Was bedeutet "Demokratie" und ist sie wünschenswert?

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Maurice
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Mi 31. Aug 2005, 21:00 - Beitrag #1

Was bedeutet "Demokratie" und ist sie wünschenswert?

In der Politik-Sektion kam es ansatzweise zu einer Diskussion, was der Begriff "Demokratie" bedeutet. Da es scheinbar durchaus verschiedene Ansichten zu dem Begriff zu geben scheint, nehme ich dies zum Anlass diesen Thread zu eröffnen.

Was ist also Demokratie?
Man sagt die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Aber wann ist dies der Fall? Wir in Deutschland haben eine sogenannte parlamentarische Demokratie, es regieren also vom Volk gewählte Vertreter. Wenn wir den Sachverhalt nun so nehmen und ihn mit der Definition vergleichen, handelt es sich bei einer "parlamentarischen Demokratie" wirklich um eine Demokratie, oder handelt es sich um eine Mogelpackung?
Wenn nun Demokratie bedeutet, dass das Volk die Macht im Staat hat und in einem Staat vom Volk gewählte Vertreter regieren, dann regieren eben die gewählten Vertreter und nicht das Volk. Und wenn nun der Begriff "Demokratie" nicht passen sollte, welche Bezeichnung wäre passender?

Nun nehmen wir mal zum anderen mal den Fall einer "reinen Demokratie", also einer Basisdemokratie an und fragen uns, ob eine solche wünschenswert und vor allem, ob sie heute überhaupt realistisch ist.
Wenn nein, welche demokratische Regierungsform haltet ihr für die geeignetste?

Ich weiß, dass es schwierig sein kann, mit zwei Fragestellungen einen Thread zu beginnen, aber je nach Interesse der User kann man den Schwerpunkt auf einen der Aspekte legen oder den Thread splitten.

Traitor
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Mi 31. Aug 2005, 21:30 - Beitrag #2

Ich steige mal hier in dem Thread ein, ohne die Vorgänger komplett nachgelesen zu haben, weiß also nicht genau, wieviel da schon aus welcher Richtung kam.

Deshalb von null: Eine wirkliche Demokratie, in der wirklich im Wortsinne das Volk regiert, ist eigentlich nur eine direkte. Das gesamte Volk trifft sich und hält Ratssitzungen ab. Allerdings ist soetwas natürlich längst nicht mehr möglich. In den attischen Stadtstaaten ging es noch (es ist natürlich auch fraglich, ob man die wegen ihrer stark eingeschränkten Bürgerklasse wirklich als Demokratie zählen will, aber das ist eigentlich eher eine Frage nach der Definition von demos als nach der von Demokratie), aber bei den Einwohnerzahlen eines modernen Staates ist das illusorisch. Ipsi hatte mal irgendwo ein Modell vorgeschlagen, aber das war IMHO (pardon) ziemlich grober Unfug.

Was wir in Deutschland haben, ist eine "parlamentarische Demokratie", ja, aber diese wiederum ist eine Unterkategorie einer "repräsentativen Demokratie", diese ist das Antonym zur direkten Demokratie. Eigentlich herrscht das Volk in ihr nicht, es kontrolliert lediglich. Aber analog zum bekannten "die Demokratie ist die beste aller schlechten Regierungsformen" lässt sich sagen "die repräsentative Demokratie ist die demokratischste aller undemokratischen Regierungsformen".

Nun noch zur Frage, welche Form wünschenswert ist. In meinen Augen eindeutig die repräsentative Demokratie, denn eine direkte könnte nur in einer idealen Gesellschaft mit weit höherem Anteil hinreichend politisch bewusster Bürger als in unserer brauchbar funktionieren (selbst, wenn man die Organisationsprobleme außen vor lässt).
Deutschland mag nicht die ideale repräsentative Demokratie sein, aber das System an sich ist in meinen Augen das beste verfügbare.

e-noon
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Mi 31. Aug 2005, 22:38 - Beitrag #3

Dito an Traitor. Die attische Demokratie würde ich nicht als Demokratie bezeichnen, was aber an der Definition des demos liegt, wie schon gesagt. Da aber demos zu Demokratie gehört, ist es eigentlich Teil der Definition.

