Was macht den Buddhismus zur Religion?

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Maurice
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So 30. Jan 2005, 14:42 - Beitrag #1

Was macht den Buddhismus zur Religion?

Wir hatten ja schon die ein oder andere Diskussion über die Frage, wie man den Begriff "Religion" definieren könnte, wobei wir zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen waren. Ebenfalls kam die Idee auf, mal einen Thread speziell über den Buddismus zu erstellen.
Dieser Thread richtet sich vor allem an unseren Buddhismus-Experten Ipsi. ;)
Mein größtes Problem ist der Fakt, dass es im Buddhismus nicht einen oder mehrere Götter gibt, was für Religionen in der Regel typisch sind. Was macht den Buddhismus also zu mehr als einer sehr verbreiteten esoterischen Richtung, bei der es ja auch metaphysische Elemente geben kann?

Traitor
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So 30. Jan 2005, 14:52 - Beitrag #2

Ich würde sagen, dass der entscheidende Punkt die Existenz eines geschlossenen Glaubenssystems mit Präsentieren einer eindeutigen Heilsidee und Erlösungsstrategie ist.
Ich kenne den Buddhismus nicht sonderlich gut, werde mir da von Ipsi wohl einiges sagen lassen müssen, aber soviel ich weiß, treffen diese Kriterien auf ihn durchaus zu. Es wird zwar sehr stark alles relativiert, man solle ja eben nach nichts bewusst streben, aber dieser totale Relativismus ist auch schon wieder ein Glaubensdogma.

Ipsissimus
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So 30. Jan 2005, 20:34 - Beitrag #3

morgen, heute nicht mehr. oder nur ganz kurz

es ist nicht ganz unumstritten, ob der Buddhismus eine Religion darstellt, oder eher eine Philosophie ist. Den von dir, Traitor genannten Kriterien, die eher für die religiöse Deutung sprechen, steht entgegen, daß Buddha selbst explizite Anweisungen erließ, die darauf hinauslaufen, daß Menschen, die sich seinen Lehren nähern, keine Glaubensakte abverlangt werden dürfen.

Andererseits gibt es in den sog. vier Fahrzeugen

Hinayana oder Theravada (Kleiner oder Alter Weg)
Mahayana (Großer Weg)
Vajrayana
Zen-Buddhismus

völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, wie mit Buddhas Anweisungen umzugehen sei. Am ehesten für eine philosophische Deutung eignen sich Theravada und Zenbuddhismus - Glaubensakte spielen praktisch keinerlei Rolle und die Erlösung als höchstes Ziel ist völlig dem Belieben des Einzelnen anheimgegeben. Mahayana und Vajrayana ähneln hinsichtlich ihrer Praxis in vielem den Gesetzesreligionen; und in diesen beiden Richtungen finden sich auch Wesen, die zwar nach christlich-muslimischer Auffassung keine Götter sind, aber sehr ähnliche Funktionen erfüllen, z.B. Gegenstand von Verehrung und Ansprechsubjekt von Bittgebeten sind.

Die berühmte Selbstverpflichtung dieser sog. Bodisattwas - zum Besten aller Wesen auf das eigene Nirvana zu verzichten, bis auch das letzte empfindende Wesen erlöst sein - ist zwar in allen Fahrzeugen zu finden (im Vajrayana noch ergänzt durch assimilierte Überbleibsel der ursprünglichen Bön-Religion Tibets), hat jedoch speziell im Mahayana eine ausgesprochen soziale Dimension erhalten, die soweit geht, daß die Auffassung nicht selten zu finden ist, daß niemand wirklich erleuchtet sein kann, der/die sich weigert, diese Verpflichtung einzugehen.

Auch die Zuordnung von Vajrayana und Zen-Buddhismus zu den Fahrzeugen ist umstritten, in der Praxis sind diese Formen jedoch deutlich abgegrenzt, von daher halte ich es für Haarspalterei, sie nicht als eigenständige Wege aufzufassen.

aimless
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Mo 31. Jan 2005, 01:55 - Beitrag #4

ist hier überhaupt wer buddhistisch..?

