Ataraxie, Unerschütterlichkeit - Endziel aller Skepsis?

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
janw
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Sa 2. Dez 2006, 01:17 - Beitrag #1

Ataraxie, Unerschütterlichkeit - Endziel aller Skepsis?

Kürzlich stieß ich auf den Begriff der Ataraxie, der eine geistige Unerschütterlichkeit bezeichnet, welche von der griechischen Denkschule der Skeptiker (und Stoiker?), u.a. von Demokrit und Diogenes, als anzustrebendes Ziel der geistigen Entwicklung postuliert wurde.

Das Erreichen der Ataraxie sollte demnach an eine Enthaltung von jeglichen Urteilen über die Dinge geknüpft sein.

Mir drängen sich dabei einige Fragen auf, nämlich, wie grundlegend eine skeptische Haltung mit einer Enthaltung von Urteilen begründet oder gar gefordert werden kann - ist Skepsis nicht Ausdruck gerade einer ausgeprägten Urteilsbildung über Dinge, oder ist dies nur eine modernistische Umdeutung?

Zum anderen will mir scheinen, daß die bewusste Enthaltung von Urteilen ein äußerster Erkenntnisschritt ist, der unabhängig voneinander mehrfach gedacht worden ist. Ist dem so, und wussten die Griechen, was später im Buddhismus ebenfalls gedacht wurde?

Traitor
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Sa 2. Dez 2006, 11:34 - Beitrag #2

Skepsis ist Urteilsbildung über Urteile über Sachverhalte, nicht über die Sachverhalte selbst. Ein auf die Spitze getriebener Skeptizismus urteilt in der Tat nicht mehr über die Welt, da dies viel zu unskeptisch wäre, sondern nur noch über fremde und eigene Urteile, wobei er diese Urteile über Urteilte dann direkt wieder beurteilen muss, da auch sie ja aus Prinzip nicht gültig sein können...
Ein absoluter Skeptizismus ist absolut unproduktiv. Und somit natürlich perfekt geeignet für jede Gruppierung, die das geistige Heil in möglichst weitgehender Abtrennung von der Welt suchen.
Und nein, ich halte den totalen Skeptizismus nicht für einen "äußersten Erkenntnisschritt", sondern für eine finale Abkehr vom Prinzip der Erkenntnis.

Yanāpaw
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Sa 2. Dez 2006, 18:59 - Beitrag #3

Ataraxie ist das Ideal eines ethischen Ziels, es beschreibt die Seelenruhe, die man nicht anstreben kann, vielmehr stellt sie sich bei korrektem Verhalten selbstständig ein. Zum einen fordert der Pyrrhonismus (Demokrit hatte sich mehr mit Materialismus beschäftigt, der "Vater" der Ataraxie war Pyrrhon) die strikte Enthaltung von der Urteilsbildung mit Absolutheitsanspruch, was weder die Erkenntnis noch die Reflektion ausschließt, lediglich das Formulieren eines absoluten Ergebnis, zum anderen ist die Abkehr von Emotionen und Verhalten, das die Seelenruhe gefährdet, essentiell. Daher ist ein Streben nach Ataraxie nicht möglich, weil das Streben an sich die Seelenruhe auschließt.

Skeptizismus urteilt überhaupt nicht, weder über Tatschen noch über Urteile anderer, er legt nur die Unbeweisbarkeit des Urteils fest und deklariert damit die Bildung jeglichen Urteils als ineffizient und falsch, was auf den ersten Blick paradox anmutet, es aber nicht ist, weil das Urteil über die Notwendigkeit des Skeptizismus ja aus dem einzig zulässigen Urteil der Unbeweisbarkeit und des Nicht-Wissens resultiert.
In etwas entschärfter Form findet sich das Ziel der Ataraxie auch bei Marc Aurel und Seneca wieder, wobei diese mehr auf das Erreichen der inneren Autarkie eingehen, als auf den erkenntnistheoretischen Skeptizismus.

Ipsissimus
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Mo 4. Dez 2006, 14:33 - Beitrag #4

"ataraxia" bezeichnet bei Epikur im Grunde nichts anderes als die Fähigkeit eines Menschen, gegenüber allen Sachverhalten, die diesem Menschen widerfahen -seien sie angenehmer wie unangenehmer Natur jeglichen Grades - die innere Haltung der Affektlosigkeit und emotionalen Gelassenheit einzunehmen. Am Punkte der Gelassenheit trennt sich ataraxia von apatheia, welche inneren Gleichmut, im Grunde innere Gleichgültigkeit fordert, in dieser Form sich schon als scharfe Forderung bei den "Hunden" (den Kynikern) findet und in ebenso scharfer Form von den Kyrenaikern zurückgewiesen wird. Bei Pyrrhon von Elis finden sich noch beide Begriffe, ohne daß aufgrund der schwierigen Quellenlage klar wäre, welchen Unterschied er damit verband, und wohl kaum viel mehr gesagt werden kann, als daß Pyrrhon die Sache so sieht, daß schon das Streben nach Gelassenheit diese in Frage stellt (wobei es sich selbst dabei eher um eine neupyrrhonisch-stoische Deutung handelt, von Pyrrhon selbst ist so gut wie nichts überliefert, aber da muss ich noch mal bei Diogenes Laertios nachschlagen).

