Essay Erkenntnistheorie

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
e-noon
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Di 7. Nov 2006, 23:28 - Beitrag #1

Essay Erkenntnistheorie

Da ich neulich ein Essay geschrieben habe, für das es eigentlich keinen weiteren Verwendungszweck gibt, stelle ich es einfach mal hier rein. Wenn jemand Verbesserungsvorschläge hat (mein erstes Essay), egal ob zu Form oder Inhalt, oder wenn jemand einen bestimmten Punkt diskutieren möchte, kann er das gerne in diesem thread tun :)


Essay
Dieses Essay soll sich mit der stärksten Form des Skeptizismus befassen, dem Zweifel an allem. Dazu möchte ich mich zunächst an Descartes’ Meditationen orientieren, um dann Argumente für einen weiterführenden Skeptizismus aufzuführen. Im Anschluss sollen Möglichkeiten für die Überwindung eines solchen Zweifels erörtert werden.

Mit Descartes sind viele Menschen bereit, keine Wahrheit mehr als sicher zu akzeptieren außer der, dass sie selbst existieren, solange sie denken. Besonders für die Menschen, die sich im Traum schon einmal für wach hielten oder sich diesen Zustand zumindest vorstellen können, liegt es nahe, dass wir kein sicheres Wahrheitskriterium für die Existenz einer Außenwelt haben. Ebenso könnte die Vergangenheit ein Konstrukt unseres Geistes sein, wie es auch unsere Vorstellungen von der Zukunft sind, sodass letztlich nur unser gegenwärtiges Ich übrig bleibt.
Deutlich weniger Menschen waren und sind bereit, Descartes’ Überwindung des Zweifels mit Hilfe der Vorstellung eines gütigen Gottes zu akzeptieren. Und wenn man diese Erklärung nicht gelten lässt, stellt sich die Frage, wie man sonst den Zweifel überwinden kann, oder ob es nicht vielmehr notwendig ist, ihn noch weiter zu treiben, als die Behauptung „cogito, ergo sum“ dies vermag. Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst die Bedeutung dieses Satzes untersuchen.
Die Behauptung „ich denke, also bin ich“ enthält zunächst einmal die These, dass etwas existiert. Diese stützt sich auf die evidente und kaum zu leugnende Erfahrung des Denkens: Es wird gedacht, also müsse etwas existieren, das denkt.
Des Weiteren besagt sie, dass dieses etwas ein „Ich“ ist, und dass aus dem denkenden „Ich“ das existierende „Ich“ folge. Nehmen wir an, Ich“ sei hinreichend definiert durch ein „denkendes Wesen, […] ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint“ . „Ich bin“ heißt dann schlicht, dass mindestens ein Wesen denkt. Solange dieses Wesen denkt, also solange ich denke, kann ich sicher sein, dass ich existiere, so Descartes. Dies ist offenbar ein logisch korrekter Schluss; doch ist die Aussage darum notwendig wahr? Meiner Meinung nach nicht.
Descartes selbst gibt in der ersten Meditation zu, dass er sich vielleicht sogar in so grundlegenden Meinungen täuschen könnte wie in der, dass ein Quadrat vier Seiten habe. Um ein Quadrat zu sein, muss ein geometrisches Gebilde per definitionem vier Seiten besitzen. Die Aussage, dass ein Quadrat möglicherweise keine vier Seiten habe, heißt demnach nichts anderes, als dass ein geometrisches Objekt genau vier Seiten hat und zugleich nicht vier Seiten hat. Dieser Zustand ist für den menschlichen Geist vermutlich nicht vorstellbar, denn es handelt sich um einen kontradiktorischen Gegensatz. Dennoch müsste es, wie auch in der dritten Meditation gesagt wird, für ein allmächtiges Wesen ein Leichtes sein, einen solchen Gegensatz zu erzeugen. Da wir die Existenz eines allmächtigen Wesens nicht widerlegen können, müssen wir wohl annehmen, dass uns menschliche Logik selbst in ihren Grundlagen kein sicheres Wahrheitskriterium liefern kann, wenn selbst tautologische Schlüsse uns nicht mehr sicher erscheinen.