Ipsissimus
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Mo 31. Jan 2005, 10:43 - Beitrag #5

fragst du nach der Mitgliedschaft in einer buddhistischen Kirche/Vereinigung oder nach dem privaten Versuch, nach buddhistischen Maximen zu leben?

Feuerkopf
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Mo 31. Jan 2005, 10:57 - Beitrag #6

Kurzer Erfahrungsbericht:

Vor einigen Jahren habe ich mich in Zen-Meditation unter Anleitung geübt. Ich musste allerdings feststellen, dass ich nicht in der Lage war, mich von meinen weitschweifenden Gedanken zu lösen und einfach nur zu gehen oder zu atmen.

Um so mehr bewundere ich die buddhistischen Mönche, die in unserer Nähe wohnen. Wenn sie - in safrangelb gewandet - ihre Gehmeditationen machen und immer völlig ausgeglichen und freundlich wirken, dann bin ich ein wenig neidisch.
So viel innere Ruhe wünsche ich mir manchmal auch.

Maglor
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Mo 31. Jan 2005, 19:48 - Beitrag #7

Offenbar wird versucht eine Religion von einer esoterischen Richtung oder einer Philosophie zu unterscheiden.
Die lamaistische Volksreligion erscheint zumindest als eine ziemlich gewöhnliche Religion mit Göttern, Dämonen...

Zitat von Traitor:Ich würde sagen, dass der entscheidende Punkt die Existenz eines geschlossenen Glaubenssystems mit Präsentieren einer eindeutigen Heilsidee und Erlösungsstrategie ist.

Eine Heilsidee und gewissermaßen eine Erlösungsstrategie besitzt auch die Stoa und auch solch, meist grundsätzlich als philosophisch bezeichneten (antiken) Veriene wie die Phytagoreer, die Zyniker und so weiter.

Der Unterschied zu dem, was gemeinhin als Esoterik bezeichnet wird, ist die Systematik. Doch stellt sich mir die Frage, ob solche Systemlosigkeit, wie sie etwa die meisten Naturreligionen haben, wirklich das Kriterium sein kann.

MfG Maglor

Ipsissimus
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Mo 31. Jan 2005, 22:24 - Beitrag #8

Feuerkopf, wieviele Jahre hast du denn geübt? Gedankenruhe erzielst du nicht, indem du beabsichtigst, ruhig zu sein. Das ist ein Prozess, der sich über viele Jahre, oft Jahrzehnte des Übens erstreckt, in dem sie sich dann langsam, sehr langsam einstellt.

Maglor, gemessen am von dir genannten Kriterium der Systemhaftigkeit müßte Vajrayama ganz oben in der Liste der Religionen stehen. Bei Verschmelzung mit dem eindringenden Buddhismus ist aus der alten Volksreligion Tibets ein hochkomplexes, extrem geordnetes Gebilde entstanden, das jedem theologischen Ornungsstreben standhält und Genüge tut. Eine andere Frage ist, ob dieses Gebilde noch mit Recht als Buddhismus bezeichnet werden kann oder als Eklektizismus aufgefaßt werden muss - noch eine religionswissenschaftlich umstrittene Frage, allerdings kaum für die Anhänger der Nyingma, Sakya, Kagyu und Geluk, für die ihr Glaube eindeutig buddhistischer Art ist und damit nur in westlicher verzerrter Auffassung ein Glaube.

Maurice, Buddhismus als esoterische Richtung aufzufassen, verbietet sich allein schon deswegen, weil er tief in den Kulturen Südostasiens integriert ist und dort seit mittlerweile über 2½ Jahrtausenden kulturformend wirkt. Es gibt zwar hinduistische Theologen, die im Buddhismus nur eine etwas verufene, etwas esoterische und nicht besonders originelle Variante des Hinduismus sehen, aber ich denke, das läßt sich aus einer ähnlichen Konfliktsituation heraus erkären wie die Animositäten zwischen fundamentalistischen Christen und Juden.