Demokratie ist also für mich: Alle Bürger (da fängts schon an; Bürger = Erwachsener, der lange genug im Land lebt, um die Staatsbürgerschaft zu haben) im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sollten wahlberechtigt sein, es sollte folglich mehr als eine Option auf dem Wahlzettel geben, mit tatsächlichen Alternativen, freie, gleiche und geheime Wahlen...
Was wir haben, ist indirekte Demokratie, wobei es für meinen Geschmack ein bisschen zu indirekt ist. Bei manchen Fragen sollte imo, wie in anderen Ländern, einfach das ganze Volk befragt werden, wobei man dann wieder das Problem hat, dass die (möglicherweise) ungebildete Masse das Problem nicht richtig versteht und die Alternative nimmt, die sich später als falsch erweist.
Das größte Problem in der Demokratie sind imo die Menschen, denn die Idee einer Demokratie hat mit idealen Menschen etwas sehr verlockendes. Allerdings hat auch eine Diktatur mit idealen Menschen etwas verlockendes, wenn nämlich auch der Diktator ein idealer Mensch ist. Letztlich ist die Demokratie momentan aber erfolgversprechender, was das Wohl einer möglichst großen Menge von Menschen angeht.

LadysSlave
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Do 1. Sep 2005, 15:51 - Beitrag #4

Eine direkte Demokratie mag zwar in einem Dorf durchführbar sein. aber bei einer grösseren Gemeinde schon relativ unntüz.
Das heisst, dass man sich schon jemanden suchen muss, der für die Menschen handelt.
Allerdings ist eine parlametarische Demokratie nichts Wert, wenn der Gewählte seinem eignen Gewissen verantwortlich ist und nicht denen, von denen er gewählt wurde. Denn dann findet keien Vertretung mehr statt.
Womit wir allerdings wieder bei der Frage der ehrlichkeit unserer Demokratie sind.
Und hier sind es schon mehr als jeder 3. der gar nciht zur Wahl geht, weil er sich nicht vertreten fühlt. Das macht nachdenklich

Maglor
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Di 6. Sep 2005, 15:29 - Beitrag #5

Schon Polybios unterschied Demokratie (Volksherrschaft) und Ochlokratie (Massentyrannei). Ergo, die eine Mehrheitsentscheidung des Volkes zieht keineswegs notwendigerweise eine gerechte Politik nach sich.
Tatsächlich meinten die Griechen mit der Demokratie nur die Herrschaft des Volkes (etwa im Gegensatz zur Monarchie), jedoch keineswegs solche Errungenschaften wie allgemeine Menschenrechte, die heutzutage mit Demokratie in Verbindung gebracht werden. Betrachtet man das attische Scherbengerichte aus heutiger Sicht, so erscheint es als willkürliche Verbannung ungeliebter Mitmenschen; die alten Griechen hingegen sahen in solchen gewissermaßen ungerechten Mehrheitsbeschlüsse das Wesen der Demokratie.
Sprich in der heutigen Bundesrepublik ist der Einzelne (zumindest theoretisch) durch das Grundgesetz vor unfairen Mehrheitsbeschlüssen des Volkes bzw seiner Vertreter geschützt.

MfG Maglor

Joan Eric Tanat
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So 25. Sep 2005, 11:22 - Beitrag #6

