bereich, nur sind wir dort unzufrieden. Wie du den Mensch als Geißel des Kapitalismus siehst, sehe ich ihn als Geißel in der Demokratie. Ersteres ist eine Sünde, zweiteres ein Segen.

Ipsissimus
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Mo 16. Aug 2010, 12:37 - Beitrag #7

nun, ich würde den Menschen aka die Menscheit zwar als Geisel des Kapitalismus auffassen, andererseits aber den Kapitalismus als Geißel des Menschen aka der Menschheit, nicht umgekehrt^^ ob wiederum Menschheit und Demokratie einander wechselseitig geißeln oder in Geiselhaft nehmen, wage ich nicht zu entscheiden^^ ich stimme allerdings soweit mit dir überein, als ich Kapitalismus als Sündenfall auffasse. Demokratie halte ich in ihren praktischen Umsetzungen dann wieder für reine Augenwischerei^^ ein Segen wäre es bestenfalls, wenn ihre utopischen Idealformen dereinst in die Immanenz übergingen, obwohl das die Haie wiederum anders sehen würden, aber das liegt wohl in der Natur der Sache^^ alles, was nicht der Fressgier entgegenkommt und diese unterstützt, ist den Haien selbstredend undemokratisch, zumindest solange sie sich demokratisch geben müssen^^

blobbfish
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Mo 16. Aug 2010, 12:52 - Beitrag #8

Äh, ja, Tatsache, das richtige habe ich gemeint, das hast du erkannt, aber leider in der Satzstellung verdreht, obacht.

Praktische Umsetzungen interessieren mich wenig, ohnehin habe ich im Bereich des Idealistischen gearbeitet, allerdings finde ich von denkbaren Formen des Miteinanders die Demokratie durchaus noch erträglich wenn es in die Praxis geht. Ob sich dann die Begriffe von den beiden Demokratien nahe stehen ist wiederum eine andere Sache.

Lykurg
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Mo 16. Aug 2010, 13:02 - Beitrag #9

Die Auffassung vom Kapitalismus als Sündenfall kann ich sogar teilen: Wenn wir die Sache einmal ernsthaft betrachten, geschah er aus dem Bedürfnis des Menschen nach Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit. In diesem Sinne ist er Voraussetzung für ethisches Verhalten, führte allerdings zum Hinauswurf aus jenem Wunschort, in dem der Mensch den Dingen nur Namen geben und sich um nichts kümmern mußte, insbesondere nicht um Fragen der Ernährung oder Bekleidung. Ob dieses paradiesische Dasein ihn allerdings (abgesehen von Fragen der Namensvergabe) vom Tier unterschieden hätte, ist nicht gesichert. Und seine Ordnung (einschließlich des friedlichen Beisammenseins der Löwen und der Schafe) beruhte auf dem Willen des Einen, Allwissenden und Allgewaltigen. Bild

Ipsissimus
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Mo 16. Aug 2010, 14:17 - Beitrag #10

doch ist Sündenfall nicht gleich Sündenfall :-) (auch wenn ich zugebe, dass die Falle gut aufgestellt war, die Erwiderung also schwach ist^^) am Streben nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ist erst mal nichts Sündiges, es sei denn aus Sicht der Herren^^ Kapitalismus hingegen ist bei sich selbst angekommene Gier, und hier ist das Wort von der Sünde womöglich sogar zu schwach für diesen Ausbund an Verwerflichkeit^^ natürlich nur aus Sicht derer, die nichts haben und bei den Verteilungskämpfen leer ausgehen

mal ne andere Frage, nur lose damit verbunden: warum eigentlich ist "Leistung" das angebliche "ah" und "oh" gesellschaftlicher Reputations-Kriterien?

blobbfish
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Mo 16. Aug 2010, 15:54 - Beitrag #11

Am Streben vielleicht nicht, aber am vorgesetzten Zwingen. Genau das hat aber doch die Demokratie, wenn ich mich als Kontrollorgan der von mir gewählten Vertreter verstehen soll.