Ist nun aber die Logik kein sicheres Mittel der Wahrheitsfindung mehr, so sind zugleich alle für sicher gehaltenen Meinungen hinfällig: Sie alle könnten wahr und zugleich falsch sein oder auch einfach nur falsch, auf jeden Fall sind sie nicht mehr so verlässlich, dass wir von einer Gewissheit oder von „Wissen“ sprechen könnten.
Was bleibt? Zumindest ein „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, könnte man vermuten. Doch abgesehen davon, dass es sich hierbei ebenfalls um einen Widerspruch handelt, kann ich mir auch darin nicht absolut sicher sein, solange ich mir in nichts absolut sicher bin. Nicht einmal die Gewissheit der absoluten Ungewissheit bleibt somit, sondern auch sie ist dem Zweifel ausgesetzt. Man könnte höchstens sagen „Ich glaube, dass ich nichts weiß“, doch auch darin liegt keine Sicherheit, denn man kann wiederum Zweifel anmelden, ob es denn wahr sei, dass man dies glaube.
Um überhaupt noch klare Aussagen zu ermöglichen, bleiben daher keine theoretischen Lösungen für das Problem des universellen Zweifels, sondern lediglich praktische Gründe, diesen bei Bedarf beiseite zu schieben. Eine praktische Umsetzung des Zweifels dahingehend, dass man nichts annimmt, solange man es nicht bewiesen hat, würde zur Handlungsunfähigkeit führen, denn man wäre stets im Unklaren über Motive, Durchführbarkeit und Folgen der eigenen Handlung. Vielleicht habe ich im nächsten Moment gar keine Hand mehr, um zu schreiben, oder mein Stift verwandelt sich in eine Palme; ausschließen kann ich es nicht. Dennoch besteht ein Konsens, dass unsere induktiven Schlüsse ihre Berechtigung haben und die bisher erfahrene Kohärenz unseres Lebens sich in Zukunft fortsetzen wird.
Wenn nichts als sicher angenommen wird, so kann man auch keine sichere Aussage darüber machen, ob unser Leben annähernd so verläuft, wie es scheint. Es verbleiben, zumindest aus unserer eingeschränkten Weltsicht, zwei Optionen: Entweder wir nehmen an, dass menschliche Logik ihre Gültigkeit hat und unsere Sinnesdaten die Wirklichkeit widerspiegeln, oder wir tun es nicht.
Angesichts zweier Thesen, deren Richtigkeit man mangels weiterer Informationen die gleiche Wahrscheinlichkeit zuschreiben kann, scheint es sinnvoll, der nützlicheren These den Vorzug zu geben, dh. derjenigen, die Voraussagen ermöglicht und mit der sich möglichst viele Phänomene erklären lassen. Auch sollten die Konsequenzen der Annahme beachtet werden.
Die erste These („die Welt ist zumeist, wie sie scheint“) hat den Vorteil, dass wir unglaublich viele Voraussagen machen können, die zum Teil wichtig für unser Überleben sind (z.B. „Wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann man hinaus fallen“). Die zweite These kann in dieser Hinsicht überhaupt keinen Vorteil aufweisen.
Es empfiehlt sich daher, in der zweiten These („die Welt ist völlig anders, als sie scheint“) eine möglicherweise richtige, aber ansonsten nicht relevante These zu sehen. Selbst wenn sie richtig wäre, könnte es die bessere Alternative sein, weiterhin nach der ersten These zu handeln, zumal die zweite These einer zielgerichteten Handlung geradezu entgegen wirkt.

Als Folge daraus ergibt sich die Empfehlung, den universellen Skeptizismus zwar nicht zu verwerfen, ihn jedoch im praktischen Bereich des Lebens nicht als Behinderung der Handlungsfreiheit wirksam werden zu lassen.

