Schuld

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Padreic
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Mi 14. Apr 2004, 13:53 - Beitrag #1

Schuld

Da es im Menschenlebenwerts-Thread doch etwas Off-Topic wurde, wollte ich jetzt einmal, durch Traitors Postings angeregt, einen neuen Thread zum Thema 'Schuld' eröffnen. Zuerst die fraglichen Postingauszüge:
Original von Traitor:
Mein System dabei ist: Eine Tötung ist immer falsch, belädt einen immer mit Schuld. Aber es gibt Situationen, in denen die Schuld der Nichttötung schrecklicher wäre als die Schuld der Tötung, oder die Umstände es nicht vermeidbar machen, dann ist diese Schuld tragbar und die Tat akzeptabel.

Original von Padreic:
Es ist die Frage, inwieweit man sich mit Schuld beladen kann, wenn jede denkbare Alternative mehr Schuld bedeutet hätte. Muss man nicht für Schuld die legitime und damit schuldlose Alternative gehabt haben?

Original von Traitor:
Ich bin mit mir übereingekommen, "Schuld" als etwas absolutes zu sehen, sozusagen die Währung für alle Taten. Wenn man Verantwortung übernimmt, lädt man quasi unvermeidbar auch Schuld auf sich - das gehört zum Los des Menschen. Aber man kann sich auszeichnen, indem man stets versucht, weniger schuldhafte Alternativen zu wählen, und indem man mit der Schuld, die man auf sich geladen hat, umzugehen lernt.
Warum ich die Schuld als absolut setze: wäre sie relativ, also nicht vorhanden, wenn man das kleinere von zwei Übeln wählt, bräuchte man ein übergeordnetes Maß der Schlechtheit von Alternativen, aus dessen Differenzen man dann die Schuld berechnet. Was kann dieses Maß dem Modell aber neues hinzufügen? Also wirkt das Rasiermesserprinzip, und ich setze lieber die Schuld selbst als das Maß und die Auswirkung. Zumal es den positiven Nebeneffekt hat, den Zwang zur Verantwortungsübernahme zu verdeutlichen.

Original von Elbereth
Aber man kann sich auszeichnen, indem man stets versucht, weniger schuldhafte Alternativen zu wählen


Wenn man Schuld als etwas absolutes ansieht, wie kann man dann "mehr schuld" bzw. "weniger schuld" festlegen? Denn die Kriterien für solche Bewertungen sind nicht absolut, sondern relativ und von der subjektiven Sicht abhängig. Kann man denn allgemein sagen, dass man mit dem Tod eines menschens weniger Schuld auf sich lädt als mit dem Tod eines anderen? Ich glaube nicht


Meinem Konzept nach kann man Schuld und damit Schuldigkeit niemals losgelöst vom Subjekt sehen. Nicht Handlungen an sich kann man Schuld zuschreiben, sondern immer nur der konkreten Tat bzw. genauer noch dem konkreten Dasein einer Person.
Bildhaft gesprochen kann man sagen, dass vor uns eine weite Lanschaft mit einem Wirrwar von Wegen liegt, einige wenige, schmale führen nach oben, während da viele, breite sind, die nach unten führen. Unsere Taten bestimmen, welchen Weg wir an den Weggabeln nehmen. Die Schuldigkeit unseres Daseins hängt von dem Weg ab, den wir gewählt haben, nur wenn wir den am steilsten nach oben führenden Weg wählen, sind wir wirklich ohne Schuld, doch wirklich den zu begehen schafft kein Mensch, deswegen ist jeder schuldig, aber nicht jeder in gleichem Maße, denn so mehr unser Weg nach unten führt und desto bewusster wir nach unten gehen, desto schuldiger sind wir.
Man könnte so sagen, dass Schuldigkeit die willentliche Abweichung vom Ideal ist.

Padreic

Traitor
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Mi 14. Apr 2004, 14:18 - Beitrag #2

Meinem Konzept nach kann man Schuld und damit Schuldigkeit niemals losgelöst vom Subjekt sehen. Nicht Handlungen an sich kann man Schuld zuschreiben, sondern immer nur der konkreten Tat bzw. genauer noch dem konkreten Dasein einer Person.
Dem widerspricht meine Definition auch nicht (bzw sollte sie nicht, möglich, dass das nicht ganz klar ausgedrückt war). Die Schuld entsteht erst dadurch, dass ein Subjekt eine konkrete Tat begeht - sie ist "absolut" in dem Sinne, dass sie nicht durch Alternativen gemildert werden kann, nur ihre Tragbarkeit; nicht "absolut" in dem Sinne, dass sie vom SUbjekt unabhängig ist.
Hier sollte man auch noch kurz anmerken, dass es sozusagen eine "subjektive Schuld" - das, worüber wir hier reden - und eine "gesellschaftliche" oder "juristische Schuld" gibt. Letztere ist vermutlich eher das, worauf der Menschenwert-Thread eigentlich hinauslaufen sollte.