"ataraxia" ist jedenfalls der zentrale Begriff der ethischen Reflexionen Epikurs, und in seiner Auffassug wurde er historisch wirksam bis weit ins dritte nachchristliche Jahrhundert hinein, bis mit der Ernennung des Christentums zur römischen Staatsreligion Epikurs Verfemung einsetzte, motiviert durch seine Leugnung göttlichen Einflusses und nachlebensweltlicher Sühne.

Die "hedoné" Epikurs ist nicht jene des Aristipp von Kyrene.

Jener - Aristipp - formulierte die Maximierung des persönlichen Lustgewinns als höchstes Ziel. Dabei sah er - im Gegensatz zu anderen Philosophen - die Fähigkeit als zentral an, sowohl den Überfluss angemessen genießen, als auch in der Armut angemessen gelassen bleiben zu können. Der erste Aspekt brachte ihm den Ruf des ersten Hedonisten im heutigen Sinne ein, obwohl er genau das nicht war.

Demgegenüber weitet Epikur die Gelassenheitskonzeption auf beide Zustände - Überfluss und Mangel - aus, denen gleichermaßen gelassen entgegengetreten werden soll (aber eben auch nicht - wie es die Kyniker forderten - mit Verachtung). Dies geschieht in der Überwindung der drei Zustände Furcht, Schmerz und Begierden.


wir können also drei ataraxia-Auffassungen knapp gegeneinander unterscheiden

Kyniker:
Verachtung des Überflusses, zumindest Bevorzugung des Mangels, um die Unabhängigkeit der Affektlage daran schulen zu können. Kyniker waren oft Asketen.

Kyrenaiker
wenn meine Lebensumstände zu meiner Annehmlichkeit gestaltet sind, genieße ich meine Glück in vollen Zügen, wenn ich im Elend lebe, bleibe ich diesem gegenüber voller Gelassenheit und hadere nicht mit dem Schicksal

Epikur
Überfluss und Mangel werden mit gleicher Gelassenheit hingenommen



Wie erreicht mensch nach Epikur also Ataraxia? Zunächst möge mensch sich das "Tetrapharmakon" verinnerlichen, das sich in folgendem Zitat manifestiert:

"Wenn uns nicht die Vermutungen über die Himmelserscheinungen und die angstvollen Gedanken über den Tod, als ob er uns irgendetwas anginge, ferner die mangelnde Kenntnis der Grenzen von Schmerzen und Begierden belastete, brauchten wir keine Naturphilosophie.“

Daraus ergeben sich ein paar einfache Regeln:

1) Der Grundbedarf für ein leidensfreies Leben ist leicht zu beschaffen; niemand benötigt also Dinge, um die er erst kämpfen müsste (Absage an Luxus um des Luxus willen)

2) Wer sich nicht in jeder Lebenssituation die seiner Natur entsprechenden Ziele setzt, wird nicht zu einer Übereinstimmung zwischen Denken und Handeln gelangen (Absage an aufgesetzten und unangemessenen Ehrgeiz)

3) Da ein Weiser alle wichtigen Angelegenheiten des Lebens vernünftig bedacht hat und sich angemesen darauf eingestellt hat, kann er schlimmstenfalls noch in Kleinigkeiten durch Zufälle überrascht werden (Absage an Plan- und Gedankenlosigkeit und intellektuelle Gleichgültigkeit)

4) "Der Zwang ist schlimm; doch es besteht kein Zwang, unter Zwang zu leben." (Absage an den Selbsterhaltungstrieb als letzter "Gier" des Menschen, prinzipielle Zustimmung zum Freitod als Wahlmöglichkeit eines Menschen)


als private Anmerkung sei noch hinzugefügt, daß die ataraxia-Auffassung des Aristipp am ehesten dem zen-buddhistischen Geist entspricht, obwohl die offizielle Lehre eher Ähnlichkeiten mit der des Epikur aufweist. Viele Zenmeister werden das anders sehen^^

e-noon
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Mo 4. Dez 2006, 18:46 - Beitrag #5

@Ipsissimus: Bist du sicher, dass Epikur dem Menschen Gelassenheit gegenüber Annehmlichkeiten empfahl, und nicht Freude wie die Kyrenaiker? Ich meine mich nämlich zu erinnern, dass ich von Epikur etwas in dem Sinne gelesen habe "meide häufige Festmäler, um dich an den seltenen Gelegenheiten mehr erfreuen zu können", oder so ähnlich.