Im Grunde ist es völlig gleichgültig, in welchem Staatssystem oder Nicht-Staatssystem die Menschen leben, denn kein Staatssystem bessert die Menschen. Das Volk herrscht nicht in der Demokratie - weder in einer direkten, noch in einer indirekten -, und würde es herrschen, wäre dies auch nicht unbedingt besser. Es ist also Unsinn zu glauben, das beste aller Staatssysteme zu haben. In der Anarchie herrscht zwar Mord und Totschlag, aber die organisierten Staaten führen dafür Kriege, in denen der sonst in ihnen geschützte Frieden und Wohlstand zerstört wird. Vor kurzem habe ich etwa folgendes gelesen: "Terrorismus ist der Krieg der Armen. Krieg ist der Terror der Reichen." (keine Ahnung, von wem das ist) Das aber nur nebenbei. Es besteht meiner Ansicht nach kein Grund, sich auf den Lorbeeren einer erkämpften oder ererbten Demokratie auszuruhen. Demokratie ist genauso krisenanfällig, wie jedes andere System. Wichtig ist nicht, wer regiert, sondern, ob weise regiert wird. Weise kann nur ein Mensch regieren, der sein eigenes Volk liebt und ebenso alle anderen Völker liebt, der den Menschen (und der Natur ebenso) dient und sein Leben dafür einsetzt. Die wahre Motivation ist entscheidend, nicht die Wahlversprechen und Wahlversprecher. Es ist kein Grund zum Jubeln und Feiern, wenn man Bundeskanzler geworden ist, sondern ein Grund, ernst zu sein, weil es eine schwere Verantwortung ist, ein Volk zu regieren. Wer sich ins Fäustchen freut, an die Macht gekommen zu sein, wird die Verantwortung nicht allzu ernst nehmen, das ist bedenklich. Verantwortlich sind jedoch nicht nur die Regierenden, sondern jeder. Man kann sich einbilden, modern und fortschrittlich, sowie demokratisch zu sein, und man kann es wirklich sein. Geschenkt wird uns nichts. "Denk ich an Deutschland in der Nacht ..."

Gruß, jet

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So 25. Sep 2005, 16:09 - Beitrag #7

Grundsätzlich finde ich die parlamentarische "Stellvertreter"-Demokratie, die wir in Deutschland haben, ganz okay.

Ich wünschte mir allerdings mehr direkte Mitsprache im kleinen, vor Ort, sozusagen.
Erfahrungsgemäß werden aber solche Mitwirkungsformen kaum genutzt, denn der Mensch als solcher ist träge und lässt gern andere die Verantwortung (er)tragen.

Für mich ist Demokratie erstrebenswert, denn sie geht mit vielen Freiheitsrechten einher. Ich schätze auch, dass wir in unserem Land die Gewalten getrennt haben. So gibt es Korrektive.

Deshalb bin ich auch sehr skeptisch, wenn im Namen der Sicherheit unsere Rechte beschnitten werden sollen.

Feuerkopf
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Joan Eric Tanat
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Mo 26. Sep 2005, 09:15 - Beitrag #8

Im Grunde kommt es ausschließlich darauf an, sich selbst zu entwickeln. Denn es gibt in Wahrheit keine Außenwelt ohne entsprechende Innenwelt. Also gehört auch der Staat - ob Demokratie oder nicht - nur zu der Um-Welt, die man aufgrund des Resonanzgesetzes anzieht. Wenn mir also in dem Staat, in dem ich lebe, irgend etwas nicht paßt, muß ich den Grund in mir selbst suchen und nicht bei anderen. Demokratie bedeutet im Grunde gar nichts. Was soll an Demokratie besser sein, als an anderen Staatssystemen, solange die Menschen sich im Kleinen und Großen gegenseitig überlisten, denn daran, sich gegenseitig Gewalt anzutun, sind sie ja durch die Strafgesetze gehindert. Dafür gibt es zwischen Staaten Kriege, in denen die unterdrückte und aufgestaute Gewalt organisiert zum Ausbruch kommt. Demokratie macht die Menschen nicht besser. Demokratie ist nur eine Staatsform, der Inhalt jedoch - die Menschen - sind die gleichen, wie in anderen Staatsformen bzw. Staaten. Und aus diesem Grunde bringt es nichts, an der Staatsform herumzubasteln oder sich einzubilden, man lebte in der besten Staatsform. Die Menschen sind in der Mehrheit egoistisch, und von Zeit zu Zeit geht es ihnen in ihren Staaten schlechter, damit sie besser werden können.

Gruß, jet

janw
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Mo 26. Sep 2005, 09:55 - Beitrag #9

Zitat von Maurice:Was ist also Demokratie?
Man sagt die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Aber wann ist dies der Fall? Wir in Deutschland haben eine sogenannte parlamentarische Demokratie, es regieren also vom Volk gewählte Vertreter. Wenn wir den Sachverhalt nun so nehmen und ihn mit der Definition vergleichen, handelt es sich bei einer "parlamentarischen Demokratie" wirklich um eine Demokratie, oder handelt es sich um eine Mogelpackung?

