Die Chaostheorie

Hier je ein Artikel als Anstoss zum Thema Chaostheorie von Bruce Sterling und Harlan Ellison
Heraus mit einem Bangs, herein mit einem Fogg von Bruce Sterling
Ich bin Science-Fiction-Autor, obgleich die erfolgreichste Geschichte, die ich geschrieben habe, nicht viel "Science" in der Handlung hat. Es geht um einen toten Rockmusik-Kritiker.
In seinem echten Leben starb dieser Rockmusik-Kritiker, Lester Bangs, an der Grippe und an einer Überdosis Darvon.
Weil ich aber einfallsreiche Fantasiegeschichten schreibe, entschloss ich mich, Lester ein anderes und alternatives Leben zu geben. Statt also so zu sterben wie er es wirklich tat, kommt Lester beinahe unter die Räder eines rücksichtslosen New Yorker Taxifahrers.
"Die Menschen wollen spüren, dass großartige, schaurige Mächte in ihrem eigenen Leben walten."
Schockiert durch dieses unerwartete Missgeschick kauft Lester sich ein Flugticket, kommt irgendwann in San Francisco an, findet die Liebe seines Lebens, heiratet, zieht nach Kansas, gibt sein wildes und ungezügeltes Leben auf und stirbt viel später, in seinen Sechzigern, beim Schneeschippen.
Um es anders auszudrücken, zeige ich, wie ein Menschenleben durch das zufällige Ausreißen eines Rades einen völlig neuen Weg einschlägt. Die neue Straßenkarte von Lesters Leben macht genauso viel Sinn wie Lesters relativ sinnloser Tod - vielleicht sogar mehr Sinn, wenn man es richtig bedenkt.
Diese Story von mir wurde viel öfter, und an merkwürdigeren Stellen, nachgedruckt als irgendeines meiner anderen Werke. Vielleicht deshalb, weil viele Leute wilde Typen wie Lester Bangs bewundern.
Ich bin geneigt zu glauben, es läge daran, dass die Leute wirklich an Metaphysik interessiert sind. Sie mögen Geschichten über das Schicksal und die Vorherbestimmung, über Ego und Selbstbestimmung und moralische Verantwortung und den über Allem schwebenden Willen.
Den Leuten gefällt dieses Zeug irgendwie. Sie wollen spüren, dass großartige, schaurige Mächte in ihrem eigenen Leben walten. Sie können gar nicht anders als glauben, der wirre Mischmasch von Ereignissen, der ihre Tage durchzieht, müsse auf, sagen wir mal, so etwas wie einer guten Story basieren. Etwas Dramatisches und Bedeutungsvolles.
Es ist sowohl beunruhigend als auch befreiend, zu erkennen, dass die Freiheit den freien Willen überhaupt nicht voraussetzt. Selbst Phänomene, die so ungezielt und zufällig erscheinen wie Blitz, Wind und Regen, sind, wie Physiker sagen, "abhängig von Anfangsbedingungen." Deterministisches Chaos. Butterfly Effect.
Also kann das winzige, schicksalsverändernde Niesen eines Schmetterlings einen Sturm der Kategorie Fünf in der Karibik verursachen, der dann die Hochspannungsmasten in Pensacola in Florida umknickt. Und das alles nur wegen einer Laune des Zufalls.
Ebenso könnte eine Hornisse einen Hurrikan verursachen, oder auch eine Stubenfliege. Wir nennen es den Schmetterlingseffekt, weil der Schmetterling so hübsch ist. Deterministisches Chaos ist eine glitzernde und graziöse Vorstellung. Wie die Chinesen sagen: "Der Schmetterling ist nie in Eile, auch dann nicht, wenn er verfolgt wird."
"Es ist sowohl beunruhigend als auch befreiend, zu erkennen, dass die Freiheit den freien Willen überhaupt nicht voraussetzt."
