Leider bin ich ein wenig in Zeitdruck, aber nachdem ich die Antwort gestern schon aufgeschoben hatte...
Original geschrieben von Padreic
@Fargo
Es ist die Summe von individuellen Willen. Das diese zufällig übereinstimmen, zumindest in der Mehrheit, hebt sie nicht auf eine höhere Ebene.
Einspruch. Es ist das Ergebnis eines Diskussions- und Überprüfungsprozesses, in dessen Verlauf sich Positionen und Meinungen ändern konnten und das zuvor für Gültig Gehaltenen noch einmal kritisch überprüft wurde. Solche Überprüfungsprozesse finden im demokratischen Rechtsstaat regelmäßig statt. Das ist sehr wohl eine ganz andere Ebene des kollektiven Willens als etwa jene, die wir in einer religiösen Stammesgemeinschaft mit ihren Tabus finden.
Genauso war einmal die Annahme einer Seele ja durchaus auch in unseren Landen mal Grundlage juristischer Realität. Man kann so nicht sagen, dass es grundsätzlich keine Kategorie rechtsstaatlicher Debatten ist.
Die Seelenannahme ist nicht mehr Grundlage oder auch nur Teil unseres Rechtsdenkens – nur dort, wo man Seele als Synonym für Psyche verwendet (... „seelischen Schaden zugefügt“ etc.) im Sinn. Als die christliche Idee der Seele ins Recht hineinspielte, hatten wir keinen Rechtsstaat. Man kann sogar argumentieren, es könne solange keinen Rechtsstaat geben, wie solche esoterischen Vorstellungen normative Gewalt haben dürfen. Man kann aber auch argumentieren, der moderne Begriff der Würde von Menschen (und gelegentlich auch Mitgeschöpfen) sei eine verschämte Art, die Kategorie Seele wieder in Rechtsdebatten einzuschmuggeln.
Man hatte wenigstens damit einen philosophisch-theologischen Konsens der Basis für eine dem Strafrecht zugrunde liegenden Ethik. Heutige Ethik-Kommissionen und dergleichen haben eher den Charakter des Lächerlichen, besteht doch solch ein Konsens nicht mehr.
Das empfinde ich genau umgekehrt. Die Debatten heutiger Ethikkommissionen scheinen mir wichtiger, eben weil ein Konsens erst geschaffen und die Reste alter Wertefundamente neu überprüft werden müssen. Das Problem ist das öffentliche Desinteresse an der Arbeit der Kommissionen, gepaart mit massiver Einflussnahme diverser Interessengruppen.
Juhu, die Nazis haben gar keinen Massenmord an den Juden begangen, waren sie doch davon überzeugt, dass das keine gleichwertigen Menschen sind! .... Juristisch kann ich nur dann von Mord sprechen, wenn es von den Strafgesetzbüchern so festgelegt wird (obwohl das ja im Bezug auf Diktaturen im nachhinein oft vergessen wird), aber ethisch (und nur um ethische oder ideell juristische Kategorien kann es hierbei gehen, wenn ich vom Urteil des Einzelnen ausgehe) wird hier eben dann an einer Person eine willentliche und geplante Tötung ausgeübt, auch wenn der Täter nicht zustimmt, dass der Embryo schützenswert ist...
... Das Strafrecht bezieht sich beim Begriff der willentlichen und planvollen Tötung wohl auch mehr auf die Tötung an sich, als darauf, dass man wirklich der Überzeugung war, einen Mensch vor sich zu haben und das wollte.
Das Strafrecht - und auch das Völkerrecht – bezieht sich auf das, was man wissen konnte und wissen musste. Die Nazis und ihre Handlanger, die Karrieristen wie die Sadisten, wussten sehr wohl, was sie da tun und dass es Menschen sind, die sie ermorden. Wir haben es hier ja nicht mit dem Noch-Nicht-Wissen zu tun, sondern mit dem Nicht-Mehr-Wissen-Wollen. Nicht umsonst haben die Nazis ja den Holocaust zwar industriell durchorganisiert, zugleich aber als konspirative Aktion gigantischen Ausmaßes an den Resten des Rechtstaats vorbeigeschleust. Du findest das gleiche Muster übrigens in den von Dir zitierten Diktaturen. Dort bestehen de facto zwar Todesschwadronen aus Angehörigen der Sicherheitskräfte, aber sie arbeiten konspirativ, wie eine Verbrecherbande, zeigen also ein Bewusstsein der Illegalität ihres Handelns. Die argentinische Junta etwa hatte die absolute Macht und Staatsgewalt, hat ihre Morde aber hinter dem Rücken der regulären Polizei durchgeführt und die Spuren verwischt.
Übrigens denke ich, dass so manche Frau bei einer Abtreibung auch zum Teil gegen ihre ethische Überzeugung handelt bzw. gegen ihre dunkeln ethischen Gefühle, haben doch die wenigsten Leute eine feste Ethik.
Volle Zustimmung. Vor allem beschreibst Du da ein Schuldgefühl, das oft erst Jahre oder Jahrzehnte später Macht über das Leben der betreffenden Frauen gewinnt. Und dann wird es schwer, den Betreffenden ihr Ich-Bild als Mörderin auszureden: wenn sie tatsächlich das Bewusstsein hatten, ein Leben auszulöschen, dann ist ihnen nicht einfach mit einem „Ist doch schon so lange her“ oder einem „Waren doch nur ein paar Zellen“ zu helfen. Da reden wir aber von einem ganz privaten Schuldkosmos.