Die Schuldigkeit unseres Daseins hängt von dem Weg ab, den wir gewählt haben, nur wenn wir den am steilsten nach oben führenden Weg wählen, sind wir wirklich ohne Schuld, doch wirklich den zu begehen schafft kein Mensch, deswegen ist jeder schuldig, aber nicht jeder in gleichem Maße, denn so mehr unser Weg nach unten führt und desto bewusster wir nach unten gehen, desto schuldiger sind wir.
Wobei dieser steilste Weg nicht nur nicht gangbar ist, sondern oft auch gar nicht existiert. Dass jeder schuldig ist, sehe ich auch so, aber nicht jeder ist zu verurteilen, denn wie man siene Schuld wählt und wie man sie trägt, kann einen über sie erheben.
Man könnte so sagen, dass Schuldigkeit die willentliche Abweichung vom Ideal ist.
Es muss nicht willentlich sein - eine Unterlassungsschuld ist auch eine Schuld. Gesellschaftlich ist sie meist eher zu akzeptieren, moralisch kann sie aber ebenso schlimm sein wie eine bewusst eingegangene Schuld, denn hier fehlt einem die Möglichkeit, bewusst die beste Alternative zu wählen und so mit seiner Schuld leben zu können.

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Mi 14. Apr 2004, 16:43 - Beitrag #3

Es muss nicht willentlich sein - eine Unterlassungsschuld ist auch eine Schuld. Gesellschaftlich ist sie meist eher zu akzeptieren, moralisch kann sie aber ebenso schlimm sein wie eine bewusst eingegangene Schuld, denn hier fehlt einem die Möglichkeit, bewusst die beste Alternative zu wählen und so mit seiner Schuld leben zu können.

Das Unterlassen einer Tat ist genauso eine Handlung wie das Ausführen dieser, willentlich ist beides in gleichem Maße.
Mit dem 'willentlich' wollte ich andeuten, dass die Schuld umso schwerer ausfällt, desto bewusster sie gewählt wird. Ein Extremfall für eine schlechte Tat, aber geringe Schuld ist beispielsweise Frodo auf dem Schicksalsberg, sein Wille wird übermannt, er handelt aus Schwäche so.

Wobei dieser steilste Weg nicht nur nicht gangbar ist, sondern oft auch gar nicht existiert. Dass jeder schuldig ist, sehe ich auch so, aber nicht jeder ist zu verurteilen, denn wie man siene Schuld wählt und wie man sie trägt, kann einen über sie erheben.

Man kann sich ihm nach meiner Konzeption zumindest beliebig nah annähern, eigentlich muss er nach christlicher Anschauung sogar existieren, da Jesus ihn gegangen ist.
Durch Menschen ist, denke ich, ohnehin nicht jeder zu verurteilen, da der Richter mit ähnlicher Schuld wie der zu verurteilende beladen ist.
Das einzig richtige Verhältnis zu seiner Schuld ist Reue und nur dann kann sie einem wirklich vergeben werden, erst dann kann man sich ihrer entledigen.

Hier sollte man auch noch kurz anmerken, dass es sozusagen eine "subjektive Schuld" - das, worüber wir hier reden - und eine "gesellschaftliche" oder "juristische Schuld" gibt. Letztere ist vermutlich eher das, worauf der Menschenwert-Thread eigentlich hinauslaufen sollte.

Ich denke, eigentlich kann man letztere beiden gar nicht im eigentlich Sinne Schuld nennen, denn beide Instanzen, weder Gesellschaft noch Jurisdiktion bzw. Staat, haben ein Recht, Schuld zu definieren. Sie können Sachen schmähen, Urteilssprüche ausstoßen und Strafen verhängen, aber das alles sind nur Äußerlichkeiten, ohne Folgen für eigentliches Recht und Unrecht.