Eine andere Frage wäre, inwieweit Buddhismus in Europa und Amerika, also außerhalb seiner Ursprungsländer als esoterische Richtung aufzufassen wäre. Nun, aus vielen Gesprächen mit japanischen, koreanischen und chinesischen Gästen bei uns im Institut weiß ich, daß das Christentum in deren Heimatländern ein ähnlich esoterisches Flair verbreitet, wie bei uns der Buddhismus. Wenn wir also gleiche Kriterien anlegen, gilt die getroffene Einschätzung für die eine wie für die andere Religion. Einzig daraus könnte ein Unterschied abgeleitet werden, als Missionstätigkeit als Auftrag im Christentum angelegt ist, im Buddhismus aber nicht, so daß die Ausbreitung des Buddhismus in Europa/Amerika vielleicht eher mit persönlichen Ambitionen Einzelner einhergeht, die dann als "esoterisch" charakterisiert werden könnten.


nach meinem Dafürhalten ist Buddhismus keine Religion, sondern eine Philosophie, die auf einer "naturwissenschaftlichen" These beruht - bezogen auf den Gehalt der Aussagen Budhas, wie niedergelegt im Pali-Kanon. Eine Aussage folgender Art

»Ich erachte die Ansichten der Könige und Führer der Menschen gleich solchen von Staubmotten.
Schätze aus Gold und Edelsteinen gelten mir gleich Ziegeln und Kieselsteinen, und feinste Seidenkleider sind mir nichts anderes als Bettlerlumpen.
Ich sehe Myriaden von Welten im Universum wie kleine Fruchtsamen; und der größte See Indiens paßt als Öltropfen auf die Spitze meines Schuhs.
Die Weisheitslehren der Welt: armselige illusionäre Spielchen mittelmäßiger Magier.
Die höchsten Konzeptionen von Emanzipation entlarve ich als goldenglänzende Schlieren in einem Traum und den heiligen Weg der Erleuchteten als das Spiegelbild von Blumen in einem Auge.
Meditation: ein paar Steine auf einem Berg, und Nirvana: ein Nachtgespenst am lichten Tage.
Die Kategorien 'wahr' und 'falsch' kommen mir vor wie der Schlangentanz eines Papierdrachens, und die Spuren von Aufkommen und Untergang von Glaubensüberzeugungen verlieren sich wie Staub im Wind.«


verträgt sich nicht wirklich mit der Annahme einer religiösen Grundorientierung.

Andererseits wurden nach Buddhas Tod viele, viele Elemente integriert, welche die Lücke zu einer Religion zuschließen vermochten. Die Bodisattwas wurden schon genannt, manche Details der Legenden um Buddhas Geburt ähneln fatal denen von Jesus Geburt, und selbst Buddhas Mutter war laut Legende noch Jungfrau, als sie ihn gebar ... Die Verweigerung des Nirvana macht sogar eine Art Wiederkunftserwartung möglich uvm. So gesehen ist es ebenso richtig, Buddhismus als Religion aufzufassen. Es wäre nicht die einzige, die sich entgegen den Intentionen ihres Gründers entwickelt hätte.


Der folgende Text stammt von mir, er erhebt keinen Anspruch, den offiziellen Darlegungen buddhistischer Philosophie gewachsen zu sein, mag aber dem einen oder anderen doch hilfreich sein.

Der gesamte Buddhismus basiert aufgrund seiner Abstammung vom Hinduismus auf einer Voraussetzung, die in ihrer Wichtigkeit gar nicht überbetont werden kann: Menschen sind unsterblich. Leben ist nicht begrenzt durch Geburt und biologischen Tod, beide gliedern lediglich das Leben durch die Äonen der Ewigkeit hindurch.

Nun nimmt diese im Hinduismus durchaus mit einem evolutionären Aspekt versehene Auffassung - Reinkarnatonen als Weg allen Lebens, sich seiner ursprünglichen Gottgleichheit zu besinnen und zu erinnern - im Buddhismus eine äußerst düstere, beinahe angsteinflößende Färbung an. Das Leben wiederholt sich in endlosen Zyklen des Leides. Menschen werden geboren, sammeln je nach ihren Taten Karma an, leiden mal stärker, leiden mal weniger stark, sterben, durchlaufen die Zwischenwelt (deren Ausmalung in den einzelnen buddhistischen Schulen sehr unterschiedlich intensiv ausfällt, aber immer schmerzerfüllt ausfällt), werden wieder geboren, sammeln je nach ihren Taten Karma an, leiden mal stärker, leiden mal weniger stark, sterben, durchlaufen ... usw.