Maglor
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Mo 16. Aug 2010, 19:32 - Beitrag #12

Zitat von Ipsissimus:wenn du was brodeln sehen willst, Maglor, dann geh mal durch Prekariatsviertel und lass dich von der Atmosphäre ergreifen^^

Wieso, Prekariat ist genau das Milieu, das mich hervorgebracht hat. :rolleyes:

Ich höre, da gar nichts brodeln oder kochen.
Die einen klagen über zu wenig Arbeit, die anderen über zu viel.
Revolutionäre Gelüste? Fehlanzeige.

janw
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Sa 18. Dez 2010, 22:33 - Beitrag #13

Zitat von Lykurg:Die Auffassung vom Kapitalismus als Sündenfall kann ich sogar teilen: Wenn wir die Sache einmal ernsthaft betrachten, geschah er aus dem Bedürfnis des Menschen nach Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit. In diesem Sinne ist er Voraussetzung für ethisches Verhalten, führte allerdings zum Hinauswurf aus jenem Wunschort, in dem der Mensch den Dingen nur Namen geben und sich um nichts kümmern mußte, insbesondere nicht um Fragen der Ernährung oder Bekleidung. Ob dieses paradiesische Dasein ihn allerdings (abgesehen von Fragen der Namensvergabe) vom Tier unterschieden hätte, ist nicht gesichert. Und seine Ordnung (einschließlich des friedlichen Beisammenseins der Löwen und der Schafe) beruhte auf dem Willen des Einen, Allwissenden und Allgewaltigen. Bild

Lykurg, danke, daß Du nicht das Wort "alternativlos" gebraucht hast ;) :)

Das Problem an dieser Sicht ist, daß es weltweit massenhaft Wirtschaftssysteme gibt, in denen produziert und konsumiert und vermarktet wird, die schon lange existieren und nicht von Herrschers Gnaden am funktionieren gehalten werden - und die sich durch den in ihren Bereich hinein drängenden Kapitalismus mehr bedroht als gewissermaßen bestätigt sehen. Sieh Dir mal Nordafrika an und den Nahen Osten in seinen traditionellen, nicht vom Ölboom überformten Bereichen.
Der Unterschied ist in meinen Augen, daß dort Menschen miteinander arbeiten und verhandeln, unter den Prämissen, daß sie Menschen sind, daß sie beide einen Vorteil in der Zusammenarbeit oder dem Handel suchen und daß ihre Arbeit oder ihr Produkt einen Wert hat, der seinen Preis hat.
Der Kapitalismus macht aus den Menschen Produzenten und Konsumenten, Anbieter und Kunden/Käufer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer und trennt dadurch Arbeit und Produkt/Ware vom Menschen. Dadurch wird das Produkt/Ware entwertet und somit der unbeschränkten Wirkung von Marktkräften zugänglich, da wo der Mensch selbst als Arbeitender in Erscheinung tritt, wird er selbst zur Ware.
In Form von Tagelöhnern gibt es letzteres natürlich auch in diesen Ländern, und schon seit langem, der Kapitalismus fördert dies jedoch in meinen Augen, indem er den freien Markt wertmäßig höher hängt als den Belang, an diesem menschlichen Problem etwas zu ändern.

Lykurg
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So 19. Dez 2010, 00:56 - Beitrag #14