Ipsissimus
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Di 5. Dez 2006, 10:33 - Beitrag #6

e-noon, mensch tut gut daran, die Situation bei "den alten Philosophen" nicht übermäßig auf logische und/oder inhaltliche Stringenz hin zu strapazieren, selbst nicht bei einem dermaßen auf Logik als zentralem Element der Lebensführung eines Weisen verpflichteten Denkers wie Epikur. Die haben alle noch ziemlich "frei Schnauze" gedacht und geredet, und was uns heute als logisch unvereinbar vorkommt, muss ihnen damals noch lange nicht so vorgekommen sein; und zumindest die extreme Zuspitzung von heute war ihnen völlig fremd (ließ dir mal den "streng logischen" Sokrates des Platon darauf durch, wieviele willkürliche Sprünge in der Gedankenführung du findest, es sind Unmengen). So hat sich z.B. Epikur als einer der ersten explizit gegen Sklavenhalterei ausgesprochen. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, Zeit seines Lebens Sklaven in seinem persönlichen Besitz zu haben, denen er erst die Freiheit schenkte, als es für ihn ans Sterben ging.

Daher sehe ich das, worauf du hinweist, eher als ein geringfügiges Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Lebensführung an. Epikur ist ja kein Kyniker, also ist ihm Genuß nicht per se widerwärtig, im Gegenteil, Lebenslust ist ein selbstverständlicher Teil Epikureischer Ethik. Es darf nur nicht dazu kommen, daß der Genuß oder die Sucht nach Genuß zur Beeinträchtigung der ataraxia führen. Aristipp ist demgegenüber "ekstatischer", wenn die Umstände es ihm erlauben.

Bowu
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So 17. Dez 2006, 13:22 - Beitrag #7

Zitat von janw:Mir drängen sich dabei einige Fragen auf, nämlich, wie grundlegend eine skeptische Haltung mit einer Enthaltung von Urteilen begründet oder gar gefordert werden kann - ist Skepsis nicht Ausdruck gerade einer ausgeprägten Urteilsbildung über Dinge, oder ist dies nur eine modernistische Umdeutung?


Falls du ein Urteil als etwas ansiehst, dass entweder bejahend oder verneinend ist, dann würden zumindest die pyrrhonischen Skeptiker nicht von sich sagen, dass sie urteilen. Denn erst durch das Gleichgewicht des für und wider - erst durch die Unentscheidbarkeit - haben sie die Ataraxie erreicht.

(Ich betrachte das Wort modernistisch als äquivalent zu modern...)
Urteilsenthaltung als Urteil und damit als (ein) Kern der Gnoseologie ist in dieser Hinsicht durchaus modern - Meinem Laienverständnis nach wurde solch eine Position vor allem von den akademischen Skeptikern vertreten, und wenn heute über Skeptiker geredet wird, dann habe ich den Eindruck, dass man dann meist über diese "gemäßigteren" Skeptiker redet.
Den pyrrhonischen Skeptikern war dagegen die Abgrenzung von diesen sehr wichtig.

kurz gesagt könnte man die Positionen so konterkarieren:
akademische Skeptiker: urteilen, dass die Wahrheit unerkennbar ist.
pyrrhonische Skeptiker: führen an, dass die Wahrheit unerkennbar sei, urteilen aber nicht darüber

,da sie auch ihre zentralen Lehrsätze nicht von der Skepsis ausnehmen.


Am meisten Kopfschmerzen macht mir bei der Betrachtung der pyrrhonischen Skepsis die Erklärung der Tropen von Sextus Empiricus, genauer, dass er sagt, dass die Seelenruhe notwendiger Weise aus der Urteilsenthaltung folgt. Diese Notwendigkeitsbehauptung scheint für mich völlig unskeptisch, und vor allem nicht notwendig (i.S.v. nötig), da eine Aussage wie "Mir scheint die Urteilsenthaltung zur Seelenruhe zu führen" kaum weniger Autorität entwickelt als diese Art der Universalisierung.

janw
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Mo 18. Dez 2006, 03:34 - Beitrag #8

Bowu, hat vielleicht der Begriff der Skepsis einen leichten Bedeutungswandel durchgemacht, hin zu einer Fast-Synonymisierung mit "Kritik", gleichsam als deren gewähltere Umschreibung?

ad Ipsissimum muss ich morgen antworten, die Zeit fordert ihren Tribut...

