Hier ist endlich mein drittes Essay, das für das Semiar "Zum Begriff des Subjekts" entstanden ist. Da die Dozenten mehrere Wochen nicht da waren, habe ich erst vor ein paar tagen die korrigierte Version erhalten. Inhaltlich habe ich nichts überarbeitet, sondern nur ein paar grammatische Schwächen ausgebügelt. Ich hoffe der Thread ist noch nicht komplett in Vergessenheit geraten und es werden wieder ein paar mein Essay lesen. Ich wünsche viel Spaß.
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In den beiden vorangegangenen Essays habe ich mich der Frage nach dem Subjekt in Bezug auf das Denken, das Bewusstsein und den Willen gewidmet, jetzt will ich mein Augenmerk auf das richten, was wir als das "Selbst" bezeichnen. Als Selbst bezeichnen wir unsere eigentliche Persönlichkeit und verbinden mit dem Begriff auch die Vorstellung eines Kerns unseres Wesens. Im Laufe der Zeit ändern wir immer wieder unsere Persönlichkeit, doch selbst nach vielen Jahren empfinden wir uns immer noch als derselbe Mensch, der sich eben nur verändert hat.
Ich werde als erstes das Problem, das sich aus meinen atheistischen Überlegungen aus den vergangenen Essay für diese Frage ergibt, aufzeigen, um danach zu versuchen, eine Lösungsmöglichkeit dafür darzustellen.
Als erstes möchte ich meine Verwendung der Worte "selbe" und "gleiche" erläutern, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Dazu werde ich es an ein paar Beispielen erläutern:
Nehmen wir einen Gegenstand, z.B. ein Blatt Papier und sagen, das ist das Blatt X, und legen dies in eine Kiste. Es ist klar, dass dieses Blatt immer als dasselbe gesehen werden kann, weil wir es räumlich abgegrenzt haben, und kein Zweifel daran besteht, dass es sich nicht irgendwie verflüchtigen wird. Es mag vergilben oder sich wellen, aber das Blatt X ist immer dasselbe Blatt X. Es ist eindeutig, dass es sich immer noch um dasselbe handelt, weil es eben immer noch in der Kiste ist und nicht ausgetauscht wurde. Es mag nicht mehr das gleiche sein, aber immer noch dasselbe. Oder wir nehmen zwei Flaschen von einer Marke, so ist die eine Falsche nicht dieselbe wie die andere, weil sie aber in ihrem Äußeren für uns identisch sind, sind sie gleich. Auch eine der Flaschen ist zu sich selbst die gleiche. Wird dann eine stark beschädigt, ist sie zu sich selbst und zu der andern nicht mehr die gleiche.
"Selbe" meint also, dass wir stets von einem Gegenstand reden und nicht von einem anderen, und "gleiche" meint entweder denselben Gegenstand, der sich in seiner Art nicht verändert hat, oder mit einem anderen identisch erscheint. Hier wird aber schon deutlich, dass die Linien zwischen "selbe" und "gleiche" nicht eindeutig zu ziehen sind, denn es ist Ansichtssache, inwieweit ein Gegenstand mit einem gleichen identisch ist. Das Äußere mag zwar uns identisch erscheinen, aber schon in der Struktur der Atome gibt es Unterschiede, und von daher sind die Gegenstände an sich nicht identisch. Auf der anderen Seite ist die Frage wann ein Gegenstand durch Veränderungen sich noch so sehr ähnelt, dass man ihn als den gleichen bezeichnen kann. Ein Bäumchen z.B., das immer weiter wächst, ändert seine Gestalt. Betrachten wir das Bäumchen bei einer Größe X und sehen dem Baum weiter beim wachsen zu, ab wann müssen wir sagen, dass der Baum nicht mehr der gleiche ist?
In Bezug auf den Menschen kann man sagen, dass ein Mensch nach X Jahren immer noch derselbe, aber bestimmt nicht mehr der gleiche ist, wie früher. Es handelt sicher immer noch um den Menschen wie vor X Jahren, aber sein Wesen hat sich verändert. Dieses ist auch die typische Ansicht unserer Gesellschaft. Wenn z.B. ein Schwerverbrecher sich total ändert, könnte man meinen er sei ein anderer Mensch geworden. Ok, er ist anders, aber immer noch derselbe. Nur weil jemand sozialisiert wurde streichen wir ja auch nicht seine Straftaten aus seinem Führungszeugnis.