Ipsissimus
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Mi 8. Nov 2006, 12:19 - Beitrag #2

ein paar Anmerkungen dazu

es wäre mir lieber gewesen, Descartes hätte statt "denken" "bewußt sein" verwandt^^ "ich bin mir mancher Sachverhalte bewußt, also gibt es etwas, das sich bestimmter Sachverhalte bewußt sein kann, etwas, das ich als 'ich' bezeichne" scheint mir eine wesentlich besser an die realen Verhältnisse adaptierte Begründungsgrundlage zu sein, als das Denken - ich z.B. denke im normalen Alltag recht wenig^^

es erscheint mir kritisch, die Frage mit den vier Seiten des Quadrates als Meinung zu charakterisieren. Ein Quadrat hat per Konvention vier geradlinige Seiten, die in einer nichtgekrümmten Ebene liegen, im rechten Winkel zueinander stehen und gleichlang sind. Das ist keine Meinung, sondern die Kenntnisnahme einer Definition, einer Konvention mithin. Die Frage der Allmacht, die fähig sein mag, ein Quadrat zu erzeugen, das dieser Definition nicht entspricht, ist damit in Wirklichkeit eine Frage danach, ob die Definition geändert werden kann und soll. Das ist möglich, aber in diesem ganzen Zusammenhang taucht kein echter kontradiktorischer Widerspruch auf.

Fundamental ist in diesem gesamten Zusammenhang auch die Frage, ob wir im realen oder in philosophischen Vorstellungsraum nachdenken. Nehmen wir "Allmächtigkeit" als Beispiel. Ein im philosophischen Sinne allmächtiges Wesen müßte sich in den erwähnten Aporien (ich bin mir noch nicht ganz darüber im klaren, ob es sachlich eine Aporie oder eine Antinomie ist, es hat was von beiden) ergehen können. Eine reale Allmächtigkeit wäre immer noch an bestimmte Sachverhalte gebunden - sie könnte z.B: nicht "per order di muffti" Antinomien einfach so beiseite fegen, ohne ihre Voraussetzungen zu ändern.

D.h. viele, wenn nicht alle mit philosophischen "absoluten" Konzepten arbeitende Überlegungen dieser Art kranken daran, daß ihre modellhafte Komposition auch nur für modellhafte Wirklichkeiten relevant ist, nicht für jene Realität aber, welche Menschen einer Sozialisationsgemeinschaft als solche empfinden.

Das in deinen Schlusspassagen beschriebene Konzept kommt recht nahe an das heran, wofür Fuzzy-Logik gedacht ist - eine Logik, die in sich Regeln enthält, die beschreiben, wann logische Prinzipien sinnvoll in aller Strenge angewandt werden können, und wann von ihnen sinnvoll abgesehen werden kann. Dazu ist ein Metaentscheidungssystem notwendig, das z.B. bei einem Computer extreme Schwierigkeiten hinsichtlich der Implementierung bietet, wenn man triviale Einsatzgebiete verlässt, beim Menschen aber infolge seines Bewußtseins a priori vorhanden ist. Ich kann noch so sehr von strenger Logik fasziniert sein - nie verlässt mich meine Fähigkeit, diese Logik zu verlassen und mal quasi von außen zu begutachten, ob es mir eigentlich gut tut, immer nur streng logisch zu operieren. Ich denke, diese Fähigkeit, denkend und empfindend zu jeder Zeit nach Belieben auf sein eigenes Metasystem zu wechseln, ist das genuin Menschliche am Menschen.

e-noon
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Mi 8. Nov 2006, 18:21 - Beitrag #3

Danke fürs feedback :) Das denken hat er wohl auch so gemeint, zumindest zählte er "sich einer Sache bewusst sein" sicher zu den Denkakten.

Ich würde gerne Zweifel an einem Satz von dir anmelden, aber ich scheitere gerade an sprachlichen Schwierigkeiten ^^*

"Ich bin mir mancher Sachverhalte bewußt, also gibt es etwas, das sich bestimmter Sachverhalte bewußt sein kann". Ein ich ist ein etwas; also steckt die Folgerung, das "etwas ist", doch eigentlich hier schon im "ICH bin mir bewusst". Wenn man nun aber rein von den Gedanken ausgeht - z.B. denkt man "oh, ich bin mir ja meiner selbst bewusst" - kann man dann wirklich einwandfrei davon ausgehen, dass es zu diesem Moment mehr gibt als den Gedanken? Natürlich glauben wir, dass das Gehirn diese Gedanken produziert und somit etwas denken muss, damit Gedanken da sind, aber was wir erfassen, sind doch letztlich nur die Gedanken. Kann es nicht sein, dass nur der Gedanke da ist und sonst nichts? (ich kann es nicht konkret so ausdrücken, wie ich es meine :( )