Genauso wie ich in meinem Ausspruch (in beiden Fällen scheinst du es übersehen zu haben) ist das Subjekt der Aussage, den Embryo schon als Menschen zu sehen, 'man' und nicht 'ich'. Somit ist der Schluss von der singulären individuellen ethischen Überzeugung zu der allgemein gültigen, den du hier bezweifelst, schon mal gar nicht gegeben.
Es gibt mehrere Arten, dieses ‚man’ zu lesen. Z.B. so: „Wenn Person A davon ausgeht, dass eine vorgeburtliche Seele existiert, begeht A einen Mord, wenn A abtreibt.“ So kann man ihn gelten lassen, muss das aber nicht. Siehe mein Einwand, dass der Seelenglaube auch die Bedeutung einer Tötung relativieren kann, ob man mit dieser speziellen Interpretation der Seele nun sympathisiert oder nicht.
Der Satz kann aber auch heißen: „Wenn eine in der Minderheit befindliche Personengruppe A unbewiesenermaßen und rein auf Glauben fußend von einer vorgeburtlichen Seele ausgeht, dann darf sie es als Mord betrachten, wenn Personen aus einer Gruppe B, die nicht an vorgeburtliche Seelen glaubt, Abtreibungen im legalen Rahmen begehen.“
So ist das ein fataler Satz, über den es nicht mehr abstrakt philosophisch, sondern konkret rechtstaatlich zu debattieren gilt. Er beinhaltet dann nämlich das Recht der Nothilfe, des Einschreitens mit allen Mitteln angesichts einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben Dritter. Von dieser Interpretation von Imkers Satz zu dem gemeingefährlichen Christenmenschen, die in Amerika Patientinnen, Ärzte und Schwestern von Abtreibungskliniken tyrannisieren, attackieren und auch ermorden, ist es ein verdammt kurzer Weg. Die nehmen nämlich genau das Recht für sich in Anspruch, Morde an Wehrlosen verhindern zu dürfen.
Der Begriffs des Mordes ist älter als unser Strafrecht. Und so bekommt er über unsere konkret juristische Situation hinaus eine ethische Dimension, denn ethisch macht es durchaus einen Unterschied, ob eine bloße Tötung oder ein Mord vorliegt.
Der Begriff ist nicht so sehr älter als unser Strafrecht, als dass er eine der Wurzeln unseres Rechtsdenkens bildet. Schon das Grimmsche Wörterbuch sagt: „Mord 1) ein altes gemeingermanisches Wort... die urverwandtschaftlichen Bezüge zu der durch alle indogermanischen Sprachen verbreiteten Wurzel ‚mar’, sterben, sind bekannt...: nur dass im deutschen Substantiv und den von ihm abgeleiteten Bildungen von den ältesten Zeiten her die causale Bedeutung des Sterben Machens, der Tötung auftritt, und zwar in einem bestimmten, rechtlich begrenzten Sinne, wie denn Mord überhaupt altes Rechtswort ist... : es bezeichnete die heimliche vorbedachte Tötung, im Gegensatze zum offenen Totschlag (ahd. slahta, manslahta), dieses ein sühnbares, jenes ein todeswürdiges Verbrechen....
So muss ich mich hier in einem Philosophieforum auch nicht zwangsläufig an Definitionen, wie sie im deutschen Strafgesetzbuch stehen, halten.
Das muss man tatsächlich nicht. Man sollte aber einen schlüssigen Grund haben, warum man vom Sprachgebrauch in der Gesellschaft abweicht, sollte den offen darlegen und damit auch eine konkrete Neudefinition des umgenutzten Begriffes für die jeweilige Diskussion anbieten. Sonst herrscht wilde Begriffsunsicherheit – das Prinzip Glaube, ausgedehnt auf die Sprache.
Übrigens halte ich es nicht für notwendig, Beiträge auf möglicherweise im Hinterkopf bei bestimmten Formulierungen gedachte Neben- oder auch Hauptgedanken zu analysieren.
Auch hier geht’s mir ganz andres als Dir. Nichts scheint mir nötiger. Wer die bewussten oder unbewussten Sprachstrategien und Begriffsfallen seines Gegenübers nicht mitbedenkt, läuft Gefahr, ihnen zum Opfer zu fallen.
P. S. Ich will mit dem ganzen übrigens nicht sagen, dass ich Abtreibungen generell ablehnend gegenüber stehe. Das ganz ist vielmehr als ein 'was ist, wenn wir die Annahme treffen, dass...' gedacht.
Da treffen wir uns wieder. Ich will keineswegs die Abtreibung in den ersten Wochen als Bagatelle abtun, über deren Unbedenklichkeit uns die Forschung hinreichendes Material geliefert hätte. Gerade die Grundlagendebatte zur Stammzellenforschung hat viel bislang Akzeptiertes wieder in Zweifel gezogen. Und Grenzen verwischt. Erbitterte BefürworterInnen des Abtreibungsrechts finden sich im oft im Lager der entschiedenen Stammzellenforschungsgegner, und fundamentalistische Gegner der Abtreibung treten als Befürworter liberaler Forschungspraxis auf.
Ei-wei, ist das nun doch wieder ein langer Beitrag geworden. Ich muss noch was arbeiten, sorry,
Fargo