Bowu
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Mo 18. Dez 2006, 12:09 - Beitrag #9

Wenn wir über Common Sense reden, dann würde ich das sogar noch verschärfen. Skepsis wäre demnach soetwas wie Zurückhaltung in der Bejahung - ohne Gegenargumente - ohne kritische Reflexion. (Eher soetwas folgend wie "Vorsicht ist besser als Nachsehen"). Die meisten Leute (so meine ich) sind demnach Dingen gegenüber oft skeptisch bevor sie sich mit ihnen beschäftigen, und damit noch nicht einmal kritisch.
Im Gegensatz findet man wohl kaum jemanden, der nach Jahrelanger Untersuchung einer Sache sich noch skeptisch nennt. (wohlmöglich, dass das nicht Urteilen einfach unserer Auffassung von Wissenschaft widerspricht, denn die Will Ergebnisse)

Ipsissimus
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Do 21. Dez 2006, 13:06 - Beitrag #10

Skepsis wäre demnach soetwas wie Zurückhaltung in der Bejahung - ohne Gegenargumente - ohne kritische Reflexion.


Skepsis entspringt in seiner modernen Form wohl eher aus der Einsicht, wie leicht es ist und wie häufig es vorkommt, durch geschickte Manipulation oder übermäßige Simplifizierung komplexer Sachverhalte u.dgl. zu Fehlbewertungen verleitet zu werden, so daß mensch sich mit der Bewertung lieber solange zurückhält, bis seine Datensammlung hinreichend valide Bewertungen wahrscheinlich macht. Skepsis modener Form wäre demnach eher eine Metahaltung, die aus dem allgemeinem Wissens- und Erfahrungsfundus entspringt, den ein hinreichend lange lebender Mensch angesammelt hat.

Fehlende kritische Reflexion unterstelle ich eher Menschen, die vorschnell bejahen, obwohl sie wissen könnten, daß sie nicht wissen können, ob sie zu Recht bejahen.


Zu Empiricus noch ein Wort

ich denke "Urteilsenthaltung" ist keine intellektuelle Haltung, sondern eine "ganzheitliche", will sagen, Urteilsenthaltung darf nicht in der Weise erfolgen, daß mensch sich mit Willenskraft dazu zwingt, Bewertungen, die quasi von selbst in ihm stattfinden, zu ignorieren oder zu unterdrücken. Vielmehr wird mensch im Laufe einer langjährigen Entwicklung das Bewußtsein von der Fraglichkeit allen Bewertens soweit kultivieren, daß es so weit in ihm eingesickert ist, daß sein Geist von sich aus immer weniger und schließlich gar keine Urteile mehr produziert. Für diesen Fall sagt Empiricus Ataraxie als Folgephänomen voraus.

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Do 21. Dez 2006, 14:04 - Beitrag #11

Wie kann man unerschütterlich werden wollen und trotzdem ein Endziel haben?

Wenn man das Ziel nicht erreicht, wäre man erschüttert. Ein absolutes Ziel kann man jedoch nie erreichen. Wäre es dann nicht besser, zumindest im Relativen, ziellos zu sein?

Wie kann man unerschütterlich sein und gleichzeitig skeptisch?

Setzt die Skepsis nicht auch vorraus, dass man von einem bequemen Ufer der Anschauung, des Wissens, auf ein anderes unbequemes schaut und sich auf die Reise nach anderen Ufern macht, während viele Wahrheiten mit dem Wasser fließen?

Hmmm... :)

Ipsissimus
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Do 21. Dez 2006, 14:32 - Beitrag #12

Wenn man das Ziel nicht erreicht, wäre man erschüttert.


zwingend ist das zwar nicht (in Gedanken mal alle meine nichterreichten Ziele durchgehe und bei den allermeisten vergeblich nach Erschütterung suche^^) aber der Schlussfolgerung daraus, hinsichtlich der relativen Ziele, stimme ich durchaus zu

Wie kann man unerschütterlich sein und gleichzeitig skeptisch?


aufgrund der merkwürdigen Fähigkeit der menschlichen Psyche, einander logisch ausschließende Sachverhalte psychologisch so miteinander zu verbandeln, daß wir uns ihnen beiden in gleicher psychologischer Behaglichkeit hingeben können, ohne uns an ihrer logischen Unvereinbarkeit im geringsten zu stören^^ der Heißhunger auf Schokolade und der Wunsch, abzunehmen, toben gleichzeitig^^

Skepsis ist heute einerseits selbstverständlich, andererseits so unbeliebt wie immer. Alle, die verstanden haben, daß wir uns mit Wahrscheinlichkeiten statt mit Gewissheiten zufrieden geben müssen, sind im Grunde Skeptiker, auch wenn sie es aus praktischen Gründen nicht immer ausleben. Alle anderen sind halt im Mittelalter stehengeblieben^^

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Do 21. Dez 2006, 17:58 - Beitrag #13

Ich denke, dass absolute Ziele, also Endziele, höchstens als Richtungsgeber funktionieren können, und das muß ja nicht schlecht sein.