Die gemeinten öllos blühenden Oasen des Nahen Ostens - Syrien, Jordanien, Libanon, Jemen? Mag sein, daß da betont nichtwestliche Umgangsformen im Schwange gehen, allerdings auch deutlich im Überschwange, was Bevölkerungswachstum, Kindersterblichkeit und Krankenversorgung, Alphabetisierungsgrad uvm. betrifft, zugleich das nach innen und außen gerichtete Gewaltpotential einiger dieser Länder. Von den genannten Vieren läuft in Syrien und Jordanien ohne Herrschers Gnaden so ziemlich nichts, Libanon und Jemen sind da sehr viel freier, aber ein bißchen bzw. fast völlig anarchisch. Ich habe keine Datengrundlage, aber ich kann mir schlecht vorstellen, daß die Machtlosen im Jemen mit dem Zustand ihres Landes und ihrer persönlichen Situation besonders glücklich sind. Trotzdem hast du sicher recht, daß auch und gerade in solchen Ländern (im traditionell aufgeklärten Libanon sollte das allerdings anders sein) besonders große Skepsis gegenüber kapitalistischem Wirtschaften besteht. Einseitige Preisbestimmung nach dort üblicher Methode (gib oder stirb) führt allerdings ebenfalls zur Trennung der Ware vom Menschen und entwertet ebenfalls das Produkt, denn wenn Besitz zur Gefahr wird und ohnehin nur transitorisch ist, fallen die Preise, und der Arbeiter hat keine Chance auf einen gerechten Lohn.

Ich sehe nicht, inwieweit deine Beschreibung unvereinbar mit 'dem Kapitalismus' sein soll, es sei denn, man definierte ihn so; dann allerdings läge das Problem eher in der Definition als in der Sachlage.

janw
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So 19. Dez 2010, 01:44 - Beitrag #15

Mir schwebte weniger die gewaltgetönte Situation in den failed-states-Systemen vor Augen, sondern das Wirtschaftssystem der Souks, war vielleicht nicht ganz deutlich genug.
Es kann durchaus sein, daß ich diesbezüglich eine etwas zu romantische Sicht habe.
Allerdings wäre es auch denkbar, daß der Kapitalismus in der heutigen neoliberalen Ausformung ein Mißverständnis? eine Fehlentwicklung? der ursprünglichen Konzepte ist.
Wie weit die sozialen Errungenschaften Folge des Kapitalismus oder nur mit diesem korreliert sind, wäre auch eine Frage. Dann wäre aber auch der Betrachtungsraum zu definieren - zählen die Opfer unserer Bergbau- und Agroindustrie-Aktivitäten in Afrika und Teilen Asiens und Amerikas mit?

Im Grunde wollte ich nur darauf hinaus, daß Menschen nachgewiesenermaßen seit etwa 5000 Jahren Wirtschaft treiben in Zivilisationen, deren Relikte uns heute noch beeindrucken. Der Kapitalismus kommt auf etwa 150 Jahre und hat bis heute etwa 10% der Menschen einen vergleichsweise überbordenden Reichtum gebracht, der mit Verlusten an Lebensqualität bei, sagen wir, 50% der Weltbevölkerung einhergeht.
Von daher ist es für mich etwas schwierig, im Kapitalismus ein Erfolgsmodell zu erkennen. Oder sollte es andersrum so sein, daß die Menschen seit 5000 Jahren Kapitalismus treiben, aber erst vor 150 Jahren einige davon diesen Namen dafür gefunden haben? ;)

janw
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So 19. Dez 2010, 18:20 - Beitrag #16

Negts Äußerungen sind für mich durchgehend sehr nachvollziehbar, wenn er auch in meinen Augen einen wichtigen Punkt verfehlt, gewissermaßen der blinde Fleck der meisten linken Theoretiker heute.
Vielleicht liegt dem auch ein grundlegender Fehler - oder ein Mißverständnis? - in der linken Theorie überhaupt zugrunde.

Das in der Linken in meinen Augen unzureichend gesehen, zumindest unzureichend adressierte Problem ist, daß das Grundparadigma, wonach menschliches Wohlergehen an die Bedingungen der Arbeit als Erwerbsquelle gekoppelt sei, in Zeiten verbreiteter Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit um den Faktor Arbeitszustand erweitert werden muss, also darum, überhaupt Arbeit zu haben und dies in einem Umfang und mit einer Perspektive, die eine auf sicherem und zureichendem Arbeitseinkommen beruhende Lebensplanung ermöglicht.