Äonen des Leides in einem unauflösbaren endlosen Kreislauf, der reiner sinnentleerter Selbstzweck ist. Eine Leid-um-des-Leides-willen-Erschaffungsmaschine sozusagen.

DAS ist die Fundamentalvoraussetzung des buddhistischen Weltbildes, und nur vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung macht Zen und machen die Koans Sinn.

Die grandiose Lösung und Erlösung, die Buddha gefunden hat, lautet nämlich: das Wesen dieses Kreislaufs ist Leere, ist das vollkommene - sozusagen digitale :-) - Nichts. Sobald ein Mensch dies erkennt, durchbricht er den Kreislauf und geht ins Nirvana ein, die vollkommene, endgültige Auflösung (deren Erlösungscharakter westliche Menschen vielleicht nur schwer erfassen, da sie - mit der westlichen Todesauffassung ausgestattet - die Äonen sinnloser Wiedergeburten nicht wirklich fürchten können, sondern eher die Unsterblichkeit daran schätzen).

Buddhas Lösung ist auch kein Äquivalent zur hinduistischen Maya-These, denn Maya - der Schleier - ist die Welt der Erscheinungen, die im Hinduismus als illusionär gilt. Brahman hingegen ist nicht illusionär, und damit auch nicht die vielen Erscheinungsformen als Gottheiten.

Buddha leugnet überhaupt nicht die Existenz dieser Gottheiten, aber er weist ihnen wie der restlichen Existenz die Leere, das Nichts als innerstes Wesen zu, oder anders gesagt, die Bedeutungslosigkeit. Es gibt eine berühmte, vielübergangene Stelle im Pali-Kanon, aus der diese ursprüngliche Auffassung Buddhas sehr deutlich hervorgeht:

Zitat:
»Ich erachte die Ansichten der Könige und Führer der Menschen gleich solchen von Staubmotten.
Schätze aus Gold und Edelsteinen gelten mir gleich Ziegeln und Kieselsteinen, und feinste Seidenkleider sind mir nichts anderes als Bettlerlumpen.
Ich sehe Myriaden von Welten im Universum wie kleine Fruchtsamen; und der größte See Indiens paßt als Öltropfen auf die Spitze meines Schuhs.
Die Weisheitslehren der Welt: armselige illusionäre Spielchen mittelmäßiger Magier.
Die höchsten Konzeptionen von Emanzipation entlarve ich als goldenglänzende Schlieren in einem Traum und den heiligen Weg der Erleuchteten als das Spiegelbild von Blumen in einem Auge.
Meditation: ein paar Steine auf einem Berg, und Nirvana: ein Nachtgespenst am lichten Tage.
Die Kategorien 'wahr' und 'falsch' kommen mir vor wie der Schlangentanz eines Papierdrachens, und die Spuren von Aufkommen und Untergang von Glaubensüberzeugungen verlieren sich wie Staub im Wind.«


Daraus ergeben sich sehr viele Konsequenzen. Die wichtigste für das Thema "Koan" ist der Wegfall der Dualismen. Gut - böse, Licht - Schatten, hell - dunkel, positiv - negativ, Sein - Nichtsein, Leere - Fülle uvm. Schlangentänze eines Papierdrachen.

Jedoch - sie werden uns mediiert. Und abverlangt. Wir können in unseren Gesellschaften nicht einfach so die Dualismen hinter uns lassen; durch Erziehung und sonstige soziale Prägung sind sie uns in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist Auffassung der meisten eher praktisch orientierten Spielarten des Buddhismus - z.B. des Zen - daß diese Prägungen durchschaubar gemacht werden müssen, damit wir die Freiheit darüber gewinnen, wann wir uns ihrer bedienen und wann wir uns ihrer entziehen wollen - und beides auch praktisch vermögen.