Dass sich aber aus meiner rein naturwissenschaftlichen Sicht der Dinge ein Problem ergibt, werde ich jetzt erläutern. Wir sagen also, dass ein Mensch, auch wenn sich seine Persönlichkeit ändert, immer derselbe bleibt. Da aus meinem vorangegangenen Essay hier auf dem Standpunkt aufgebaut wird, dass wir allein Körper sind und keinen "Geist" besitzen, wie ihn Descartes beschreibt, kann man sagen, dass der Mensch immer derselbe bleibt, weil es sich immer um dasselbe körperliche Objekt handelt, und die Psyche hierbei durchaus zu vernachlässigen sei, da sie nur eine Funktion dessen ist. Es ist aber eine wohlbekannte medizinische Tatsache, dass sich das Gewebe des menschlichen Körpers regelmäßig selbst erneuert und somit grundsätzlich alle sieben Jahre einen völlig neuen Körper schafft. Wenn also durch die Erneuerung des Körpers ein völlig neuer Körper geschaffen ist, dann kann man auch nicht mehr vom selben Menschen sprechen, weil er aus materieller Sicht nichts besitzt, was Bestand hat. Für all diejenigen, die meinem Gedankengang gerade nicht ganz folgen konnten, hier ein passendes Beispiel: Wir nehmen zwei gleiche Puzzles und bauen davon eins zusammen. Dieses zusammengebaute Puzzle symbolisiert den Menschen in seiner Körperlichkeit. Nun nehmen wir ein Puzzlestück weg und ersetzen dies durch das gleiche aus dem anderen Puzzle. Dies führen wir nach und nach mit allen Puzzleteilen durch, bis wir dann letzen Endes noch das gleiche Puzzle liegen sehen, es aber nicht mehr dass selbe ist, weil es aus anderen Teilen besteht. Dieser Austauschprozess ist also alle sieben Jahre bei einem Menschen abgeschlossen, wie kann man also spätestens nach sieben Jahren noch von demselben Menschen sprechen? Dieses Problem möchte ich im weiteren Verlauf des Textes kurz als "Puzzle-Problem" bezeichnen.
Mein erster Versuch dieses Problem zu lösen sieht wie folgt aus:
Um zu sagen, der Mensch bleibt derselbe, dürfen wir ihn nicht über seine Eigenschaften definieren, sondern müssen ihm einen fiktiven "Stempel" aufdrücken, ihm eine Nummer zuweisen oder ihn in einen fiktiven "Würfel" stecken. Der Mensch hat durch diese Klassifizierung etwas an sich, dass auf jeden Fall gleich bleibt, egal wie sehr er sich auch verändern mag. Wohin er geht, der Würfel wandert mit. Wie sehr sich der Mensch auch verändern mag, das was in dem Würfel ist, ist immer dasselbe.
Aber diese Idee ist nicht ohne Probleme. Was ist, wenn ein Mensch mehrere Körperteile verliert, muss dann der Würfel geteilt werden? Wenn der Würfel geteilt ist, dann ist die gewünschte Einheit und Klarheit, die man mit ihm erreichen wollte, zerstört. Verliert der Mensch eben mehrere Körperteile, wo ist dann der eigentliche Mensch? Man muss eine Priorität setzen, was den Menschen besonders ausmacht, also was das wichtigste an ihm ist, und wo die Identität haften bleiben würde, wenn er geteilt werden würde. Da rein materiell alle Körperteile gleichwertig sind, müssen wir einem bestimmten Teil einem besonderen Wert zuschreiben, der dann das Gehirn wäre, da dies die Persönlichkeit hervorbringt, die neben dem Äußeren das Hauptmerkmal eines Menschen ist. Aber auch das Gehirn ist teilbar, wo liegt also wieder hier der entscheidende Teil? Es gibt aber nicht ein einziges Teil, das die Persönlichkeit hervorbringt, sondern erst das Zusammenspiel mehrerer. Solange diese Bereiche also unangetastet bleiben gibt es kein Problem? Schön wäre es. Denn was dieses Modell gibt, ist eine mögliche Definition, wann ein anderer Mensch "derselbe" bleibt, erklärt aber nicht unser eigenes Empfinden. Wir sehen uns selbst nicht von einem fiktiven Würfel umgeben, in dem der Körper, der wir jeweils sind, beliebigen Veränderungen ausgesetzt werden kann, und wir dabei immer dieselben bleiben. Dieser Würfel braucht keinen Kern, sondern nur einen Inhalt, aber unser Bewusstsein sagt uns, dass wir etwas besitzen müssen, das identisch bleibt im Laufe der Zeit. Wir halten uns immer noch für dieselbe Person, wie vor X Jahren, und damit wir dieselbe sein können muss es etwas geben, was uns über all die Jahre erhalten bleibt. Das konstante Ich-Gefühl, muss also auf etwas Unveränderlichen beruhen. Somit ist dieser Lösungsansatz nicht ausreichend.