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Traitor
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Sa 17. Apr 2004, 12:22 - Beitrag #4

Das Unterlassen einer Tat ist genauso eine Handlung wie das Ausführen dieser, willentlich ist beides in gleichem Maße.
Es gibt auch oft genug Unterlassungen, die nicht willentlich sind, weil man sich der Chance einer guten Tat gar nicht bewusst geworden ist. Man wäre aber fähig gewesen, diese zu erkennen, und damit gutes zu tun, und hat somit eine gewisse Schuld, dies nicht getan zu haben. Drittes-Reich-Mitläufer-Prozesse gehen teils in diese Richtung.
Mit dem 'willentlich' wollte ich andeuten, dass die Schuld umso schwerer ausfällt, desto bewusster sie gewählt wird. Ein Extremfall für eine schlechte Tat, aber geringe Schuld ist beispielsweise Frodo auf dem Schicksalsberg, sein Wille wird übermannt, er handelt aus Schwäche so.
Das ist so ein Beispiel, wo ich meine "absolute Schuld" ansetze. Ich sehe es hier nicht so, dass die Schuld selbst durch die geringere Willentlichkeit geringer ist - sie ist gleich schlimm, nur durch die Umstände stärker entschuldbar. Im Endeffekt läuft es natürlich auf das Gleiche hinaus, aber wir sind ja schließlich in einer Grundsatzdiskussion ;)
Man kann sich ihm nach meiner Konzeption zumindest beliebig nah annähern, eigentlich muss er nach christlicher Anschauung sogar existieren, da Jesus ihn gegangen ist.
Man kann versuchen, sich ihm so weit wie möglich anzunähern, ja. Nur gibt es leider all die Situationen, in denen alle sichtbaren Alternativen weit von ihm entfernt sind - die im anderen Thread von Maurice gebrachten Beispiele etwa.
Durch Menschen ist, denke ich, ohnehin nicht jeder zu verurteilen, da der Richter mit ähnlicher Schuld wie der zu verurteilende beladen ist.
Die Gesellschaft kann nicht verurteilen in dem Sinne, dass sie ein endgültiges und korrektes Urteil spricht, wie es ein Gott täte, wenn er existierte. Aber sie kann, da aus Menschen bestehend, nach deren Wertkriterien andere Menschen be-/verurteilen. Und dafür ist es nicht entscheidend, ob der Richter selbst schuldig ist, sondern nur, wie sauber er sich an diese Kriterien zu halten vermag.
Das einzig richtige Verhältnis zu seiner Schuld ist Reue und nur dann kann sie einem wirklich vergeben werden, erst dann kann man sich ihrer entledigen.
Reue darf jedoch nicht soweit gehen, dass man alles, was einem Schuld eingebracht hat, als Fehler sieht. Denn wie gesagt gibt es Momente, in denen man Schuld auf sich laden muss, um größeres Unheil zu vermeiden. Nach diesen Entscheidungen muss man das kleinere Unheil, das man gebracht hat, bedauern, darf aber nicht die Tat bereuen.
Ich denke, eigentlich kann man letztere beiden gar nicht im eigentlich Sinne Schuld nennen, denn beide Instanzen, weder Gesellschaft noch Jurisdiktion bzw. Staat, haben ein Recht, Schuld zu definieren. Sie können Sachen schmähen, Urteilssprüche ausstoßen und Strafen verhängen, aber das alles sind nur Äußerlichkeiten, ohne Folgen für eigentliches Recht und Unrecht.
Aber was ist "eigentliches Recht und Unrecht"? Ich kann mir nur drei Kategorien vorstellen - subjektives Recht, gesellschaftliches Recht und göttliches Recht. Lediglich letzteres könnte man als "eigentliches", von den Umständen unabhängiges ansehen. Und dass ich dessen Existenz nicht anerkenne, muss nicht erwähnt werden ;)
Es ist auch nicht nötig - ein System, in dem es nur die selbstreflektierte Eigenschuldzuweisung und die gesellschaftliche Schuldzuweisung gibt, reicht durchaus aus. Denn diese Begriffe bleiben stets relativ, ein übergeordnetes Beurteilungssystem ist gar nicht nötig, soweit man diese Relativität anerkennt.

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Sa 17. Apr 2004, 15:53 - Beitrag #5

Es gibt auch oft genug Unterlassungen, die nicht willentlich sind, weil man sich der Chance einer guten Tat gar nicht bewusst geworden ist. Man wäre aber fähig gewesen, diese zu erkennen, und damit gutes zu tun, und hat somit eine gewisse Schuld, dies nicht getan zu haben. Drittes-Reich-Mitläufer-Prozesse gehen teils in diese Richtung.