Erschütterung, was könnte das bedeuten? Ist man schon erschüttert, wenn man zweimal mehr mit der Wimper klimpert? ;)

Mich werden immer wieder bestimmte Dinge in der Welt erschüttern, egal wie skeptisch ich in Zukunft bin. Mit erschüttern meine ich das Gefühl tiefer Trauer, Traurigkeit und Teilnahme, wenn ich z.B. leidende Menschen sehe.

Sollte mit Unerschütterlichkeit das Festhalten an bestimmten Weltanschauungen gemeint sein, dann muß ich sagen, dass dies auch viel mit dem Alter und der Einstellung eines Menschen zu tun hat, nicht alleine mit der Skepsis. Die Skepsis alleine auf die Weltanschauungen anderer Menschen anzuwenden, halte ich für vermessen. Das passiert nach meinen Beobachtungen oft bei älteren Menschen, auch wenn selbstverständlich niemand jüngeren Alters vor dieser Torheit gefeit ist. (Vor allem in der Anfang-Zwanziger-Ich-bin-unsterblich-Zeit. *g*)

Zitat von Ipsis Antwort: Wie kann man unerschütterlich sein und gleichzeitig skeptisch?

aufgrund der merkwürdigen Fähigkeit der menschlichen Psyche, einander logisch ausschließende Sachverhalte psychologisch so miteinander zu verbandeln, daß wir uns ihnen beiden in gleicher psychologischer Behaglichkeit hingeben können, ohne uns an ihrer logischen Unvereinbarkeit im geringsten zu stören^^ der Heißhunger auf Schokolade und der Wunsch, abzunehmen, toben gleichzeitig^^

Skepsis ist heute einerseits selbstverständlich, andererseits so unbeliebt wie immer. Alle, die verstanden haben, daß wir uns mit Wahrscheinlichkeiten statt mit Gewissheiten zufrieden geben müssen, sind im Grunde Skeptiker, auch wenn sie es aus praktischen Gründen nicht immer ausleben. Alle anderen sind halt im Mittelalter stehengeblieben^^
Ich gebe zu, ich kenne das seltsame Skepsisverständnis mancher Menschen, so wie ich die Seltsamkeit mancher Menschen anerkenne. *g* Allerdings reizt mich Unerschütterlichkeit als Endziel auf der einen Seite und Skepsis auf der Anderen, wohl gerade deswegen so sehr zum Widerspruch, weil ich die Skepsis ungerne begrenzt sehe, sondern am liebsten auf alles, mich eingeschlossen, anwende. Das heißt, nichts ist wirklich endgültig oder definitiv.
Ich glaube es war bei Wikiquote, wo ich folgendes Zitat fand, es soll von T.H. Huxley stammen: "Jede neue Wahrheit beginnt ihren Weg als Ketzerei und beendet ihn als Orthodoxie."

janw
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Do 21. Dez 2006, 19:32 - Beitrag #14

Zitat von Ipsissimus:als private Anmerkung sei noch hinzugefügt, daß die ataraxia-Auffassung des Aristipp am ehesten dem zen-buddhistischen Geist entspricht, obwohl die offizielle Lehre eher Ähnlichkeiten mit der des Epikur aufweist. Viele Zenmeister werden das anders sehen^^

Das heißt, "Geist" und offizielle Lehre des Zen-Buddhismus weichen voneinander ab, bzw. letztere verkörpert nicht (mehr?) den Geist dessen, was zu lehren sie beansprucht?
Immerhin, von der inhärenten "Logik" her kann die Sicht Epikurs überlegen erscheinen, weil er die Forderung der Gelassenheit, gleich verteilt, und mir kam bei der zu überwindenden Affekttrias Furcht, Schmerz und Begierden eine Assoziation zu den "Geistesgiften" Bindung oder Gier, Hass, Unwissenheit, zugleich erscheint mir diese Haltung als die asketischere - Gründe für ihre offizielle Bevorzugung?
Aristipp erscheint mir für die Praxis anspruchsvoller - sich dem Genuss von Wein und anderem hinzugeben, wenn sie gerade vorhanden sind, und sie dennoch nicht zu missen, wenn es an ihnen mangelt, bedarf doch einiger Zügelung^^

Zitat von Traitor:Und nein, ich halte den totalen Skeptizismus nicht für einen "äußersten Erkenntnisschritt", sondern für eine finale Abkehr vom Prinzip der Erkenntnis.