Es handelt sich, wie schon implizit gesagt, bei der parlamentarischen Demokratie um eine der möglichen Ausgestaltungen der Demokratie, die eine Lösung der sachlichen Probleme des Wesensgehaltes des corollaren Begriffes, der Forderung nach echter Volksherrschaft nämlich, darstellt. Sachliche Probleme als da wären die Trägheit des Bürgers, sich zu informieren und zu beteiligen und die Probleme der Willensfindung bei großen Bevölkerungen generell.

Zitat von Maurice:Wenn nun Demokratie bedeutet, dass das Volk die Macht im Staat hat und in einem Staat vom Volk gewählte Vertreter regieren, dann regieren eben die gewählten Vertreter und nicht das Volk. Und wenn nun der Begriff "Demokratie" nicht passen sollte, welche Bezeichnung wäre passender?

Stellvertreter-Demokratie. Stellvertreter auf griechisch??

Zitat von Maurice:Nun nehmen wir mal zum anderen mal den Fall einer "reinen Demokratie", also einer Basisdemokratie an und fragen uns, ob eine solche wünschenswert und vor allem, ob sie heute überhaupt realistisch ist.
Wenn nein, welche demokratische Regierungsform haltet ihr für die geeignetste?

Abgesehen, daß sie auf Staatsebene nicht praktikabel ist, ist sie systemimmanent auch nicht wünschenswert, da sie die Existenz des herrschenden Hochfinanz-Parteien-Oligopols gefährden würde, die eben Realität ist in unserem Land.
Wünschenswert...wäre diejenige Demokratieform, die vor allem den Benachteiligten zu einer Gleichrangigkeit verhelfen würde.

Für mich ist es eines der großen Probleme, daß wesentliche Teile der Bevölkerung aufgrund ihres nichtdeutschen Passes nicht mitwählen dürfen, auch nicht, wenn es bei Kommunalwahlen um ihr unmittelbares Umfeld geht und sie in dem betreffenden Wahlbezirk über 80% der Bevölkerung stellen.

"Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht.
Aber, eins weiß ich genau: Dieses Land ist es nicht."

Lykurg
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Mo 26. Sep 2005, 12:32 - Beitrag #10

Zitat von Joan Eric Tanat:Demokratie macht die Menschen nicht besser. Demokratie ist nur eine Staatsform, der Inhalt jedoch - die Menschen - sind die gleichen, wie in anderen Staatsformen bzw. Staaten. Und aus diesem Grunde bringt es nichts, an der Staatsform herumzubasteln oder sich einzubilden, man lebte in der besten Staatsform. Die Menschen sind in der Mehrheit egoistisch, und von Zeit zu Zeit geht es ihnen in ihren Staaten schlechter, damit sie besser werden können.
Die Menschen sind zwar insgesamt tatsächlich nicht anders, aber die Macht ist anders - mE fast grundsätzlich besser - verteilt. Du hast dich bisher nicht für eine bestimmte Staatsform geäußert, daher kann ich, um dem zu begegnen, nur oberflächlich die der Demokratie entferntesten Gegenpole behandeln, Diktatur und Anarchie. Tatsächlich anarchische Systeme hat es meines Wissens seit der Frühzeit nie mehr über längere Zeiträume hinweg gegeben - das liegt einfach daran, daß ein Machtvakuum per definitionem extrem instabil ist. Daher kann sich die folgende Darstellung nur auf Vermutungen stützen: Eine anarchische Gesellschaft setzt sich weder gegen innere noch gegen äußere Feinde zur Wehr, daher bilden sich zwangsläufig binnen kürzester Zeit neue Machtstrukturen, die aber, wären alle positiven Kräfte von der Anarchie überzeugt (davon ausgehend, daß sie gut ist), krimineller Natur sein müssen. Um das zu verhindern (oder aus direktem Machtstreben) wird ein Nachbarstaat eingreifen. - Eine Argumentation gegen die Diktatur kann etwa berücksichtigen, daß in den seltensten Fällen jemand, der "weise" ist, an die Macht kommen dürfte (weil es dafür eben anderer Fähigkeiten bedarf), daß kaum jemand "weise" genug sein dürfte, um eine Gesellschaft in jeder Hinsicht positiv zu beeinflussen und überall die richtigen Entscheidungen zu treffen, und daß sie zwangsläufig die Freiheit des Einzelnen beschneidet, sich politisch zu betätigen.