Gibt es ein angemesseneres Symbol für das existenzielle Mysterium des Lebens, wo Sinn und Entschluss und Absicht sich an den Grenzen des Zufalls auflösen? Es erscheint sinnlos und ist doch voller Lebenskraft.
Durch eine Art von "Schmetterlingszufall" schrieb ich vor Kurzem ein Vorwort zu Jules Vernes Klassiker "In 80 Tagen um die Welt", der in den 1880er Jahren erschien.
Da haben wir Phileas Fogg, diesen ultra-rationalen Robotermenschen aus Isaac Newtons Uhrwerk-Universum. Cool, vorhersehbar, unerschütterlich. Nicht gerade die Art von Mensch, der sich Gedanken um Schmetterlinge macht, wie es scheint.
Und doch geht Phileas Fogg aufgrund einer zufälligen Bemerkung bei einem Kartenspiel eine sinnlose Wette ein und stürmt dann los wie eine Fledermaus direkt aus der Hölle. Und nach nur wenigen Stunden ist Fogg schon dabei, wütende Ureinwohner zu bekämpfen und Elefanten zu klauen.
Es ist unvorstellbar, dass Fogg jemals locker lässt und in seinen alten Trott zurückfällt. Die Spannung im Buch nimmt ständig zu, während Fogg auch die letzte Illusion von Stabilität im Leben des Menschen zunichte macht.
Je merkwürdiger er wird, umso unwahrscheinlicher erscheint es, dass er aufhören wird. Es ist, als wäre er an eine unerschöpfliche Quelle stürmischer Energie angeschlossen worden, die kein rationaler Willensakt jemals in seiner Seele hätte freisetzen können.
Wie Thoreau einmal sagte, wird oft der unauffälligste Mensch aus der Verzweiflung heraus stark. Wir wissen nie genau, was in uns steckt, bevor nicht der Blitz eingeschlagen hat. Ob Mann, Frau oder Kind, wir alle sind grundsätzlich zufallsbedingte Geschöpfe.
Von unserer Natur her sind wir die Erben einer genetischen Lotterie... ein weibliches Ei in der fruchtbaren, beweglichen menschlichen Suppe mit Millionen von Möglichkeiten. Nichts ist so unwahrscheinlich wie der Leib, den wir bewohnen, und wir alle sind mysteriöse Geschöpfe in unserer eigenen Seele.
Bruce Sterling ist einer der ersten Cyberpunk-Autoren. Einige seiner Romane sind Holy Fire, Distraction und Zeitgeist. Seine Kurzgeschichten und Artikel sind unter anderem in Time, Newsweek, The Wall Street Journal und in The New York Times erschienen . Er schreibt regelmäßig eine Kolumne für Wired. Im Fernsehen hatte er Auftritte bei ABC's Nightline, BBC's The Late Show und auf MTV.
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Der Kapitän des Schicksals von Harlan Ellison
Eigentlich ist es nur eine ganze Wagenladung voll unverständlicher Terminologie. Mandelbrot-Sets. Lineare und Nicht-lineare Systeme. Der abgedroschene und ermüdende "Schmetterlingseffekt", den jeder benutzt, der informiert erscheinen möchte. Fraktale. Einfache Attraktoren. Komplizierte Attraktoren. Iteratives Wachstum und Erosion. Selbstähnlichkeit. Die "Koch-Kurve" (dasselbe wie Fraktal). Zufallsverhalten in anscheinend normalen Mustern. Die Art und Weise, in der Rauch verfliegt; der Weg, den die Milch in einer Tasse Kaffee nimmt; ein einsamer Spaziergänger an einer Weggabelung. Chaostheorie.
Nichts von diesem Kauderwelsch hilft dir weiter. Aber...
"Den Zufall gibt es nicht, nur Muster, die wir nicht verstehen."