Was aber, wenn diese finale Abkehr Ausfluss der Einsicht ist, nichts letztgültiges erkennen zu können?
Die Frage, wie mensch damit praktisch umgeht, ist doch eine andere - das rotgrüne runde Ding vor mir sieht aus wie ein Apfel, wird also wohl einer sein, und so reicht mir die recht große Wahrscheinlichkeit, daß es einer ist, aus, um mit ihm das anzustellen, was ich für gewöhnlich mit Äpfeln zu tun pflege.

Zitat von Bowu:Die meisten Leute (so meine ich) sind demnach Dingen gegenüber oft skeptisch bevor sie sich mit ihnen beschäftigen, und damit noch nicht einmal kritisch.
Im Gegensatz findet man wohl kaum jemanden, der nach Jahrelanger Untersuchung einer Sache sich noch skeptisch nennt. (wohlmöglich, dass das nicht Urteilen einfach unserer Auffassung von Wissenschaft widerspricht, denn die Will Ergebnisse)

Ich sehe das ähnlich wie Ipsi, ich sehe in der Skepsis grundlegend den Ausdruck dessen, daß man sich überhaupt mit der Frage der Urteilsbildung über eine Sache befasst hat - eigentlich müsste hierfür der Begriff der Differenz eingeführt werden - und sich dann eben der Urteilsbildung enthalten hat, Ausdruck kritischer Reflexion also.
Nun, und Wissenschaftler sind oft in ihre Arbeit verliebt^^ - was nicht unbedingt einer hinreichenden kritischen Distanz zu den eigenen Befunden zuträglich sein muss. Ob eine Wissenschaft, die Ergebnisse will, auf dem Holzwege ist, wäre mal ein gutes Thema...
Andererseits, Wissenschaft wird von Menschen gemacht, und die wollen bekanntlich viel^^

Vielleicht rührt "unsere" Ungelassenheit hinsichtlich der heutigen Begriffskonnotation der Skepsis auch daher, daß wir heute mit so vielen Entscheidungsfragen konfrontiert sind, und daß jeder irgendjemanden kennt, der mittelbar von einem Urteil über eine Sache betroffen ist. Sag mal einem befreundeten Gentechniker, daß Du hinsichtlich seiner Freisetzungsversuche von herbizidresistenten Pflanzen unentschieden bist, weil Du nicht alles Wissensnotwendige als bekannt erachtest.^^
So gesehen, könnte Skepsis weitaus gefährlicher sein als Urteile.

EDIT:
Daher sehe ich das, worauf du hinweist, eher als ein geringfügiges Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Lebensführung an.

Naja, der Vorwurf der persönlichen Inkonsequenz wird von interessierter Seite auch Marx und Engels gegenüber geäußert. Keine Rede aber davon, daß er vielleicht gerade wegen seines Lebenshintergrundes zu seinen Einsichten gekommen ist...
Der Revolutionär hat ein armer Schlucker aus ärmsten Verhältnissen mit lebenslang asketischer Lebensweise zu sein^^

janw
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Do 28. Dez 2006, 02:05 - Beitrag #15

Ataraxia und die Machtfrage

Bei weiterem nachdenken über diesen Gegenstand kam mir die Frage, wie das Erstreben der Gelassenheit, ja Gleichgültigkeit zu vereinbaren ist mit der Erregung über die realen Mißstände in der Welt und dem daraus resultierenden Bestreben, diese ein Stück weit anzugreifen.
Läuft es auf ein neues "Lieb Vaterland magst ruhig sein..." hinaus, oder schärft es eher den Blick für die Hintergründe all dessen, was an Übel einem begegnet?
Nach angerissener Lektüre von Bourdieu und Derrida scheint mir dem so zu sein, aber was sagt Ihr dazu?

Ipsissimus
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Mo 1. Jan 2007, 15:42 - Beitrag #16

Das heißt, "Geist" und offizielle Lehre des Zen-Buddhismus weichen voneinander ab, bzw. letztere verkörpert nicht (mehr?) den Geist dessen, was zu lehren sie beansprucht?


ich verweise dazu auf meine Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Zenmeistern und der Buddhistischen Kirche Japans, die ich in einem der Buddhismus-Threads hier im Philosophicum schon abgegeben habe. Kurzgefaßt ist es daselbe Spannungsverhältnis wie jenes zwischen den häretischen christlichen Mystikern à la Meister Eckehardt zu den scholastischen Theologen seiner Zeit. Es geht im Zen nicht um Religion, aber die Kirche versucht, eine Religion draus zu machen.