Diktaturen neigen dazu, die Menschen unterwürfig und unselbständig zu machen, außerdem müssen aufgrund der eingeschränkten Freiheiten große Geheimdienstapparate eingerichtet und unterhalten werden, die zu einer Spitzelmentalität, jedenfalls aber zu ständigem Mißtrauen führen. - Das anarchische Gegenbild wäre eine Selbstverteidigungsgesellschaft, in der jeder jedem Unbekannten das Schlimmste zutraut und nicht unbewaffnet aus dem Haus geht. In beiden Fällen wäre das Ergebnis jedenfalls langfristig eine charakterliche Verschlechterung der Menschen. Insofern ist die Staatsform absolut nicht unerheblich für das Wesen ihrer Staatsbürger. Die moralische Verbesserung, die du daraus erhoffst, sehe ich nicht - sie besteht für mich in der Abkehr von ihrer Staatsform - und daß es ihnen schlecht gehen muß, "damit sie besser werden können", halte ich für ein Gerücht. Kulturelle Leistungen werden mE eher in Blütezeiten erbracht als im ständigen Auf und Ab einer instabilen Gesellschaftsform - aber was genau du damit meintest, wäre vielleicht noch auszuführen, damit wir hier nicht aneinander vorbeireden.

Zitat von janw: Stellvertreter-Demokratie. Stellvertreter auf griechisch??
Ein Wort dafür hatten die Griechen nicht - sie benutzten "ho antí tinos tetagménos" oder "... ôn" (verzeih die Umsetzung ^^). Die Wörter für "Statthalter" (satrapês oder hyparchos) wären wohl weniger passend - verweisen sie doch auf ganz andere Herrschaftsformen... (Hyparchie könnte man vielleicht noch gelten lassen). Die wohl ähnlichste Bedeutung haben wir im lateinischen vicarius.
Wünschenswert...wäre diejenige Demokratieform, die vor allem den Benachteiligten zu einer Gleichrangigkeit verhelfen würde.
"vor allem"... Ich weiß, daß du das nicht so meintest, aber ich mußte plötzlich so an "... but some are more equal" denken... ;)

Maurice
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Mo 26. Sep 2005, 12:45 - Beitrag #11

Ist jedes Staatssystem gleich gut und es kommt allein auf die Menschen an?
Ich würde sagen jein. Es kommt letzten Endes auf die Menschen an, wie gut das Zusammenleben funktioniert, aber das Staatssystem schafft Rahmenbedingungen.
Um zu sagen, ob es bessere oder schlechtere Systeme gibt, muss man sich fragen, welche Aufgaben der Staat erfüllen soll. Je nachdem welches System die besseren Rahmenbedingungen zur Verwirklichung der Aufgaben liefert, umso besser ist dann auch das System. Wenn wir nun z.B. sagen, dass ein System dem Individuum möglichst viele Freiheiten gewähren sollte (natürlich Handlungsfreiheit mit einer konditionalen Definition von "können" ;)), dann ist in diesem Punkt eine Demokratie besser als eine Diktatur.
Vielleicht sollte man dazu mal einen eigenen Thread aufmachen und da diskutieren, was ein Staat leisten sollte und welches System danach am geeignetsten wäre. :)

janw
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Mo 26. Sep 2005, 13:18 - Beitrag #12

Maurice, eine Aufgabenkritik des Staates wäre sicher einen thread wert.

Zitat von Maurice:Es kommt letzten Endes auf die Menschen an, wie gut das Zusammenleben funktioniert, aber das Staatssystem schafft Rahmenbedingungen.

Wie Lykurg schon zeigte, Macht macht Menschen. Der demokratisch gesinnte Staatsbürger entsteht nicht über Nacht, auch wenn Bush uns das gerne weismachen würde.