Mein zweiter Versuch das Problem zu lösen, ist die Vorstellung einer Seele:
Mit einer solchen wäre das Problem zwar gelöst, dass wir uns immer als dieselbe Person wahrnehmen und umgehen damit das Puzzle-Problem, weil die Seele nicht vom Körper abhängig ist. Doch halte ich diesen Lösungsversuch schon allein aus logischen Gründen für unzumutbar, wirft er doch mehr Fragen auf, als er beantwortet. Woher kommt die Seele? Wo sitzt die Seele? Wie sieht eine Seele aus? Was passiert nach der Seele nach dem Tod? Hat nur der Mensch eine Seele oder auch andere Lebewesen? Wenn der Mensch eine einheitliche Seele hat, wie kann es dann zu Schizophrenie kommen? Alles Fragen auf die wir nur spekulative Antworten geben können, da sich die Seele durch ihre Nicht-Körperlichkeit unseren naturwissenschaftlichen Untersuchungen entzieht, und wir somit keine Informationen über sie erlangen können. Wir wollen aber eine Antwort auf das hier thematisierte Problem, die möglichst keine neuen Fragen aufwirft, und falls doch diese dann wiederum beantwortbar sein sollten. Somit scheidet auch dieser Lösungsansatz aus.
Wir brauchen also etwas, was uns mit unserem früheren Dasein verbindet, und das ist für uns unsere Erinnerungen. Wir sind immer noch dieselben wie früher, weil wir wissen, was wir damals gemacht haben. Die Person an die wir uns erinnern, kann nur man selbst sein, weil wir ja nicht Erinnerungen von anderen Menschen haben können. Aber was ist, wenn wir etwas vergessen, welche Verbindung haben wir dann noch zu diesem Teil unserer Vergangenheit? Wir würden, wenn wir etwas vergessen, somit einen Teil unseres Selbst verlieren. Und was wäre, wenn wir durch eine Amnesie alle unsere Erinnerungen verlieren würden, hätten wir dann immer noch etwas mit unserem früheren Dasein gemein? Auch wenn wir uns nicht erinnern könnten, so handelte es sich doch immer noch um denselben Menschen. Ein Mensch wird ja nicht durch einen völlig anderen ersetzt, nur weil er Dinge vergisst. Wir würden einem Schwerverbrecher ja auch nicht seine Straftaten aus seinem Führungszeugnis streichen, wenn er sein Gedächtnis verloren hätte. Darüber hinaus können Erinnerungen auch falsch sein, welche Sicherheit geben sie uns also über unser Selbst? Außerdem können Erinnerungen nur eine Antwort auf die Frage nach unserem Selbst sein, aber nicht nach dem anderer Personen, und das reicht nicht für eine ausreichende Antwort aus.
Ich habe nun verschieden Ansätze angeführt, aber keiner hat mich zufrieden gestellt. Ich setzte also erneut dort an, wo ich die Quelle unseres Selbst vermute, im Gehirn. Wie schon erwähnt, ist unsere Psyche eine Funktion des Gehirns, aber wie sehen die Prozesse im Gehirn aus? In unserem Gehirn interagieren ständig unendlich viele Zellen durch elektrische Impulse miteinander, erzeugen ein bestimmtes Muster und bringen somit unser Bewusstsein hervor. Diese elektrischen Impulse sind uns nicht bewusst, wie auch das hervorgebrachte Unterbewusstsein, aber dies dürfte hier keine Rolle spielen. Die Frage ist, wo das Konstante in diesem System ist, dass unser Selbst-Gefühl schafft. Ohne die Zellen gäbe es keine Impulse, und ohne die Impulse wäre das Gehirn tot. Die Zellen bringen die Impulse hervor, und die Impulse beeinflussen andere Zellen, wobei die Impulse nur das Medium der Zellen ist zu interagieren. Wird nun eine Zelle durch eine neue ersetzt, so nimmt diese den Platz der alten ein. Der Austausch einer Zelle fällt bei der Anzahl an Zellen in unserem Gehirn nicht ins Gewicht. Nur besondere Ereignisse (z.B. ein Unfall) können das System plötzlich radikal verändern. Dies wird aber unter gewöhnlichen Bedingungen kaum der Fall sein. Eine neue Zelle übernimmt also den Platz der alten und fügt sich in das System ein. Angenommen das Muster der Impulse bleibt gleich, so müsste trotz der neuen Zellen die Persönlichkeit identisch bleiben. Verändert sich das Muster hingegen, ändert sich auch die Persönlichkeit. Wie bei meinen anfänglichen Beispielen zu den Begriffen "selbe" und "gleiche" kann man auch bei einer Änderung der Persönlichkeit nicht eindeutig zwischen einer alten und einer neuen Persönlichkeit unterscheiden, in Bezug auf ihre Gleichheit. Die Persönlichkeit wird aber immer dieselbe sein, weil sie immer aus demselben System entsteht. Ausnahme bilden dabei gespaltene Persönlichkeiten, weil es sich hier allen Anschein nach um zwei Persönlichkeiten handelt. Das Konstante in der Persönlichkeit, das Selbst-Gefühl des Ichs, wird also ein konstanter Wert des Impulsmusters sein. Solange dieser entscheidende Wert konstant bleibt, erleben wir uns beständig, als uns selbst. Schizophrenie wäre somit eine Störung dieses Musters. Was aber tun mit dem Puzzle-Problem? Wenn der Prozess der Zellerneuerung nur schrittweise vonstatten geht, sich jede Zelle in das alte System integriert und dadurch die Grenze zwischen alten und neuen System nicht definierbar ist, weil ein "neues" System nie vollständig sein kann, weil es auch immer schon wieder alte Komponenten enthält, dann stellt sich das Problem hier nicht mehr.