Die Gewerkschaften stehen vor der Aufgabe, Sachwalter nicht nur der Arbeitenden zu sein, sondern aller, die auf abhängige Erwerbsarbeit angewiesen sind, und diesen Sprung haben sie IMHO bisher versäumt.
Die zunehmende Verlagerung der Arbeitswelt von körperlichen zu geistigen Tätigkeiten und von der Güterproduktion zu Entwicklung, Vermarktung und Verwaltung und damit der Wandel von der Arbeiter- zur Angestelltengesellschaft, verbunden mit sinkendem Gruppenzugehörigkeitsgefühl, verstärken das Problem, erst recht der mittlerweile etablierte Bereich frei fluktuierender Zeitarbeitskräfte und Geringfügig Beschäftigter, die von keiner Arbeitsorganisation erfasst werden.

Hier müssten die Gewerkschaften in meinen Augen ansetzen, im Verbund mit Tafeln usw. Räume schaffen, in denen die unfreiwillig freie Zeit für Kommunikation, Bildung, Entwicklung alternativer Zielvorstellungen genutzt werden kann.
Und sie müssten den Diskurs in Gang setzen, wie dem Verlust an individueller Gestaltungsfreiheit begegnet werden kann, der aus dem Verlust verlässlicher Arbeitseinkünfte als bisherige Grundlage dieser Freiheit resultiert, wie auch der Erosion der Sozialpartnerschaft der Unternehmen infolge der systematischen Verlagerung von menschlocher Arbeit auf Maschinen.

Dies rührt in der Tiefe an einem sehr grundlegenden Problem, nämlich der Koppelung gesellschaftlichen Wohlergehens an materiellen Wohlstand - manifestiert in der Verwendung des Begriffs des Sozialen für die materiellen Belange.
Eine Gesellschaft, die ihr Wohl und das der sie bildenden Menschen und ihre Gestaltungsfreiheit an materielles Wohlergehen bindet, läuft Gefahr, das Gemeinwohl und die Gestaltungsfreiheit des Einzelnen zur Verfügungsmasse von Kapitalinteressen zu machen.

Mittlerweile wird bereits systematisch gegen Staaten gewettet...

Maglor
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So 19. Dez 2010, 20:00 - Beitrag #17

janw's Vergleich mit den Gesellschaften Nordafrikas und der Nahen Ostens ist schon sehr niedlich. Dass der Kapitalismus den Mensch zu einer Ware macht, ist in diesem Kontext eine vortreffliche Lüge, beachtet man, dass in Mauretanien ca. 20 % der Bevölkerung im Zustande de Sklaverei. Sicher haben diese Gesellschaften auch ihre Vorteile. Es gibt keine Überstunden, keine Kündigungen, da es ja keine Arbeitsverträge gibt. Gebunden sind sie durch familiäre oder sklavische Unterordnung unter den Patriarchen, der schließlich entscheidet, wer demnächst wen heiraten wird. Sicher, dies ermöglicht dem Großteil der Bevölkerung ein sorgloses, unmündiges.
Ein interessanter Aspekt sind noch die Arbeitslosenstatisken. Arbeitslosenquote im zweistelligen Bereich sind keine Seltenheit. Es ist geradezu normal, dass sich ein Großteil der Bevölkerung mit dem Hüten der Ziegen oder dem Sammeln von Altglas ernähren muss.

Folgt man der Def. des Kapitalismus durch Marx, so handelt es sich um eine Gesellschaftsform, in der persönliche Freiheit vorhanden, die Produktionsmittel jedoch in den Händen weniger liegen. Jene Länder, die den Wohlstand Europas und Nordamerikas mit ihren Bodenschätzen und ihrem Blut erwirtschaften, z. B. China, Kongo, Saudi-Arabien ... Es handelt sich durchweg eben nicht um kapitalistische Gesellschaften. Dort sollte es brodeln, nicht hier, wo die Früchte der Welt geerntet werden.

janw
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So 19. Dez 2010, 20:21 - Beitrag #18

Maglor, ich hatte es ja eingeschränkt auf die Wirtschaftssysteme der Souks. Natürlich gibt es in diesem Ländern erhebliche Probleme, teils durch die Landesnatur und gesellschaftliche Gegebenheiten bedingt, teils auch als Folge äußerer Intervention und politischer Fehlleistungen auf verschiedenen Ebenen.