@Lykurg:es wäre sicher ein interesanter Ansatz, unterprivilegierte Gruppen mit Doppelstimmen o.ä. zu fördern, um der Entegalisierung der individuellen Chancen durch privilegierte Gruppen der Gesellschaft entgegen zu wirken.
Unterprivilegiert wären z.B. Behinderte, Arme, letztere am besten zu messen am versteuerbaren Einkommen. Dann wäre Schrempp auch mit dabei ;)

Ipsissimus
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Mo 26. Sep 2005, 14:56 - Beitrag #13

ich wachte also eines Morgens auf und wußte, daß ich Herr der Welt sein wollte.

Nun ja, halten Sie mich bitte nicht für größenwahnsinnig. Als bescheidener Mensch gebe ich mich natürlich damit zufrieden, die Wege der Menschheit zu lenken. Als gebildeter Mensch weiß ich, daß Vollkommenheit nicht von dieser Welt ist, daß ich also diese Wege niemals völlig bestimmen können werde, bestenfalls zu 80 bis 90 Prozent.

Als Mitglied einer uralten Familie, die es durch die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch immer wieder verstanden hat, ihr Vermögen und ihre Macht zusammenzuhalten und zu mehren, bin ich Ergebnis eines schonungslosen Ausleseprozesses, der immer nur die effektivsten jeder Generation in die Machtpositionen gelassen hat. Subtilität ist mir genauso vertraut wie Macchiavellismus, und ich weiß, wann ich welche Mittel einsetzen muss.

Will sagen, ich weiß also, wie ich es anstellen muss - und seitens meiner Familie stehen mir die notwendigen Mittel zur "Anschubfinanzierung" und der notwendige Einfluss zur Verfügung.

Lenker der Menschheit, wie mache ich´s?

Als erstes nehme ich mir einen schnuggeligen kleinen Staat vor, Deutschland vielleicht, aber im Prinzip ist es egal welchen. Ich sorge dafür, daß es 2 große Parteien gibt und ein paar kleine, ich lanziere in beiden großen Parteien meine Leute. Ein paar Bestechungsgelder hier, ein paar da, kein großes Problem; sie müssen auch nicht wissen, daß sie für mich arbeiten. Sie vertreten nur Tendenzen meiner Vorgaben - Tendenzen, keine exakten Vorgaben, das ist wichtig, weil dadurch der notwendige Freiraum entsteht, der ihnen das Gefühl gibt, noch frei zu sein - und damit die fehlenden 10 bis 20 Prozent kompensiert -, und mir den Freiraum beläßt, zu korrigieren, was bei allzu engen Vorgaben sehr viel schwieriger ist.

Dann sorge ich dafür, daß diese Tendenzen sich inhaltlich immer stärker annähern, durch den Sprachgebrauch in den Parteien aber der Eindruck entsteht, es stünden völlig unterschiedliche Konzepte zur Debatte.

Der Trick dabei: Bürokratie. Die Tendenz des politischen Willens der Parteien ist das, was ich über die Bürokratie längst festschreiben ließ - auch da helfen Bestechungsgelder am richtigen Ort. Und den Bürgern ersetzt das Schimpfen über die Bürokratie allemal den Versuch, diese effektiv zu ändern - auch das kompensiert die fehlenden 10 bis 20 Prozent.

Das ganze wird garniert durch eine mediale Kampagne, innerhalb der durch ein Trommelfeuer über Jahre und Jahrzehnte hinweg der optische Eindruck erzeugt wird, es gäbe tatsächlich etwas zu entscheiden. Daß diese Entscheidungen über einem Fundus von 90 Prozent apriori-Setzungen stattfinden, wird kaum ein Mensch von Relevanz bemerken, und wenn doch - alle Menschen sind käuflich, wenn der Preis stimmt.

Als Ergebnis wird ein Land an den Fäden meines Wollens geführt, und seine Bürger halten ihr gelegentliches Zappeln für Freiheit - ein äußerst befriedigendes Resultat.