Immerhin, von der inhärenten "Logik" her kann die Sicht Epikurs überlegen erscheinen, weil er die Forderung der Gelassenheit, gleich verteilt, und mir kam bei der zu überwindenden Affekttrias Furcht, Schmerz und Begierden eine Assoziation zu den "Geistesgiften" Bindung oder Gier, Hass, Unwissenheit, zugleich erscheint mir diese Haltung als die asketischere - Gründe für ihre offizielle Bevorzugung?


das Zen der Zenmeister kennt keine Bevorzugung einer speziellen Lebensweise. Die Qualität einer Zenpraxis erweist sich in jeder realen Situation, mit der ein Mensch fertig werden muss, und nicht darin, ob es einem Menschen gelingt, seine Lebensumstände so zu gestalten, daß er nicht mehr in Situationen gerät, in denen er mit etwas fertig werden muss.

Es gibt eine schöne Geschichte, die das illustriert.

Ein paar Zenmönche und ihr Meister sind bei einem armen Laien zum Essen eingeladen. Der Laie gibt sich viel Mühe, tischt auf, was er nur irgendwie aufbringen kann. Leider weis er nicht, daß die Mönche ein Gelübte abgelegt haben, kein Fleisch zu essen; entsprechend enthalten sich die Mönche der meisten Speisen. Nur der Zenmeister haut rein, was das Zeug hält.

Später stellen ihn seine Leute zur Rede, fragen ihn, wie er´s mit seinem Gelübte hält. Er antwortet ihnen sinngemäß, daß für ihn die Freude dieses Mannes, seinen hochgeehrten Gästen angemessene Gastfreundschaft erweisen zu können sehr viel mehr zählt als die blinde und gefühllose Befolgung eines Gelübdes.

Der springende Punkt dabei ist der, daß der Meister nicht etwa eine neue Regel implementiert. Der Meister lebt das, was aus ihm selbst herausströmt, ohne sich an Formalien zu binden. Ein anderer Meister in derselben Situation hätte evtl anders gehandelt, aber solange ihre Handlungen nur Ausfluss ihres innersten Wesens sind, sind sie einander gleichwertig. Der Meister will nichts, er ist, was er ist. Das findet sich viel besser - wenn auch nicht deckungsgleich - bei Aristipp wieder, der in jeder Situation er selbst bleibt, als bei Epikur, der in jeder Situation im Auge behalten muss, ob seine Ataraxie gewahrt bleibt.

Bei weiterem nachdenken über diesen Gegenstand kam mir die Frage, wie das Erstreben der Gelassenheit, ja Gleichgültigkeit zu vereinbaren ist mit der Erregung über die realen Mißstände in der Welt und dem daraus resultierenden Bestreben, diese ein Stück weit anzugreifen.


auch dies ist und bleibt ein Metawert. Ein Zenmeister, der diese Gleichgültigkeit in seinem ureigensten Sein findet, wird sie leben und sich einen Dreck um das Mitgefühlsideal scheren. Ein Zenmeister, der dieses Mitgefühl und Handlungsimperative in seinem ureigensten Sein findet, wird dies genauso leben und sich einen Dreck um das Gelassenheitsideal scheren. Ein Zenmeister wird NIEMALS ein Metawertesystem anerkennen, und nur dort, wo er Elemente davon in sich selbst wiederfindet, kann es für andere optisch so aussehen, als fühle er sich einem Wertesystem verpfichtet, wo er tatsächlich nur sich selbst lebt. Darin genau besteht sein Konflikt mit der Kirche^^ ein Zenmeister ist genauso als KZ-Kommandant oder -wärter von Auschwiz denkbar, wie als Heiliger in den Slums von Kalkutta oder in den Favelas in Brasilien, genauso als Kriegsverbrecher wie als Dorftrottel. Zenmeister leben nicht in Hollywood-Filmen^^

noch ein Selbstzitat und eine Erläuterung

aber solange ihre Handlungen nur Ausfluss ihres innersten Wesens sind


"innerstes Wesen" ist im Buddhismus wie im Zen gleichermaßen problematisch aus der Sicht klassischer Philosophie, da jenes "innerste Wesen" Leere ist. Dennoch - und das ist ein irreduzibler Unterschied zum "ex nihilo nihil"-Dogma der europäischen Philosophie, vermag diese Leere auf vielfältige Weise - und eben von Mensch zu Mensch mit unterschiedlichen Ergebnissen - als Movens zu fungieren. Diese "von der Leere" als fundamentalem Movens erzeugten Eigenarten eines Menschen werden im Gegensatz zu den sozial vermittelten als das Wesentliche eines Menschen aufgefaßt.

janw
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Do 4. Jan 2007, 21:00 - Beitrag #17

Hm, was treibt sie, die Oberen, religion zu statuieren, wo diese überwunden werden sollte? Doch wieder nur das alte Spiel um Macht, und daß es Menschen gibt, die ihre Freiheit lieber an andere delegieren. Oder?