Zum Quadrat: Genau das meinte ich damit nicht; sondern, wenn man ernsthaft sagt, das Quadrat hat fünf Seiten, dann geht man davon aus, dass ein Objekt gleichzeitig vier Seiten und fünf Seiten hat. Es geht mir nicht um den Begriff "Quadrat", sondern und das Objekt "Quadrat"; etwas hat vier Seiten und gleichzeitig fünf Seiten, es hat vier Seiten und hat gleichzeitig nicht vier Seiten. Wieso sollte so etwas nicht möglich sein? Es ist unlogisch und absurd, aber kann allein Absurdität eine These falsifizieren, wenn man die Logik selbst nicht als letzte Sicherheit anerkennen möchte?

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Mi 8. Nov 2006, 18:46 - Beitrag #4

e-noon,

Eine Frage, die formal logisch 2 Antwortmöglichkeiten vorgibt, die sich gegenseitig ausschließen nämlich r und -r, kann von jedem Wesen, gleich ob allwissend oder nicht, nur mit r oder -r beantwortet werden, da dieses ominöse Wesen sonst die Prämissen für die Frage ändert. Alles was nicht r oder -r entspricht ist keine Antwort auf die Frage und eine Kombination von r und -r verletzt das Definitionssystem der Frage.

Trennt man sich von der formalen Logik, mag es zwar sein, dass ein allwissender Geist diese Frage mit z beantworten kann, aber zum einen würde ein an Logik gebundener Mensch diese Antwort nicht verstehen, zum anderen würde um es an dem konkreten Beispiel festzumachen, der Sinn der Frage entstellt. Die Frage, ob ein Quadrat 5 Seiten haben könne mit ja zu beantworten widerspricht der Definition eines Quadrates, möglicherweise könnte eine Fläche zugleich 4 und 5 Seiten haben, aber diese Fläche wäre kein Quadrat. ^^

e-noon
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Mi 8. Nov 2006, 18:55 - Beitrag #5

Ich bestehe nicht darauf, dieses Objekt dann noch Quadrat zu nennen :)

Wenn du von der formalen Logik ausgehst, ist nicht klar wie man überprüfen soll, ob man nicht gerade einen "Denkfehler" gemacht hat...

Aber wenn man nicht ausschließt, dass ein Objekt vier und zugleich fünf Seiten haben kann, gibt man zu, dass es Dinge gibt, die sich prinzipiell (also nicht aufgrund der Komplexität oder Messungenauigkeiten etc.) nicht logisch erfassen lassen. Und wenn man das zugibt, wie kann man dann überhaupt noch sicher sein, dass irgendetwas, was einem logisch erscheint, auch logisch ist?

Yanāpaw
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Mi 8. Nov 2006, 19:11 - Beitrag #6

e-noon,

Deine Konklusion ist imo unzulässig. Dass ich nicht weiß, ob es ein 4 und 5 seitiges QuaQuidrat gibt, bedeutet nicht, dass es ein 4 und 4 seitiges Quaquidrat geben muss. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass es ein 4und 5 seitiges Quaquidrat gibt, das sich meinem logischen Verständnis entzieht, aber ein 4 seitiges Quadrat entzieht sich diesem eben nicht. Also kann ich über 4 seitige Quadrate Millionen logisch einwandfreier Aussagen machen, die meinem Wissenstand entsprechen und aller Wahrscheinlichkeit nach werden alle wahr sein, aber und das ist das entscheidene, sie alle werden mit dem Definitonssystem 4 seitiges Quadrat konsistent sein und darauf beruht unser Denken.

Nur weil mir Logik nicht hilft Fragen mit unlogischen Prämissen zu beantworten, bedeutet das nicht, dass Logik grundsätzlich falsch ist, sie ist nur für diese spezifische Anwendung ungeeignet.^^

Es muss in 2 Klassen unterschieden werden, Dinge, die ich nicht verstehen kann und deren Wahrscheinlichkeit ich auch nicht einschätzen kann und Dinge, die ich verstehe und deren Wahrscheinlichkeit, nach meinem Wissenstand hoch ist, deren absolute Wahrheit ich aber a priori nicht beweisen kann.

janw
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Do 9. Nov 2006, 01:54 - Beitrag #7