Ein großer Teil der Ausbildung des Zen beschäftigt sich daher damit, diese Prägungen ad absurdum zu führen. Mittel hierfür sind u.a. die Koans. Jedes Koan thematisiert also eine Prägung oder die Möglichkeit einer Prägung. Jedes Koan versucht, den Schüler oder die Schülerin aufs Glatteis zu führen, indem es mit deren Prägungen spielt. Manche Prägungen sind offensichtlich und die entsprechenden Koans können relativ einfach durchschaut werden. Andere Koans, z.B. wie das Zypressen-Koan, gehen auf´s Ganze - die darin thematisierten Prägungen sind umfassend und zielen nicht nur auf Teilaspekte ab.

Aber immer liegt einem Koan ein Dualismus zugrunde, und diese Dualismen liegen immer im blinden Fleck der Psyche. Die Lösung eines Koans ist dementsprechend jener Aha-Affekt, der voller Erstaunen plötzlich bemerkt: "Du meine Güte, stimmt ja. Wie konnte ich diese Denkweise nur die ganze Zeit übersehen und trotzdem in mir pflegen?"

janw
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Do 15. Mär 2007, 22:56 - Beitrag #9

Gut, aber ist die Annahme des Lebens, der einzigen uns zugänglichen Form des Seins - wir können ja nicht wissen, wie es "ist", nicht zu sein, geschweige denn nicht zu leben - als a priori grundlegend leiderfüllter Zustand nicht eine Glaubensannahme, ist dabei die Zuweisung als Leidvoller Zustand nicht zugleich eine Wertung, welche der sonstigen Tendenz zur Relativierung von Wertungen zuwiderläuft?

Ich frage dies deshalb, weil ich merke, wie schwer es mir fällt, mich mit dieser Auffassung "anzufreunden", vielleicht teilweise deswegen, weil mein Leben, naja, bei allen Höhen und Tiefen doch irgendwie nicht so schlecht ist, daß ich es als permanentes Leiden beschreiben würde.

Oder ist vielleicht der Leidensbegriff des Buddhismus ein anderer als unser westlicher?
Ist vielleicht gar die Leidensauffassung etwas, womit man gewissermaßen von früh an "imprägniert" werden muss, sei es als tradierte Glaubensauffassung oder durch zutiefst leidvolle Erfahrung?

Ipsissimus
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Fr 16. Mär 2007, 12:03 - Beitrag #10

der Leidensbegriff im Buddhismus ist wohl kein wesentlich anderer als bei uns; in ganz anderer Weise verankert ist jedoch das Konzept des Samsara, des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen, auch im individuellen Sein. Im Samsara wird jeglicher Sinn zermürbt, weil dieser Kreislauf der reine Selbstzweck ist. Darüber hinaus stell dir mal irgendwas vor, was du wirklich fürchten kannst - irgendwann schon in den ersten 500 Trilliarden Wiederholungen werden alle deine schlimmsten Albträume dabei sein. Und sie werden sich wiederholungen, immer wieder; natürlich nie exakt 1 zu 1, aber doch in analoger Unerfreulichkeit und Qual. Immer wieder den Tod der Geliebten, der Freunde, der Kinder, die Schmerzen von Unfällen, Folter, Bösartigkeiten, Verrat, Betrug, Vertrauensbruch, Kummer, Schulden nicht bezahlen können, Sklavendasein und so weiter und so weiter. Immer und immer wieder. OHNE ENDE. Ohne Sinn.