Dort brodelt es auch teilweise schon, kürzlich hörte ich eine Reportage aus Sambia, in der ein Minister massiv beklagte, daß die westlichen Bergbaukonzerne ihre Umweltstandards immer zu Hause lassen würden, wenn sie in den ärmeren Ländern Rohstoffe abbauen.

Ipsissimus
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Mo 20. Dez 2010, 12:27 - Beitrag #19

ja, aber das ist doch eine ganz alte Geschichte, auch wenn man es heute nicht mehr "Kolonialismus" nennt, und auch "Wirtschaftsimperialismus" zu peinlich berührt, da zu nahe an der Wahrheit liegend, um die Vergewaltigung, die in diesen Ländern Permanenz erlangt hat, angemessen - auf dass es unsereins im Konsum nicht stört - zu verschleiern. Dass es dort in irgendeiner relevanten Weise nicht brodelt, ist nichts als eine mediale Kaschierung unserer Medien zum Zwecke unseres guten Gewissens. Die Leute dort wissen, dass sie und ihre Schätze verramscht werden. Das permanente Einatmen von Uranstaub wie in den Areva-Deponien im Nordniger hilft dem Bewusstsein ganz schön auf die Sprünge, selbst wenn die Armut den Staub trotzdem reintreibt.

ich denke nach wie vor, dass "Kapitalismus" nur ein Wort ist. Das tatsächliche Problem dahinter lautet "Gier", verschärft durch Macht-Kumulation, in Folge davon Machtmissbrauch. "Liberalismus", egal ob neo oder vanilla, nicht etwa als die Freiheit von Menschen, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen leben und ihr eigener Selbstzweck bleiben zu dürfen, sondern ausschließlich als die Freiheit von Kaufleuten, Handel zu ihren eigenen Wünschen und Kondition treiben zu können, völlig gleichgültig, in welchem Umfang dadurch lokale Märkte und Kulturen zerstört werden.

Maglor
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Mo 20. Dez 2010, 21:47 - Beitrag #20

Die deutsche Gesellschaft ist alt. Sie klammert an der Vergangenheit, hat Angst von der Vergangenheit und sehnt sich zurück in die 90er oder 80er.
Ein Brodeln sehe ich nur insofern, als dass die alten ihre Pfründe sichern, ihre althergebrachten Privilegien schützen wollen.
Sie wollen keine grundsätzliche Reformen. Sie wollen nur Flickwerk. Der Erhalt der eigenen Möglichkeiten genügt. Wenn sie selbst noch 20 oder 30 Jahre Rente beziehen können, ist es schon genug. Wer das bezahlen, ist doch völlig.
Reformen sind unpopulär. Die Mehrheits ist rückwärtsgewandt und denkt nur an die eigenen Ansprüche. Ihre Visionen sind von Gestern. Die Parolen der Gegenwart fordern die Rückkehr der Vergangenheit, nicht mehr und nicht weniger.

Dass ist der Unterschied, etwa zu den Regimen Asiens und Nordafrikas. Diese Gesellschaften sind jung. Die Jugend ist gebildet, weltoffen und unzufrieden. Sie wollen Veränderung, Fortschritt, Gestaltungsmöglichkeiten, Zukunft.
Ägypten, der Iran, Saudi-Arabien, China ... auf Dauer wird sich die Diktatur der Greise nicht halten können. Die Traditionen und Konventionen werden brechen, wenn nicht heute dann in 10 oder 20 Jahren.

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