Das "also" in dem Satz von Descartes ist etwas knackig.
Es gibt mehrere Fassungen des Satzes, in französisch und latein, und das macht die genaue Deutung zu einer linguistischen Aufgabe.
Näheres dazu auf wikipedia und hier :

Descartes benutzt insgesamt sieben verschiedene Formulierungen. Dieser engere Kreis der Cogito-Formulierungen weist drei wichtige Gemeinsamkeiten auf. Es handelt sich stets um singuläre Urteile. Das cogito und das sum ist assertorisch, also eine Aussage kennzeichnend, enthalten. Sie sind die einzigen Formulierungen im Rahmen des Cogito-Argumentes, die mit ergo (frz.: donc) verbunden sind. Dieser Partikel steht seit der Antike für die Einführung einer Konklusion und wird innerhalb des Cogito viel diskuttiert.


Ipsi, vielleicht würde er ja heute "bewusst sein" an die Stelle von "denken" setzen.

IMHO stellt der historische Wandel des überhaupt Denk-baren, die Notwendigkeit zur historisch-kritischen Arbeit, eine Hürde da für die Diskussion philosophischer Denkungsarten verschiedener Epochen auf der heutigen Ebene - es konnte eben nicht zu jeder Zeit alles gedacht werden, und so sind Vergleiche, wie sie zwischen Philosophen einer Epoche möglich sind, interepochal nur bedingt möglich. Oder übersehe ich da etwas?

Ipsissimus
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Do 9. Nov 2006, 10:04 - Beitrag #8

e-noon, dein Einwand ist insofern entkräftbar, als im von dir postulierten Fall dann eben der Gedanke das "ich" wäre, welches in dem Gedanken als Subjekt der Aussage auftritt. Ich möchte es so sagen, es ist schwer vorstellbar, voraussetzungslos "ich" zu sagen. Um "ich" zu sagen, bedarf es des Bewußtseins der eigenen Existenz. Wir können natürlich postulieren, daß Gedanken sich ihrer eigenen Existenz bewußt sein können, aber damit verschieben wir das Problem nur aus dem Bereich unserer Erlebenswelt, in der Gedanken nicht selbst bewußt, sondern vielmehr Mittel sind, Selbstbewußtheit auszudrücken, in einen abstrakten Möglichkeitsraum, ohne daß mir ersichtlich ist, welcher Erkenntnisgewinn mit dieser Verschiebung verbunden wäre (analog: angenommen, alle Eichhörnchen wären Blaubeeren, dann folgt daraus ... ja, aber warum sollten wir das annehmen?)

janw, das ist nicht nur ein zentrales Problem jeder historisch-kritischen Arbeit, sondern auch kritisch-ethnologischer und -anthropozentrischer Arbeiten. Nicht nur die Zeiten unterscheiden sich in ihren Denkbarkeiten, auch die Kulturen

janw
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Do 9. Nov 2006, 13:42 - Beitrag #9

e-noon, man kann das Quadrat auch als geometrische Realisierung der ersten und zweiten Dimension in einer gleichteiligen Struktur begreifen. Damit ist die fünfte Ecke per def. ausgeschlossen.
Ebenso, wenn man das Quadrat als geometrische Form auffasst, deren Fläche betragsmäßig das Quadrat einer Kantenlänge, gleichzeitig das Produkt zweier rechtwinklig zueinander stehender Seiten ist.

Ein Problem unserer zeitlichen Distanz zu Descartes ist eben unsere Auffassung von der Denkkategorie. Wir unterscheiden heute zwischen "denken" und "bewusst sein", was für Descartes notgedrungen eins gewesen sein muss - wobei sich da die Frage stellt, wie er das Sein im Zustand der Bewusstlosigkeit oder des Schlafes bewertet hätte.
Augustinus meinte:"Si fallor, sum - wenn ich zweifle, bin ich", ebenfalls eine Rekursion auf einen Denk-Akt und nicht auf bewusst sein.
Aus heutiger Sicht, wo denken und empfinden als Unterkategorien bzw. als die Ausdrucksformen des bewusst seins aufgefasst werden, (bzw...ist man dann nicht, wenn man in Meditation weder denkt noch empfindet?) könnte man Descartes fragen, warum er nicht "permotus sum [ich bin gefühlsbewegt], ergo sum" gesagt hat, dies umso mehr, als heute klar wird, daß Emotionen und Empfindungen sehr wichtige Triebfedern menschlichen Denkens sind, das Empfinden gewissermaßen dem Denken sehr oft (immer?) voran geht.
Rein hirntechnisch hinkt unser Bewusstsein und damit jeder bewusste Gedanke und jede bewusste Empfindung der neuronalen Befehlsentwicklung hinter her: Noch bevor ich bewusst zum Löffel greifen will, sind die motorischen Zentren im Gehirn schon dabei, die Befehle an die Muskeln auszusenden.