Mit Hilfe des Konzepts der Chaostheorie und ihrer universellen Anwendung auf fehlerhafte, irrende, überwiegend lächerliche menschliche Wesen - hier geht's um dich und mich, mein Lieber - kann ich Das Große Geheimnis für dich in ein System bringen. Ich kann dir sagen, wie du Reichtum, Ruhm und wahre Liebe findest, Unfälle vermeidest und die Früchte des Beliebtseins erntest, wie du deine Zukunft sicherst, und, um es kurz zu sagen, wie du das Leben zu einem süßen Lied für dich machen kannst. Pass auf.
"Der Zufall begünstigt denjenigen, der gewappnet ist." - Louis Pasteur
Ich werde mit einer Anekdote beginnen. Sie hat noch niemals versagt, kein einziges Mal; bei keiner Vorlesung, die ich gehalten habe, ob bei der "Yale Political Union", am MIT oder der London School of Economics, am Caltech oder am "Estrella Mountain Community College" - in Hunderten und Aberhunderten von Vorlesungen in über 50 Jahren - hat sie jemals versagt: Irgend jemand kommt zu mir und fragt mich nach DEM GEHEIMNIS.
So wie Willy Loman im "Tod eines Handlungsreisenden" von dem ihm erscheinenden Geist seines Bruder Ben verlangt: "Was ist das Geheimnis? Was ist es, Ben! Sag' mir, wie ich erfolgreich sein kann! Was ist es, Ben?!" Und der Geist sagt etwas völlig Nutzloses wie "Sei beliebt, Willy" oder "Ich ging in den Dschungel und bahnte mir den Weg zu einem Weltreich aus dem großen Nichts... es sind Diamanten, Willy!"
Das ist es, was sie wissen wollen. Das GEHEIMNIS. Als ob wir, die wir etwas aus unserem Leben gemacht haben, nachts um Punkt zwölf mit einer Ziegenledertasche voll von Gorillaknochen auf den Dachboden klettern und die Runen zeichnen würden, um dann im nebligen Licht des frühen Morgens mit dem gelösten GEHEIMNIS wieder herunterzukommen.
All das ist genauso nutzlos wie die Chaostheorie-Terminologie.
Aber auf die Chaostheorie selbst trifft das nicht zu. Weil nämlich, wie schon Pasteur sagte, der Zufall denjenigen begünstigt, der gewappnet ist. Wenn mich also ein Student oder ein Geschäftsmann fragt - auf die eine oder die andere Weise - "Was ist das GEHEIMNIS?", sage ich ihm oder ihr: "Lesen Sie die Sherlock Holmes-Geschichten. Die ganze Conan Doyle-Reihe." Weil alle Geschichten nämlich auf dem Konzept der Logik aufgebaut sind, auf dem logischen Denken als Waffe und als Werkzeug, mit dem wir unsere eigene Existenz kontrollieren können.
Je mehr du weißt, je klarer du alle Aspekte des Problems im Auge hast, umso wahrscheinlicher ist es, dass du nicht in ungute Situationen mit deinem Partner gerätst, dich nicht auf unlogische und unrealistische Geschäftspläne einlässt und dass du es niemals mit schrägen Typen zu tun bekommst, die nur deine Zeit verschwenden und dafür sorgen, dass du versumpfst.
"Ich kann dir sagen, wie du Reichtum, Ruhm und wahre Liebe findest, Unfälle vermeidest und deine Zukunft sicherst."
Wenn du erstmal verstanden hast, dass der Zufall nicht existiert, dass es nur Muster gibt, die wir nicht verstehen, dann wirst du aufhören, an falsche Religionen zu glauben, an Astrologie, fliegende Untertassen, Helden und Dämonen, Gut und Böse (was wir "das Böse" nennen, ist meistens bloß Unfähigkeit), an Geister, an die Unfehlbarkeit von Politikern und an all die anderen, irrsinnigen Ablenkungen vom klaren Denken.
Den Zufall gibt es nicht. Das Chaos gibt es. Und das Chaos ist falsch verstandene Entropie. Der Lauf der Welt wird nicht durch eine geheime Verschwörung gelenkt, sondern von Leuten, die die Systeme, in denen sie handeln, nicht verstehen; und die deshalb versuchen, die Systeme ihren eigenen Zwecken anzupassen.