Das Modell wird jetzt expandiert, über Wirtschaftsbeziehungen mit ähnlich eingesponnenen Ländern entsteht ein Geflecht, bei dem ALLE Aktivität nur noch systemimmanent vonstatten geht - das System selbst ist völlig außen vor aus der Betrachtung.

So wurde ich streng demokratisch Herr der Welt.

Joan Eric Tanat
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Mo 26. Sep 2005, 15:57 - Beitrag #14

Ipsissimus, Du hast ja wirklich eine blühende Phantasie! Aber ehrlich, ich bin froh, daß dies nur so eine Idee von Dir ist. Stell Dir doch bloß mal vor, das würden wirklich einige Leute so machen! Nicht auszudenken. Nein, unsere Demokratie, auch wenn sie indirekt über Volksvertreter funktioniert, ist schon das Optimum und wir sind dadurch heute die freisten und modernsten Bürger, die es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Man, bin ich froh, heute zu leben! So ein Glück! In der Demokratie merkt man gar nicht, wie egoistisch und selbstsüchtig die Menschen sind! Eine tolle Erfindung, das! Nicht so plump wie 'ne olle Diktatur.

Gruß, jet

Lykurg
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Mo 26. Sep 2005, 16:30 - Beitrag #15

^^

Ipsissimus, ich finde deinen Text brilliant. Die wenigen Angriffspunkte, die er mir bietet, liegen bei der Kontrollierbarkeit von Amtsträgern (ich gehe von einer geringeren Bestechlichkeit aus - irgendwer wird sich immer finden, der das publik macht) - und damit zusammenhängend die Medienmacht. Ein System wie das von dir beschriebene kann nur dann (und selbst dann wohl begrenzt) funktionieren, wenn die Person die Medien absolut in der Hand hat. Die Herrscher aber, für die das gilt (etwa Berlusconi und Putin) regieren offen.

Die schillerndste Gestalt in dieser Richtung ist vielleicht Rupert Murdoch - ich las heute in einem Bericht über das neue Buch gegen Blair, daß eine der drei darin zensierten Passagen sich auf den Einfluß Murdochs auf die britische Außenpolitik bezog: ursprünglich hieß es darin: "Die Downing Street ist sehr nervös nach etlichen Pro-Euro-Kommentaren von Peter Mandelson. Denn offenbar haben wir den Leuten von News International versprochen, wir würden keine Änderung in unserer Europa-Politik vornehmen, ohne mit ihnen vorher darüber zu sprechen." Der Satz wurde geändert zu: "Offenbar hat man bei News International den Eindruck, wir würden keine Änderung unserer Europa-Politik vornehmen, ohne sie vorher zu konsultieren." [!!!!] Aber selbst das ist ein doppelter Einwand gegen deine Geschichte: Einerseits, weil diese Art der Kontrolle dir nicht reichen würde, andererseits, weil das Bekanntwerden auch eines kleinen Teils sowohl der Allmacht widerspricht als auch sie gefährden könnte.

Die Leichtigkeit allerdings, mit der man es für "nur so eine Idee" halten kann, verleiht deinem Text schweres Gewicht... Ich bin sehr beeindruckt von der sprachlichen Kraft des Bildes (komplett mit Kafkaanleihe - und an wen erinnert mich noch der Schluß?)

Ipsissimus
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Mo 26. Sep 2005, 16:44 - Beitrag #16

"Streng demokratisch zur Hölle", ein Buch von C.S. Lewis?

eine Stärke des Modells - und eine Teilentkräftung deines Einwands, der natürlich nicht völlig entkräftet werden kann, weil er stimmt^^ - besteht darin, daß es äußerst schwierig werden wird, im Rahmen eines solchen Spektakulums zu entscheiden, was die wirklichen Bekanntwerdungen sind, und was Ablenkungsmanöver. Ich würde das Ganze so aufziehen, daß die Bürger absolut keine ernstzunehmende Möglichkeit haben, die Relevanz ihrer Informationen noch ernsthaft zu ermittel, da ich sie in Informationen ertränken würde^^

janw
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Mo 26. Sep 2005, 16:45 - Beitrag #17

Wahrlich gelungen, das :-)

Nur, welchen Vorteil, außer Macht zu haben, generiert das System für den werten Herrn?
Und wie beugt er dem vor, daß das System nach Ausdehnung auf alle Staaten mangels weiterer Wachstumsprognose strandet?