Ipsi, die interkulturellen und anthropozentrischen Probleme in diesem Zusammenhang waren da implizit mitgedacht, aber eine wichtige Ergänzung dennoch :)
Ich war auf wikipedia auf folgendes IMHO Merkwürdige gestoßen:
Rudolf Carnap unterzog diese Aussage von Descartes einer sprachlichen Analyse(1), wonach der Satz zwei logische Fehler enthalte:

* der erste Fehler in Descartes Untersuchungen liegt im Schlusssatz „ich bin“. Das Verbum „sein“ ist hier zweifellos im Sinne der Existenz gemeint, denn eine Kopula kann ohne Prädikat nicht gebraucht werden. Das „ich bin“ des Descartes ist ja auch stets in diesem Sinne verstanden worden. Dann verstößt aber dieser Satz gegen Kants Erkenntnis, dass Existenz nur in Bezug auf ein Prädikat, nicht in Bezug auf einen Nominator (Subjekt, Eigennamen) ausgesagt werden kann; denn „Sein ist offenbar kein reales Prädikat“ (Kritik der reinen Vernunft, B 626).

Das wäre dann ein Verstoß gegen eine noch nicht gewonnene Erkenntnis.
müßte es nicht umgekehrt heißen, daß Kant Descartes widerlegt habe? Davon ist jedoch nirgends explizit die Rede.

e-noon
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Do 9. Nov 2006, 16:24 - Beitrag #10

@Jan: Dein Zitat verstehe ich so, dass Kant meint, Existenz kann keine Eigenschaft sein, die einem Objekt zugesprochen wird, sondern im Begriff des Objekts liegt seine Existenz. Wenn man Existenz nämlich als Eigenschaft auffassen würde, könnte man über einen Ball sagen: Dieser Ball ist rund, blau und existent", aber wenn ich sage, "Der Ball ist rund", dann ist klar, dass der Ball IST (nicht im Sinne eines Hilfsverbes). Imo ist es daher nicht unbedingt ein Fehler, wenn Descartes sagt, "ich denke, also bin ich", sondern schlicht eine Tautologie. Im "Ich denke", oder im "ich", ist das Sein schon enthalten.

@Quadrat: Ja, die fünfte Ecke ist per definitionem ausgeschlossen. Aber meiner Meinung nach ging Descartes nicht vom reinen Begriff des Quadrats aus, sondern er meinte, dass ein Ding fünf Seiten haben könne und dennoch alle Eigenschaften habe, um Quadrat genannt werden zu müssen.

Deutlicher zeigt sich das vielleicht in seiner Behauptung "ich kann nicht sicher sein, ob 2 + 3 = 5 sind". Hier zweifelt er eindeutig an, dass man sicher davon ausgehen kann, dass man die Logik richtig erfasst. Wenn "2 + 3 = 5" nicht mehr gilt, dann gilt auch "5=5" nicht mehr unbedingt, und dann gilt auch "1 = 1" nicht mehr unbedingt, und dann gilt auch "ich existiere = ich existiere" vielleicht nicht mehr ^^ Puh ist das schwierig zu erklären.

Zur Logik: Dass man etwas logisch findet, heißt doch letztlich, dass es einem so einleuchtet, dass es kaum falsch sein kann. Aber es kommt immer wieder vor, dass ein Mensch etwas logisch findet und ein anderer dasselbe unlogisch; und spätestens wenn hier Evidenz gegen Evidenz steht, kann man imo nicht mehr von sicherem Wissen sprechen.