Aber das Chaos wird sich durchsetzen. Diese Flüsse werden ihren wahren Lauf finden, egal wie viele Dämme der Heuchelei, der Gier, des Hasses und der Manie auf ihrem Weg errichtet werden. Der Zufall begünstigt diejenigen, die gewappnet sind. Das Chaos wirkt zu deinem Vorteil. Versuche, soviel zu wissen wie möglich. Versuche zu verstehen und dich zu erinnern.
Das Leben hält nur eine große Lektion bereit. Es sagt zu dir PASS AUF! Ob im Chaos oder in der Entropie, je mehr du weißt, je schlauer und je besser informiert du bist... umso leichter wird es für dich sein, auf dem Wellenkamm des Chaos' zu reiten, das GEHEIMNIS zu erreichen.
Du bist herzlich eingeladen. Und du musstest dich nicht einmal für ein Seminar einschreiben. Das Chaos ist ein Straßenräuber, wild und frei.
Chaos, das ist, wenn ein Mann voranschreitet, seine Seele aber zurückbleibt.
Der Autor und Preisträger, Journalist und Drehbuchautor Harlan Ellison ® hat 75 Romane und 1.700 Kurzgeschichten, Essays und Artikel geschrieben oder herausgegeben. Einige Titel seiner Bücher lauten Deathbird Stories, Slippage, Mind Fields und The Essential Ellison, ein Rückblick auf 50 Jahre. Fürs Fernsehen schrieb er unter anderem für Star Trek und The Twilight Zone , und er ist das einzige Mitglied der Writers Guild of America , das viermal den Preis für Most Outstanding Teleplay for solo work erhielt. Ihm wurde auch der Silver Pen for Journalism vom P.E.N. verliehen.
Copyright © 2003 by The Kilimanjaro Corporation. Harlan Ellison ® ist ein eigetragenens Warenzeichen der Kilimanjaro Corporation
Heraus mit einem Bangs, herein mit einem Fogg von Bruce Sterling
Ich bin Science-Fiction-Autor, obgleich die erfolgreichste Geschichte, die ich geschrieben habe, nicht viel "Science" in der Handlung hat. Es geht um einen toten Rockmusik-Kritiker.
In seinem echten Leben starb dieser Rockmusik-Kritiker, Lester Bangs, an der Grippe und an einer Überdosis Darvon.
Weil ich aber einfallsreiche Fantasiegeschichten schreibe, entschloss ich mich, Lester ein anderes und alternatives Leben zu geben. Statt also so zu sterben wie er es wirklich tat, kommt Lester beinahe unter die Räder eines rücksichtslosen New Yorker Taxifahrers.
"Die Menschen wollen spüren, dass großartige, schaurige Mächte in ihrem eigenen Leben walten."
Schockiert durch dieses unerwartete Missgeschick kauft Lester sich ein Flugticket, kommt irgendwann in San Francisco an, findet die Liebe seines Lebens, heiratet, zieht nach Kansas, gibt sein wildes und ungezügeltes Leben auf und stirbt viel später, in seinen Sechzigern, beim Schneeschippen.
Um es anders auszudrücken, zeige ich, wie ein Menschenleben durch das zufällige Ausreißen eines Rades einen völlig neuen Weg einschlägt. Die neue Straßenkarte von Lesters Leben macht genauso viel Sinn wie Lesters relativ sinnloser Tod - vielleicht sogar mehr Sinn, wenn man es richtig bedenkt.
Diese Story von mir wurde viel öfter, und an merkwürdigeren Stellen, nachgedruckt als irgendeines meiner anderen Werke. Vielleicht deshalb, weil viele Leute wilde Typen wie Lester Bangs bewundern.