Das ist ja das Geniale am Buddhismus, daß er aus dieser ausweglosen Falle einen Ausweg aufzeigt. Diesen kann aber wahrscheinlich nur würdigen, wer über diese Grundprämisse des Buddhismus nicht mehr lachen kann.

henryN
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Fr 16. Mär 2007, 19:10 - Beitrag #11

Habe ich nicht so intensiv damit beschäftigt, hatte nur mal verucht die Auflösung des "Dualismus" mir vorzustellen, bzw. als strukturierende Idee in meine "Neuronennetzwerke" einzuflechten.
Leiden und Angst, waren sofort völlig fremde Gefühle und ich hatte gar keine Vorstellung mehr davon, bzw. stellte sich keine Emotion mehr diesbezüglich ein. Ich hatte die Idee, dass alles Leid eigentlich nur Ausdruck eines scheinbaren "Selbst" ist, des "egoistischen" in besitznehmenden "Selbst", und auch genau jenes Potential oder Zugang für "Macht" von außen, bzw. Grund für das Ausüben von "Macht" und Aggression.....
Gleichzeitig behindert "Leid" als strukturierendes Element der Verknüpfungen im Gehirn, Erkenntnis, Einlassen, Zulassen, Kreativität.....
Irgendwie erkenne ich das alles in den buddhistischen Methoden wieder, aber glaube auch dass es auch quasi "wissenschaftliche" "psychologische" Beschreibungsmethoden geben müßte. Ich glaube auch, daß hierin eine Möglichkeit der Verschmelzung der "sozialen Wissenschaften" besteht. Ähnlich dem Versuch der Stringtheorie in der Physik.....
...ist aber alles noch so neu für mich.... war ein wochenlanges Dauerkribbeln im Hirn, das muss alles erst noch sortiert werden, fange quasi fast von vorn an....

@janw
Grund des ganzen ist eigentlich auch meine Erfahrung, daß mich ein Erfolg in beruflicher Hinsicht oder alltägliches Lebensglück immer irgendwann unberührt ließ. Etwas blieb immer unerfüllt, unberührt......Als wenn das Denken oder die Freiheitsgrade dessen mit dem Alter nachlassen könnten. Hab dann immer gedacht, na da kann ich ja dann immer noch einfach segeln gehn, nichts tun und dennoch unterwegs....
Man kann sich gut einrichten im Leben, aber was verpasst man nicht alles, wenn man einfach vor die Tür treten kann, und das Leben sieht, als wäre es eine beständige Neubegegnung... :-) intensivste Wahrnehmung, als hätte man nur noch wenige Sekunden zu leben...... irgendwie, wie die letzten 20min von "2001" (Kubrick)

mE ist es nicht mal Philosophie, da es eine Umstrukturierung des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns bedeuten kann! Somit umfassend.
Sogar in den Alltag Integrations- und Anschlußfähig. Und ganz wichtig: keine Antwort, sondern nur eine Art des Sehens........:-)

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Sa 17. Mär 2007, 18:51 - Beitrag #12

Also ich meine, dass das Ziel des Buddhismus nicht unbedingt es ist, Gefühle wie "Leiden" oder "Hass" zu unterdrücken, sondern vielmehr nach und nach herunter zu regeln.
Sei es nun mittels Meditation oder mittels Mantren, die man als Buddhist so sagt.
Das "Selbst" sollte vor allem erkannt werden und damit ein gesundes Selbstbewusstsein gefördert werden. Leiden "blockiert" in der Tat die anderen Gefühle. Und vielleicht löst der Buddhismus diese neuen Gefühle durch eine langsame "Gefühlskontrolle"; nicht "-neutralisierung" wieder aus und hält sie dann in einer Art "Waage" fest.

Aber mit "Stringmethoden" vergleiche ich das Wesen des Buddhismuses, der für mich eher "Lebensanschauung" als "Religion" ist, gar nicht. Meditieren ist nicht mit einem Gebet vergleichbar und kann auch ohne "Priester" durch geführt werden.

janw
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So 18. Mär 2007, 00:57 - Beitrag #13