Um meine Vorstellung vereinfacht bildlich darzustellen, vergleiche ich das Muster der Hirnaktivitäten mit dem eines Fingerabdrucks. Der Fingerabdruck verändert sich zwar mit der Zeit, weil Kinder kleinere Finger als Erwachsene haben, aber ist es dennoch derselbe Fingerabdruck, auch wenn es nicht der gleiche ist. Der Fingerabdruck wäre nur nicht mehr derselbe, wenn man sein Muster verändern würde.
Ich möchte aber noch einmal betonen, um nicht vielleicht missverstanden zu werden, dass unsere Persönlichkeit nicht allein das Impulsmuster ist, sondern vor allem das dem zugrunde liegende Muster der Gehirnzellen, da die Impulse nur das Medium sind. Wenn ich von Impulsmustern spreche, muss man sich diese immer auf Grundlage der Gehirnzellen vorstellen und nicht getrennt von diesen.
Abschließend möchte ich noch ein paar Sätze zu dem Verhältnis von Mensch und Persönlichkeit in Bezug auf "selbe" und "gleiche" sagen. Ein Mensch ist nicht nur seine Persönlichkeit, sondern alles was zu seinem Körper gehört. Ein Mensch kann dasselbe Äußere haben, wie zu einer vorhergegangenen Betrachtung, aber seine Persönlichkeit kann sich geändert haben. Dies ist natürlich auch in umgekehrter Richtung möglich. Diese Unterscheidung von Körper und Psyche ist, aber nicht wie der bei Descartes zu sehen, sondern dient nur dazu uns in unserem Alltag leichter zu verständigen. Die Psyche ist immer eine Funktion des Körpers. Sprechen wir von demselben Menschen, so bedienen wir uns in der Regel des fiktiven Würfels, wenn es um seine allgemeine Körperlichkeit geht. Fragen wir hingegen, ob seine Psyche dieselbe ist, dann fragen wir nach der Äquivalenz des Gehirnmusters. Falls sich die Psyche eines Menschen ändern sollte, so handelt es sich immer noch um denselben Menschen, eben nur mit einer anderen Psyche. Diese Unterscheidung ergibt sich natürlich nur, wenn man den Menschen über diesen fiktiven Würfel definiert und nicht primär über seine Persönlichkeit. Definiert man hingegen den Menschen über seine Psyche, so ist klar, dass es sich nicht mehr um denselben Mensch handelt, wenn dem betrachteten Körper eine andere Psyche zu Grunde liegt. Wie aber schon oben mit meinem Bespiel des Schwerverbrechers erläutert, definieren wir für gewöhnlich den Menschen eben mit dem besagten fiktiven Würfel.
Meine Erklärung ist nur Versuch aus materieller Sicht unter Berücksichtigung der Naturwissenschaften, das Problem des Selbst in den Griff zu bekommen. Ob die hier dargestellte Idee naturwissenschaftlich akzeptabel ist, kann ich leider nicht beurteilen, da mein Wissen über Neurobiologie leider nur sehr begrenzt ist. Ich gebe zu, dass die Erklärung etwas merkwürdig zumuten mag, doch sollte man sich den Vorschlag in Ruhe überlegen, weil es zumindest für mich nach einer stimmigen Vorstellung klingt, um das Bild des Selbst auch aus atheistischer Sicht aufrecht zu erhalten.
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Edit: Peinlich, peinlich, aber mir ist jetzt erst ein kleiner Fehler aufgefallen, den aber scheinbar niemand bemerkt hatte. THX hier an E-Noon, die scheinbar genauer liest, als ihre Vorgänger.