Ich bin geneigt zu glauben, es läge daran, dass die Leute wirklich an Metaphysik interessiert sind. Sie mögen Geschichten über das Schicksal und die Vorherbestimmung, über Ego und Selbstbestimmung und moralische Verantwortung und den über Allem schwebenden Willen.
Den Leuten gefällt dieses Zeug irgendwie. Sie wollen spüren, dass großartige, schaurige Mächte in ihrem eigenen Leben walten. Sie können gar nicht anders als glauben, der wirre Mischmasch von Ereignissen, der ihre Tage durchzieht, müsse auf, sagen wir mal, so etwas wie einer guten Story basieren. Etwas Dramatisches und Bedeutungsvolles.
Es ist sowohl beunruhigend als auch befreiend, zu erkennen, dass die Freiheit den freien Willen überhaupt nicht voraussetzt. Selbst Phänomene, die so ungezielt und zufällig erscheinen wie Blitz, Wind und Regen, sind, wie Physiker sagen, "abhängig von Anfangsbedingungen." Deterministisches Chaos. Butterfly Effect.
Also kann das winzige, schicksalsverändernde Niesen eines Schmetterlings einen Sturm der Kategorie Fünf in der Karibik verursachen, der dann die Hochspannungsmasten in Pensacola in Florida umknickt. Und das alles nur wegen einer Laune des Zufalls.
Ebenso könnte eine Hornisse einen Hurrikan verursachen, oder auch eine Stubenfliege. Wir nennen es den Schmetterlingseffekt, weil der Schmetterling so hübsch ist. Deterministisches Chaos ist eine glitzernde und graziöse Vorstellung. Wie die Chinesen sagen: "Der Schmetterling ist nie in Eile, auch dann nicht, wenn er verfolgt wird."
"Es ist sowohl beunruhigend als auch befreiend, zu erkennen, dass die Freiheit den freien Willen überhaupt nicht voraussetzt."
Gibt es ein angemesseneres Symbol für das existenzielle Mysterium des Lebens, wo Sinn und Entschluss und Absicht sich an den Grenzen des Zufalls auflösen? Es erscheint sinnlos und ist doch voller Lebenskraft.
Durch eine Art von "Schmetterlingszufall" schrieb ich vor Kurzem ein Vorwort zu Jules Vernes Klassiker "In 80 Tagen um die Welt", der in den 1880er Jahren erschien.
Da haben wir Phileas Fogg, diesen ultra-rationalen Robotermenschen aus Isaac Newtons Uhrwerk-Universum. Cool, vorhersehbar, unerschütterlich. Nicht gerade die Art von Mensch, der sich Gedanken um Schmetterlinge macht, wie es scheint.
Und doch geht Phileas Fogg aufgrund einer zufälligen Bemerkung bei einem Kartenspiel eine sinnlose Wette ein und stürmt dann los wie eine Fledermaus direkt aus der Hölle. Und nach nur wenigen Stunden ist Fogg schon dabei, wütende Ureinwohner zu bekämpfen und Elefanten zu klauen.
Es ist unvorstellbar, dass Fogg jemals locker lässt und in seinen alten Trott zurückfällt. Die Spannung im Buch nimmt ständig zu, während Fogg auch die letzte Illusion von Stabilität im Leben des Menschen zunichte macht.
Je merkwürdiger er wird, umso unwahrscheinlicher erscheint es, dass er aufhören wird. Es ist, als wäre er an eine unerschöpfliche Quelle stürmischer Energie angeschlossen worden, die kein rationaler Willensakt jemals in seiner Seele hätte freisetzen können.
Wie Thoreau einmal sagte, wird oft der unauffälligste Mensch aus der Verzweiflung heraus stark. Wir wissen nie genau, was in uns steckt, bevor nicht der Blitz eingeschlagen hat. Ob Mann, Frau oder Kind, wir alle sind grundsätzlich zufallsbedingte Geschöpfe.