Ipsi, letztlich basiert der Buddhismus ja, wie du auch mal geschrieben hast, auf der hinduistischen Konzeption des samsara und des Seins als leidvoller Zustand - mir scheint, daß hier im Katholizismus eine analoge Beziehung besteht, indem die katholische "Erbsünde" letztlich die Perpetuierung der jüdischen Erbsünde von Adam und Eva darstellt. Wenn mensch eher liberal protestantisch aufgewachsen ist mit der Vorstellung Gottes als eher freundliche Gestalt, dann ist der Zugang zu der Falle, zu welcher der Buddhismus in der Tat einen genialen Ausweg aufzeigt, nicht so einfach. "No woman, no cry" macht nur Sinn, wenn "woman = cry" ins Bewusstsein eingebrannt ist^^
Ich frag mich irgendwie immer, warum die positiven Aspekte, die Freuden, so gering geschätzt werden.
Aber andererseits scheint es ja so zu sein, daß negative Empfindungen neuronal stärker verschaltet werden und daß diese Verknüpfungen auch länger bestehen bleiben, als jene zu positiven emotionalen Empfindungen. Insofern könnte mensch den Buddhismus als die menschengemäßeste Philosophie ansehen...oder?

Henry, ich habe durchaus das Gefühl, daß die buddhistische, insb. zen-buddhistische Einsicht in die Relativität von Werturteilen und die Wirkmächtigkeit von Intentionalität eine ziemlich radikal neue Sicht in allen Geisteswissenschaften ergeben könnte.

avenga, bei MRT-Untersuchungen kann man erkennen, daß beim beten wie auch beim meditieren dieselben Hirnareale aktiv sind. Im übrigen eine spannende Entdeckung, daß uns Menschen auf transzendentale Erlebnisse zielende Handlungen quasi ins Hirn gelegt sind.
Davon ab, man kann auch ohne Pastor beten^^

henryN
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So 18. Mär 2007, 12:19 - Beitrag #14

Zitat von janw:Henry, ich habe durchaus das Gefühl, daß die buddhistische, insb. zen-buddhistische Einsicht in die Relativität von Werturteilen und die Wirkmächtigkeit von Intentionalität eine ziemlich radikal neue Sicht in allen Geisteswissenschaften ergeben könnte.


Die "Intuition" "sagte" mir dies auch in den Anfängen meiner Studienjahre. Müßte man eigentlich doch nur noch die Begrifflichkeiten und Kommunikationsprinzipien der "sozialen Wissenschaften" einflechten?
Ich glaube aber, daß es hierfür zunächst notwendig ist, die "Neurologie" und "Psychologie" des Buddhismus genauer zu beschreiben. und am besten so, daß es dieses Wort nicht mal benötigt. Das würde bedeuten, das "Unbewußte" und die Psychoanalyse "in die gelbe Tonne zu werfen".
Eine buddhistische Weltsicht ist auch nicht dazu da, glücklicher zu werden.
Man ist einfach nur besser in "Verbindung", somit "erkenntnisfähiger". Und es ist ja nicht mal eine bestimmte Weltsicht... ;) Es gibt sicher auch andere Methoden, die "Dualismen" aufzulösen, und das Bewußtsein in neue komplexe Formen zu überführen....

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Mi 21. Mär 2007, 17:07 - Beitrag #15

Das stimmt. Das Ziel des Buddhismusses ist es zwar am Ende sein Heil im "Nirvana" zu finden, aber nicht, dass die Menschen glücklich sind.
Man kann auch traurig und nachdenklich durch den Buddhismus "gehen". Nur das Unterbewusstsein muss halt so aktiviert sein, dass man seinen Weg problemlos gehen kann und nicht auf der Strecke bleibt. (Keine Ahnung. Ich bin kein Buddhist.)

Ipsissimus
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Mo 2. Apr 2007, 11:17 - Beitrag #16

Ipsi, letztlich basiert der Buddhismus ja, wie du auch mal geschrieben hast, auf der hinduistischen Konzeption des samsara und des Seins als leidvoller Zustand - mir scheint, daß hier im Katholizismus eine analoge Beziehung besteht, indem die katholische "Erbsünde" letztlich die Perpetuierung der jüdischen Erbsünde von Adam und Eva darstellt. Wenn mensch eher liberal protestantisch aufgewachsen ist mit der Vorstellung Gottes als eher freundliche Gestalt, dann ist der Zugang zu der Falle, zu welcher der Buddhismus in der Tat einen genialen Ausweg aufzeigt, nicht so einfach. "No woman, no cry" macht nur Sinn, wenn "woman = cry" ins Bewusstsein eingebrannt ist^^


Janw, im Buddhismus ist die hinduistische "evolutionäre" Konzeption des Samsara umgedeutet zu einem reinen Selbstzweck; im "buddhistischen" Samsara passiert nichts, was auch nur für 5 Pfennig über sich selbst hinausweist, inklusive aller Freuden und allen Leides.