Ipsissimus
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Do 9. Nov 2006, 17:12 - Beitrag #11

e-noon, Logik funktioniert nur vor einem Hintergrund per Konvention als gesichert geltenden Wissens, z.B. des Weltwissens einer Sozialisationsgemeinschaft aka "Kultur". Da ist durchaus ein Trainingsaspekt drin enthalten. Einem Kind kann der Drache vor der Tür, vor dem es gerade in die Arme der Mutter gelaufen ist, absolut evident sein, genau so evident wie für dich als Mutter das Wissen um die blühende Phantasie deines Kindes. Und wenn Mutter und Kind dann gemeinsam nachschauen, ist der Drache halt schon wieder gegangen. Weise dem Kin nach, daß er nie da war. Unmöglich. Im Laufe der Zeit lernt das Kind über allgemeines Weltwissen, daß Drachen nicht existieren. Das dauert aber ne Weile.

Wenn es diesen Corpus allgemein geteilten Weltwissens gibt, bietet die Logik Werkzeuge zur Verknüpfung von Wissen zu neuem Wissen, wobei das Weltwissen als Prämissenlieferant dient. Da, wo dieser konsensbasierte Corpus verlassen wird, wird Logik nicht mehr interindividuell funktionieren.



Aber das ist eigentlich alles schon sehr lange klar. Im frühen Mittelalter konnten die Menschen sich noch gewiss sein, über absolutes Wissen zu verfügen. Wir verfügen nur noch über Wahrscheinlichkeiten, die aber immerhin ausreichen, um beeindruckende technologische Errungenschaften hervorzubringen. Das ändert natürlich nichts daran, daß sich viele Menschen nach absoluter Gewissheit sehnen. Die begehen dann entweder das sacrificio intellectu oder schaffen sich ihr eigenes Narrenparadies.


janw, ich denke, Carnap weist Descartes in dem Zitat eine Tautologie nach, wie es auch schon e-noon angesprochen hat. Sowohl "Ich" als auch "denke" benötigt schon inhärente Existenz, also ist der Satz insofern ein Zirkelschluss, als von Existenz auf Existenz geschlossen wird. Descartes kann nicht hinter die Existenz zurücktreten, um quasi "von außen" über Existenz ein Urteil abzugeben. Insofern ist sein berühmtes Cogito eine Trivialität "ich bin, also bin ich".

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Do 9. Nov 2006, 18:03 - Beitrag #12

Wobei man Carnap entgegen halten kann, daß die Gleichsetzung von "sein" und "existieren" nicht unproblematisch ist: Worin besteht der Unterschied, ob jemand sagt „ich existiere“ oder er sagt „ich bin existent“?

Der "Witz" an der Sache Carnaps ist aber zumindest nach der wiki-Erläuterung, daß der dortige Satz
Dann verstößt aber dieser Satz gegen Kants Erkenntnis

einen Verstoß gegen eine noch gar nicht gewonnene Erkenntnis bedeutet. Eher umgekehrt würde ein Schuh daraus, Kant widerlegt (vielleicht) Descartes.

Wie dem auch sei, in meinen Augen ist der Satz von Descartes in seiner logischen Unausgereiftheit, vor allem aber in seiner unbedingten Ausblendung all dessen, was mit emotionaler Welterkenntnis zu tun hat, einer der im negativen Sinne folgenreichsten der bekannten Menschheitsgeschichte.
Die Inanspruchnahme der ratio lieferte eines der wirkmächtigsten Argumente zur Unterwerfung der "unvernünftigen, primitiven" Völker, wenn Religion nicht mehr zog und Macht zu schmutzug erschienen wäre.
Zugleich wirkt die damit verbundene ultimative Geringschätzung aller anderen Wege zur Gewinnung von Weltbildern im europäischen Bild vom Rest der Menschheit bis heute fort.
So gesehen müsste auch philosophische Erkenntnis durch Ethik-Kommissionen geprüft werden, eigentlich...

e-noon
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Do 9. Nov 2006, 18:27 - Beitrag #13

@Jan: Es meint wohl dasselbe, aber genau genommen kann man statt "ich bin existent" etwa als "ich bin am sein" oder "ich bin seiend" übersetzten, was also das "bin" von "ich bin" wiederholt. Ein Pleonasmus, anders ausgedrückt. Aber umgangssprachlich wäre das auch ok, finde ich.