Dass sie nicht sahen, lag zu einem nicht unwesentlichen Anteil, denke ich daran, dass sie nicht wirklich sehen wollten. Ich glaube eigentlich nicht, dass es Leute gab, die nicht die geringste Ahnung davon hatten, was da vorging, auch wenn sie kein Wissen hatten. Sie hätten vieles erfahren können, aber sie wollten selbst nicht in Gefahr begeben und sich die Illusion erhalten. Das ist schon Schuld.

Man kann versuchen, sich ihm so weit wie möglich anzunähern, ja. Nur gibt es leider all die Situationen, in denen alle sichtbaren Alternativen weit von ihm entfernt sind - die im anderen Thread von Maurice gebrachten Beispiele etwa.

Aus utilitaristischer und verwandter Sicht vielleicht, aus anderer nicht zwangsläufig. Wenn drei Leute in einem Bunker sind und nur zwei überleben können, dann muss ich mich opfern. Lade ich damit Schuld auf mich? Und vielleicht opfern sich dann alle drei, aber wäre das denn wirklich schlimm? Einen besseren Todeszeitpunkt als einen Moment der Gottergebenheit oder jedenfalls Klarheit und ethischer Reinheit kann man sich doch gar nicht vorstellen, oder?
Schwieriger wird's natürlich beim Koma-Patienten, da ich direkter über das Schicksal eines anderen Menschen und nicht nur über mich entscheiden muss. Wenn jemand ihn liebt und für sein Überleben bezahlt, dann ist das sicher OK. Pauschal lässt sich aber kaum eine Lösung finden...aber solange man aus echter Liebe handelt, wird man, denke ich, keine oder zumindest wenig Schuld auf sich laden.
Das aufrichtige und vollkommene Bemühen, sich auf dem richtigen Pfad zu bewegen, ist ethisch gesehen schon der richtige Pfad.

Die Gesellschaft kann nicht verurteilen in dem Sinne, dass sie ein endgültiges und korrektes Urteil spricht, wie es ein Gott täte, wenn er existierte. Aber sie kann, da aus Menschen bestehend, nach deren Wertkriterien andere Menschen be-/verurteilen. Und dafür ist es nicht entscheidend, ob der Richter selbst schuldig ist, sondern nur, wie sauber er sich an diese Kriterien zu halten vermag.

Aber haben denn diese Urteile irgendeinen Anspruch auf tiefere Wahrheit? Was bedeuten sie für mich, außer dass ich vielleicht in Ketten gelegt werde? Ich halte Demokratie (und die gesellschaftlichen Werte werden ja quasi-demokratisch bestimmt) für keine Methode der Wahrheitsfindung.

Reue darf jedoch nicht soweit gehen, dass man alles, was einem Schuld eingebracht hat, als Fehler sieht. Denn wie gesagt gibt es Momente, in denen man Schuld auf sich laden muss, um größeres Unheil zu vermeiden. Nach diesen Entscheidungen muss man das kleinere Unheil, das man gebracht hat, bedauern, darf aber nicht die Tat bereuen.

Reue ist meiner Meinung nach immer dann angebracht, wenn man hätte besser handeln können und das ist bei einem solch unvollkommenen Wesen wie dem Menschen in sehr vielen, eigentlich allen Situationen der Fall. Man muss dann weniger ob der einzelnen Tat (obwohl manche natürlich besondere Beachtung verdienen) als seinem sündigen Dasein Reue empfinden. Und echte Reue ist gleichzeitig auch immer Freude.

Aber was ist "eigentliches Recht und Unrecht"? Ich kann mir nur drei Kategorien vorstellen - subjektives Recht, gesellschaftliches Recht und göttliches Recht. Lediglich letzteres könnte man als "eigentliches", von den Umständen unabhängiges ansehen. Und dass ich dessen Existenz nicht anerkenne, muss nicht erwähnt werden
Es ist auch nicht nötig - ein System, in dem es nur die selbstreflektierte Eigenschuldzuweisung und die gesellschaftliche Schuldzuweisung gibt, reicht durchaus aus. Denn diese Begriffe bleiben stets relativ, ein übergeordnetes Beurteilungssystem ist gar nicht nötig, soweit man diese Relativität anerkennt.