Von unserer Natur her sind wir die Erben einer genetischen Lotterie... ein weibliches Ei in der fruchtbaren, beweglichen menschlichen Suppe mit Millionen von Möglichkeiten. Nichts ist so unwahrscheinlich wie der Leib, den wir bewohnen, und wir alle sind mysteriöse Geschöpfe in unserer eigenen Seele.
Bruce Sterling ist einer der ersten Cyberpunk-Autoren. Einige seiner Romane sind Holy Fire, Distraction und Zeitgeist. Seine Kurzgeschichten und Artikel sind unter anderem in Time, Newsweek, The Wall Street Journal und in The New York Times erschienen . Er schreibt regelmäßig eine Kolumne für Wired. Im Fernsehen hatte er Auftritte bei ABC's Nightline, BBC's The Late Show und auf MTV.
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Der Kapitän des Schicksals von Harlan Ellison
Eigentlich ist es nur eine ganze Wagenladung voll unverständlicher Terminologie. Mandelbrot-Sets. Lineare und Nicht-lineare Systeme. Der abgedroschene und ermüdende "Schmetterlingseffekt", den jeder benutzt, der informiert erscheinen möchte. Fraktale. Einfache Attraktoren. Komplizierte Attraktoren. Iteratives Wachstum und Erosion. Selbstähnlichkeit. Die "Koch-Kurve" (dasselbe wie Fraktal). Zufallsverhalten in anscheinend normalen Mustern. Die Art und Weise, in der Rauch verfliegt; der Weg, den die Milch in einer Tasse Kaffee nimmt; ein einsamer Spaziergänger an einer Weggabelung. Chaostheorie.
Nichts von diesem Kauderwelsch hilft dir weiter. Aber...
"Den Zufall gibt es nicht, nur Muster, die wir nicht verstehen."
Mit Hilfe des Konzepts der Chaostheorie und ihrer universellen Anwendung auf fehlerhafte, irrende, überwiegend lächerliche menschliche Wesen - hier geht's um dich und mich, mein Lieber - kann ich Das Große Geheimnis für dich in ein System bringen. Ich kann dir sagen, wie du Reichtum, Ruhm und wahre Liebe findest, Unfälle vermeidest und die Früchte des Beliebtseins erntest, wie du deine Zukunft sicherst, und, um es kurz zu sagen, wie du das Leben zu einem süßen Lied für dich machen kannst. Pass auf.
"Der Zufall begünstigt denjenigen, der gewappnet ist." - Louis Pasteur
Ich werde mit einer Anekdote beginnen. Sie hat noch niemals versagt, kein einziges Mal; bei keiner Vorlesung, die ich gehalten habe, ob bei der "Yale Political Union", am MIT oder der London School of Economics, am Caltech oder am "Estrella Mountain Community College" - in Hunderten und Aberhunderten von Vorlesungen in über 50 Jahren - hat sie jemals versagt: Irgend jemand kommt zu mir und fragt mich nach DEM GEHEIMNIS.
So wie Willy Loman im "Tod eines Handlungsreisenden" von dem ihm erscheinenden Geist seines Bruder Ben verlangt: "Was ist das Geheimnis? Was ist es, Ben! Sag' mir, wie ich erfolgreich sein kann! Was ist es, Ben?!" Und der Geist sagt etwas völlig Nutzloses wie "Sei beliebt, Willy" oder "Ich ging in den Dschungel und bahnte mir den Weg zu einem Weltreich aus dem großen Nichts... es sind Diamanten, Willy!"
Das ist es, was sie wissen wollen. Das GEHEIMNIS. Als ob wir, die wir etwas aus unserem Leben gemacht haben, nachts um Punkt zwölf mit einer Ziegenledertasche voll von Gorillaknochen auf den Dachboden klettern und die Runen zeichnen würden, um dann im nebligen Licht des frühen Morgens mit dem gelösten GEHEIMNIS wieder herunterzukommen.
All das ist genauso nutzlos wie die Chaostheorie-Terminologie.