Hinischtlich der "jüdischen Erbsünde" steht zu bedenken, daß die jüdische Religion bis zum Ende der Richterzeit praktisch frei von paradiesischen Jenseitsvorstellungen war, ein toter Mensch war ein "ganz toter" Mensch im Sinne des griechischen Hades - entkleidet aller Empfindungsfähigkeit, aller Erinnerung bar, aber eben auch allen Leides. Mensch tot, alles gut. Erst mit der babylonischen Gefangenchaft hielten in bescheidenem Umfang bildhafte "positive" Jenseitserwartungen Einzug in die jüdische Religion, blieben aber sekundär gegenüber den "politischen" Messiaserwartungen, wie auch insgesamt der Glaube in der jüdischen Religion keinen zentralen Stellenwert innehat, sondern ebenso wie andere Bereiche des Lebens der Lehre untergeordnet wird und hier insbesondere den 613 Mitzwot (den Geboten und Verboten der Thora). Die jüdischen Gelehrten sind sich bis heute noch nicht mal drüber einig geworden, ob ihr Gott ein theistischer oder ein deistischer sein soll^^

die "katholische Erbsünde" muss daher im Prinzip als eine Neukonstruktion aufgefasst werden, die sich zwar der alten Geschichte bedient, diese aber mit Vorstellungen füllt, welche so nicht in der Geschichte angelegt waren. Das ist hinsichtlich hinduistischer und buddhistischer Samsaravorstellung bei weitem nicht so ausgeprägt.

der "freundliche" Gott der Protestanten wird imo damit erkauift, daß originäre religiöse Vorstellungen des Christentums zunehmend weniger ernst genommen werden. Der Protestantismus hat wesentlich stärker als der Katholizismus Elemente der Aufklärung assimiliert, in einem Ausmaß, daß das Religiöse nur noch Beiwerk ist.

"Protestantismus = Aufklärung + Erlösung durch Jesus" - das scheint mir durchaus eine bedenkenswerte Definition zu sein, zumindest für die Amtskirchen. Entsprechend stark ist ja auch die Gegenbewegung dazu in den Freikirchen, die ich allerdings mittlerweile nicht mehr als Protestantismus charakterisieren mag, sondern als etwas anderes, einen Rückzug auf alte Positionen.

Ich frag mich irgendwie immer, warum die positiven Aspekte, die Freuden, so gering geschätzt werden.
Aber andererseits scheint es ja so zu sein, daß negative Empfindungen neuronal stärker verschaltet werden und daß diese Verknüpfungen auch länger bestehen bleiben, als jene zu positiven emotionalen Empfindungen. Insofern könnte mensch den Buddhismus als die menschengemäßeste Philosophie ansehen...oder?


eine Qual vermag 1000 Freuden gegenstandslos zu machen, eine Freude aber nicht 1000 Qualen. Nimm den bittersüßen Selbstbetrug von Krebskranken - ja, das Leben wird intensiver durch den Krebs, ja, die Dinge werden deutlicher wahrgenommen - aber durch alle Versunkenheit beim Betrachten einer Blume bricht der Krebs, der Schmerz und erzwingt die Verkrümmung. Nimm einen Menschen, der WIRKLICH gebrochen wird, der der Folter anheim gegeben ist - wielange ist der Gedanke an einen freudevollen Augenblick mit seinen Liebsten geeignet, den Schmerz der Stromstöße, das abgehackte Genital, das ausgestochene Auge auszugleichen. Nimm alltäglicheres - einen Menschen voll Liebeskummer. Wie gegenstandslos ist die Sonne, der Vogel, der Baum, die alle gestern noch so strahlend bedeutungsgeladen waren?

Ich schätze die Freuden nicht gering, janw. Aber sie sind so verflucht fragil, der Vergänglichkeit anheim gegeben. Die Qual bleibt bei dir.


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