Ja, ich meine im Grunde göttliches, wenn man es denn so nennen will. Wobei das nicht zwangsläufig heißen muss, dass Gott dieses Recht geschaffen hat, aber er urteilt danach.
Wenn man diese Werte als bloß relativ ansieht, ohne ein objektives fundamentum in re, dann werden sie, denke ich, im Kern hinfällig oder müssen als bloß pragmatisch legitimiertes Konstrukt gesehen werden. Das Postulat der Existenz eines göttlichen Rechts legitimiert dagegen die irdischen Rechtsvorstellungen als Annäherungen an dieses, die wir durch immer tiefergehende eigene und diskursive Reflektion immer weiter verbessern können (was natürlich voraussetzt, dass im Kern eines jeden Menschen objektive, also quasi "göttliches", Wissen sitzt). Die Wahrheit bezüglich der Werte mag immer wieder in Teilen verschütt gehen, aber die Wahrheit kommt doch immer wieder ans Licht.
Zu letzter Ansicht passt auch, denke ich, das Konzept von Menschenrechten und dergleichen besser, die sich ja nicht als bloße Vorschläge zu Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens verstehen, sondern vielmehr als durch den kulturellen Fortschritt immer besser erkannte reale Rechte.

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Ipsissimus
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Fr 13. Sep 2013, 16:27 - Beitrag #6

wenn "Schuld" nur den Umstand benennt, dass von jeglichem Tun Konsequenzen im Sinne von Ursache und Wirkung ausgehen, dann ist die Verwendung des Begriffs eine zwar etwas seltsame, aber im Grunde akzeptable Umschreibung für das Kausalitätsprinzip in Anwendung auf das menschliche Tun und Lassen. Sofern damit der Umstand begründet werden soll, dass "Verantwortung" immer mehr zu der Frage "wer bezahlt?" verkommt, beschreibt die Verwendung des ein Phänomen, das immer mehr um sich greift, gleichgültig, was davon zu halten ist. Sofern die Verwendung des Begriffes die Folgerung moralischer Schuld notwendig implizieren soll, weise ich diese Verwendung zurück. Moralische Schuld existiert immer nur in Rückbindung an bestimmte Absichten, denen tatsächlich andere entgegengesetzt wurden.

Anaeyon
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So 15. Sep 2013, 00:08 - Beitrag #7

Ich habe mir vor einiger Zeit zu einem anderen Aspekt des Themas Schuld Gedanken gemacht und würde mich fragen, was ihr dazu sagt:
Sich schuldig zu fühlen und aus seinen Fehlern zu lernen sind zwei unterschiedliche Dinge. Eines davon ist bedeutungslos.

Edit: aufs Wesentliche reduziert

Ipsissimus
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So 15. Sep 2013, 12:01 - Beitrag #8

leider vermag ich die Schrift auf dem Bild nur teilweise zu entziffern, könntest du vielleicht hier schreiben, was da steht?

Zur Textvariante: da gibt es einige Möglichkeiten.

Dass ein Mensch Schuld auf sich geladen hat, muss nicht zwangsläufig auf Grundlage eines Fehlers geschehen sein. Da Schuld keinen ontologisch relevanten Status hat, kann sie immer nur relativ zu einem Normierungssystem festgestellt werden. Dessen Nichtbefolgung mag ein Fehler gewesen sein, aber kaum einer von der Art, die ein Mensch bei sich selbst beheben kann.

Dies beiseite gelassen ist es immer noch möglich, dass ein Mensch erst auf Grundlage des eigenen Schuldempfindens überhaupt zu dem Konzept gelangt, Fehler bei sich zu suchen und diese abzustellen. Wobei der Begriff des "Fehlers" hier problematisch ist, es geht bei Anwendungen der Fragestellung in der Regel nicht um "Fehler", sondern um "moralische" Makel oder Defekte, also um Störungen und Verzerrungen (relativ zum Normierungssystem) in der eigenen Art und Weise, Mensch zu sein. Da mag es hilfreich sein, sich schuldig zu fühlen, um sich weiter zu entwickeln. Andere zerbrechen daran, ohne sich weiter zu entwickeln.

Meiner Erfahrung nach entwickelt sich ein "Änderungsdruck" erst auf der Grundlage von länger andauernden Schuldgefühlen. Ich kenne keinen Menschen, der größere Änderungen in seiner psychischen Struktur anstrebt, ohne durch diesen Druck dazu veranlasst zu werden. So rational sind Menschen im Allgemeinen nicht, und wenn doch, müssten sie erst noch spezifische Blindheiten überwinden. "Schuld" ist auch eine Frage von Perspektiven, die bekanntermaßen alle gleich gültig sind, inklusive derer, in denen die Schuld nicht gegeben ist.