Ich sehe eigentlich kein Problem darin, dass man gegen eine noch nicht gewonnene Erkenntnis verstößt. Wenn zum Beispiel frühere Physiker meinten, man könnte ein Objekt immer stärker beschleunigen und irgendwann Millionen km/s erreichen, dann verstießen sie gegen unsere heutige "Erkenntnis", dass sich kein Objekt schneller als das Licht bewegen kann. Da sie es noch nicht kannten, haben sie natürlich nicht bewusst dagegen verstoßen, aber aus unserer rückwärtigen Sicht schon.

@Ethikkommision: Doch nur die praktischen Auswirkungen, oder? Man verbietet doch i.A. nur die praktischen Auswirkungen bestimmter wissenschaftlicher Forschungen oder die praktischen Methoden, aber nicht die Ideen selber. Übertragen hieße das: Nicht die Glorifizierung der ratio würde verboten, sondern die praktische Folge der Unterdrückung anderer Völker.

Logik funktioniert nur vor einem Hintergrund per Konvention als gesichert geltenden Wissens
Das will ich damit ausdrücken, wenn ich auch denke, dass wir als menschliche Wesen (Erwachsene sowieso) gewisse Ideen automatisch für evidenter halten als andere. Ich bestreite auch nicht, dass die Logik praktisch und intersubjektiv ist und sein kann (s. Ende des Essays). Aber ob sie die Welt richtig beschreibt, können wir imo nicht wissen. Und somit können wir auch nicht wissen, ob
a) unsere Prämissen richtig sind und
b) die Schlussregeln richtig sind und
c), wenn beides richtig ist, ob wir es richtig anwenden und das Ergebnis richtig verstehen.

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Do 9. Nov 2006, 18:44 - Beitrag #14

Und somit können wir auch nicht wissen, ob
a) unsere Prämissen richtig sind und
b) die Schlussregeln richtig sind und
c), wenn beides richtig ist, ob wir es richtig anwenden und das Ergebnis richtig verstehen.

damit läufst du bei mir offene Türen ein^^ mal schauen ob ernesto hier rein schaut^^

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Do 9. Nov 2006, 18:56 - Beitrag #15

Freut mich zu hören ^^

Meiner Meinung nach folgt daraus, dass wir uns der Ergebnisse unserer logischen Überlegungen nicht sicher sein können, automatisch, dass wir uns keiner Sache mehr sicher sein können. Zumindest, wenn man Logik (/außerordentliche Evidenz) als letzte Basis betrachtete, wie es imo bei Descartes der Fall ist; wenn auch nicht in letzter Konsequenz.

Wenn Descartes nämlich nicht mal 2 + 3 = 5 (also eine mathematische Tautologie, wenn man das so nennen darf) als sicher akzeptierte, wieso dann eine logische - also das "ich denke --> ich bin" ?

Ipsissimus
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Do 9. Nov 2006, 20:49 - Beitrag #16

dabei darf man aber nicht vergessen, daß Descartes immer noch in Kategorien absoluter Wahrheiten dachte. 3+2 = 5 ist nicht Folge von Wahrheiten, sondern Folge einer Axiomatik, die man akzeptieren kann oder nicht. Wenn man sie akzeptiert, gibt es da keinerlei Unsicherheit.

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Do 9. Nov 2006, 20:50 - Beitrag #17

Welche Axiomatik?

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Do 9. Nov 2006, 20:59 - Beitrag #18

Die Axiomatik, daß 2 = |2|, 3=|3|, 5=|5| und jedes das jeweils 2, 3 bzw. 5fache von 1, das selbst die kleinste ganze natürliche Zahl >0 ist.

e-noon
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Do 9. Nov 2006, 21:16 - Beitrag #19

Und wie könnte man das anzweifeln, ohne sinnvoll die Logik anzuzweifeln?

janw
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Do 9. Nov 2006, 22:06 - Beitrag #20

Man muss dies als Aussage akzeptieren, dann kann man darauf logische Aussagen aufbauen.
Wenn man es anzweifelt, greift man natürlich auch darauf basierende logische Aussagen an, die in einem geänderten Axiomensystem möglicherweise nicht mehr dieselbe logische Richtigkeit aufweisen.

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