Ich bin durchaus von der Existenz eines Oligopols hierzulande überzeugt, das IMHO allerdings wohl de novo entstanden ist, vielleicht in Kontinuation eines Oligopols aus den Anfängen des 20.JH.
Eines Oligopols, dessen Zweck die Kapitalakkumulation ist.

EDIT: Nun, das heutige Infotainment könnte genau ein solcher Ertränkungsversuch sein^^

Ipsissimus
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Di 27. Sep 2005, 11:02 - Beitrag #18

Macht neigt dazu, für die Mächtigen ein Selbstzweck zu werden^^

Wie sagte unser erster Bundeskanzler, paraphrasiert? "Was kümmern mich die Probleme späterer Generationen?"

Durch einen weiteren Weltkrieg, bei dem die Strukturen wieder zerschlagen werden, damit das Spiel weiter gehen kann^^


aber der eigentliche Witz bei der kleinen Geschichte ist imo ein anderer: ob sie exakt die Wirklichkeit widerspiegelt, bleibt belanglos demgegenüber, daß sie die Wirklichkeit widerspiegeln könnte. Und das bedeutet: es ist belanglos, ob wir in einer Demokratie leben, oder ob ein tatsächlich zentralistisch-diktatorisch gesteuertes System uns nur plausibel vorgaukeln kann, wir lebten in einer Demokratie

Lykurg
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Di 27. Sep 2005, 11:36 - Beitrag #19

Zitat von Ipsissimus:Macht neigt dazu, für die Mächtigen ein Selbstzweck zu werden^^

Wie sagte unser erster Bundeskanzler, paraphrasiert? "Was kümmern mich die Probleme späterer Generationen?"
"Macht neigt dazu..." Sehr richtig, besonders aber auch, wie unser derzeitiger noch-Bundeskanzler paraphrasiert sagte: "Was kümmern mich Formalien?" (Formalien wie etwa... das Grundgesetz)^^
Durch einen weiteren Weltkrieg, bei dem die Strukturen wieder zerschlagen werden, damit das Spiel weiter gehen kann^^
Du meinst, ohne Krieg würde das System nicht funktionieren? Ich glaube eher, daß ein Krieg es mehr gefährdet als der Frieden - Krieg ist grundsätzlich mit einer Masse von unwägbaren Risiken verbunden, außerdem mit starker emotionaler Aufladung, in der das Bekanntwerden eines solchen Strippenziehersystems ganz plötzliche und für den Betreffenden eher unangenehme Folgen haben könnte... ich glaube, etwa Soldaten, die ihre Kameraden fallen sahen, um dann zu erfahren, daß sie letztlich nicht in staatlichem, sondern in privatem Interesse aufgeopfert wurden, stellen ein erhebliches Risikopotential dar.

aber der eigentliche Witz bei der kleinen Geschichte ist imo ein anderer: ob sie exakt die Wirklichkeit widerspiegelt, bleibt belanglos demgegenüber, daß sie die Wirklichkeit widerspiegeln könnte. Und das bedeutet: es ist belanglos, ob wir in einer Demokratie leben, oder ob ein tatsächlich zentralistisch-diktatorisch gesteuertes System uns nur plausibel vorgaukeln kann, wir lebten in einer Demokratie
Ja, das ist - auf einer weit realistischeren Ebene - eben die Matrix-Erfahrung. Allerdings ist das Bestehen dieses Threads ein deutliches Gegenargument.

Maurice
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Di 27. Sep 2005, 11:46 - Beitrag #20

Nein Lykurg dieser Thread ist kein Gegenargument für die These, dass wir in einer Schein-Demokratie leben. Denn dieser Thread könnte auch ein Teil des Theaters sein, das uns vorgaukeln will, dass wir in einer Demokratie leben, zu der auch die Meinungsfreieheit gehört. Sie könnten uns die Bastion der freien Meinungsäußerung im Internet belassen, um uns in Sicherheit zu wiegen... aber nur solange, wie die Masse nicht an diesem Diskurs teilnimmt. ;)

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