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So 15. Sep 2013, 14:05 - Beitrag #9

Ich diskutierte mit einer Freundin, die gerade Psychologie studiert über die Frage, ob man kriminelle Neigungen (Lust zum Töten, Pädophilie, etc.) an sich selbst als Problem, das es zu lösen gilt, oder als Charakterzug, den es zu integrieren gilt, betrachten soll. Sie meinte in etwa, dass der Leidensdruck keine Funktion mehr hat, wenn man sich dem Makel - welcher Natur auch immer er ist - bewusst ist. Ab da wird das Schuldgefühl bzw. das dadurch entstehende Leid ein Störfaktor, der einem womöglich die Energie nimmt, sich zu ändern.
Ich habe dass dann auf mich angewendet, wenn auch nicht auf eine direkt kriminelle Neigung, und hatte zweierlei Ergebnis: Einerseits wurde ich seltener an das Problem erinnert, was ich als positiv betrachte, da entsprechend auch das dazugehörende Verhalten seltener getriggert wurde. Andererseits konnte man aber eben dieses Verhalten leichter akzeptieren, da es ja nun ein Teil meines Charakters anstatt eines Problemes war. Dadurch bekam ich das Gefühl, noch weniger Kontrolle darüber zu haben, ob die Häufigkeit in Zukunft ab- oder zunimmt.

Insofern stellt sich mir die Frage, ob unsere Gesellschaft dazu neigt, auch dort ein Schuldgefühl zu erwarten, wo es eine Besserung verhindert, oder ob eine Entkopplung von Bewertungen für zu viele Menschen ein Freibrief zum Fehlverhalten wäre. Wenn man sich das Standard-Beispiel "Katholische Kirche" ansieht, wird da ja oft behauptet, dass die Unterdrückung von Fantasien und das damit verbundene Schuldgefühl es nur schlimmer macht, anstatt einen davon zu befreien.

Ipsissimus
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Mo 16. Sep 2013, 12:12 - Beitrag #10

kriminelle Neigungen - das ist zunächst einmal eine Beschreibung, bei der die Bewertung und Trennung psychischer Eigenarten anhand des Kriteriums wünschenswert bzw nicht wünschenswert bereits vollzogen ist, zugrunde liegt und in soziale Realität übergeführt wurde. Der Zustand einer integralen Psyche liegt also gar nicht mehr vor, und somit liegen auch keine Erfahrungen mit integralen Psychen vor.

Die Sicht entspricht also der einer Psyche mit abgespaltenen Komponenten. Aus dieser Sicht sind die genannten kriminellen Neigungen eben nur das, kriminelle Neigungen. Da keine Erfahrungen damit bestehen, was diese Neigungen in einer integrierten Psyche sein könnten, werden sie mit der Feststellung der Kriminalität verworfen, in der Annahme, dass die Neigung in einer integrierten Psyche dasselbe bleibt wie das, was sie in einer gespaltenen Psyche ist.

Das ist aber nur eine Annahme. Genauso gut ist es denkbar, dass sich zum Beispiel die Lust am Töten in einer integrierten Psyche einfach nur als höheres Durchsetzungsvermögen, oder Pädophilie als insgesamt höhere Fürsorglichkeit ausdrückt. Mit Abspaltungen geht immer auch Energieverlust einher, Energie, die wieder zur Verfügung steht, wenn die Abspaltung überwunden wird.

Abspaltungen werden aber nicht einfach durch Willensakte überwunden, es muss Arbeit dafür geleistet werden, Arbeit psychoaktiver Natur, z.B. in Form von Psychoanalyse oder anderen Methoden entschiedener, aber sanfter und gewaltfreier Umformung. Dabei erfährt die Psyche die Reintegration der abgespaltenen Teile und verändert insgesamt ihren geprägten Charakter. Man kann - aus unintegrierter Sicht - davor Angst haben. Man kann auch die Chance sehen^^ Selbstverständlich ist dabei Täuschung möglich. Die Reintegration ist daher wohl nur als Weg für diejenigen aufzufassen, denen es ein Anliegen ist, vollständig zu werden. Alle anderen sind wahrscheinlich besser mit Bestrafung bedient^^ Falsch ist jedenfalls die Auffassung, dass die Reintegration einen Menschen unverändert belässt.


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