Aber auf die Chaostheorie selbst trifft das nicht zu. Weil nämlich, wie schon Pasteur sagte, der Zufall denjenigen begünstigt, der gewappnet ist. Wenn mich also ein Student oder ein Geschäftsmann fragt - auf die eine oder die andere Weise - "Was ist das GEHEIMNIS?", sage ich ihm oder ihr: "Lesen Sie die Sherlock Holmes-Geschichten. Die ganze Conan Doyle-Reihe." Weil alle Geschichten nämlich auf dem Konzept der Logik aufgebaut sind, auf dem logischen Denken als Waffe und als Werkzeug, mit dem wir unsere eigene Existenz kontrollieren können.
Je mehr du weißt, je klarer du alle Aspekte des Problems im Auge hast, umso wahrscheinlicher ist es, dass du nicht in ungute Situationen mit deinem Partner gerätst, dich nicht auf unlogische und unrealistische Geschäftspläne einlässt und dass du es niemals mit schrägen Typen zu tun bekommst, die nur deine Zeit verschwenden und dafür sorgen, dass du versumpfst.
"Ich kann dir sagen, wie du Reichtum, Ruhm und wahre Liebe findest, Unfälle vermeidest und deine Zukunft sicherst."
Wenn du erstmal verstanden hast, dass der Zufall nicht existiert, dass es nur Muster gibt, die wir nicht verstehen, dann wirst du aufhören, an falsche Religionen zu glauben, an Astrologie, fliegende Untertassen, Helden und Dämonen, Gut und Böse (was wir "das Böse" nennen, ist meistens bloß Unfähigkeit), an Geister, an die Unfehlbarkeit von Politikern und an all die anderen, irrsinnigen Ablenkungen vom klaren Denken.
Den Zufall gibt es nicht. Das Chaos gibt es. Und das Chaos ist falsch verstandene Entropie. Der Lauf der Welt wird nicht durch eine geheime Verschwörung gelenkt, sondern von Leuten, die die Systeme, in denen sie handeln, nicht verstehen; und die deshalb versuchen, die Systeme ihren eigenen Zwecken anzupassen.
Aber das Chaos wird sich durchsetzen. Diese Flüsse werden ihren wahren Lauf finden, egal wie viele Dämme der Heuchelei, der Gier, des Hasses und der Manie auf ihrem Weg errichtet werden. Der Zufall begünstigt diejenigen, die gewappnet sind. Das Chaos wirkt zu deinem Vorteil. Versuche, soviel zu wissen wie möglich. Versuche zu verstehen und dich zu erinnern.
Das Leben hält nur eine große Lektion bereit. Es sagt zu dir PASS AUF! Ob im Chaos oder in der Entropie, je mehr du weißt, je schlauer und je besser informiert du bist... umso leichter wird es für dich sein, auf dem Wellenkamm des Chaos' zu reiten, das GEHEIMNIS zu erreichen.
Du bist herzlich eingeladen. Und du musstest dich nicht einmal für ein Seminar einschreiben. Das Chaos ist ein Straßenräuber, wild und frei.
Chaos, das ist, wenn ein Mann voranschreitet, seine Seele aber zurückbleibt.
Der Autor und Preisträger, Journalist und Drehbuchautor Harlan Ellison ® hat 75 Romane und 1.700 Kurzgeschichten, Essays und Artikel geschrieben oder herausgegeben. Einige Titel seiner Bücher lauten Deathbird Stories, Slippage, Mind Fields und The Essential Ellison, ein Rückblick auf 50 Jahre. Fürs Fernsehen schrieb er unter anderem für Star Trek und The Twilight Zone , und er ist das einzige Mitglied der Writers Guild of America , das viermal den Preis für Most Outstanding Teleplay for solo work erhielt. Ihm wurde auch der Silver Pen for Journalism vom P.E.N. verliehen.
Copyright © 2003 by The Kilimanjaro Corporation. Harlan Ellison ® ist ein eigetragenens Warenzeichen der Kilimanjaro Corporation