Zitat von Ipsissimus:"innerstes Wesen" ist im Buddhismus wie im Zen gleichermaßen problematisch aus der Sicht klassischer Philosophie, da jenes "innerste Wesen" Leere ist. Dennoch - und das ist ein irreduzibler Unterschied zum "ex nihilo nihil"-Dogma der europäischen Philosophie, vermag diese Leere auf vielfältige Weise - und eben von Mensch zu Mensch mit unterschiedlichen Ergebnissen - als Movens zu fungieren. Diese "von der Leere" als fundamentalem Movens erzeugten Eigenarten eines Menschen werden im Gegensatz zu den sozial vermittelten als das Wesentliche eines Menschen aufgefaßt.

Das liefe darauf hinaus, daß es Menschen gibt, die von sich aus anderen zu helfen gesinnt sind und solche, die nach eigener Habensmaximierung streben, vielleicht auch solche, denen der Rest der Welt schnuppe ist.
Gibt es vielleicht von sich aus "böse" Menschen, und wie könnte eine auf den Gedanken des Zen basierende Gesellschaft darauf reagieren?

Vielleicht ist die "Leere" im westlichen Sinne und die darum kreisenden Philosophien nicht mit der "Leere" des Zen und mit diesem kompatibel, könnte das sein?
Ich lese zur Zeit Sartres "Sein und Nichts", und versuche, da Brücken zu ziehen. Geht das?

Ipsissimus
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Mo 8. Jan 2007, 12:56 - Beitrag #18

Das liefe darauf hinaus, daß es Menschen gibt, die von sich aus anderen zu helfen gesinnt sind und solche, die nach eigener Habensmaximierung streben, vielleicht auch solche, denen der Rest der Welt schnuppe ist.


ich glaube, daß es keine Menschen gibt, die von sich aus zu irgendetwas gesonnen sind. Spekulationen über genetische Tendenzen und Karma einmal außen vor gelassen, ist jeder Mensch anfangs eine black box, aus der herauskommt, was hineingesteckt wurde, auch wenn das, was hineingesteckt wurde, nicht immer offensichtlich ist. Wie ein Computer^^ der macht auch nie etwas Dummes, sondern immer das, was mensch ihm befiehlst^^ daß mensch nicht immer weißt, was es ihm befohlen hat, ist tragisch-komisch^^

wahrscheinlich sind wir hier an den Grenzen einer streng kausalen Sichtweise angelangt. Wir fragen, warum ist etwas so und so, und oft lautet die Antwort, es ist einfach so. Bewußtheit als Emergenzphänomen, da war doch was^^ trotzdem können wir Westler auch oft genug unterscheiden zwischen aufgesetzter Persönlichkeit und einer gewachsenen, reifen Persönlichkeit. Für ersteres kann evtl. der Omnipotenzwahn pubertierender Jünglinge herhalten, für letzteres das verschmitzte Lächeln eines alten Menschen. Stell dir einfach vor, daß diese Differenzierung im Zen bis an ihre äußerst erreichbare Grenze vorangetrieben wird, wobei im Zen die Differenzierung natürlich nicht auf annähernd so krude Weise betrieben wird wie in meinem Beispiel. Du wirst im Zen einfach immer wieder in Situationen versetzt, die darauf abzielen, daß deine persona, deine Maske, zusammenbricht, und das in dir zum Vorschein kommt, was standzuhalten vermag.

Es kann keine im letzten Zen-basierte Gesellschaft geben. Auch Japan ist keine solche Gesellschaft, sondern eine shintoistische. Zen, verordnet von oben, das ist wie der Befehl zum Glücklichsein, es geht nicht. Bringe die Leute zu stiller Nachdenklichkeit, Nachdenklichkeit in jeder Situation, dann ist schon das äußerste gewonnen. Wie gesagt, Zen ist nur ein Werkzeug, Werkzeug für ein Ziel, das nicht jeder sehen und finden will (und natürlich auch nicht muss).

janw
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Mo 8. Jan 2007, 22:29 - Beitrag #19

Zitat von Ipsissimus:ich glaube, daß es keine Menschen gibt, die von sich aus zu irgendetwas gesonnen sind. Spekulationen über genetische Tendenzen und Karma einmal außen vor gelassen, ist jeder Mensch anfangs eine black box, aus der herauskommt, was hineingesteckt wurde, auch wenn das, was hineingesteckt wurde, nicht immer offensichtlich ist. Wie ein Computer^^ der macht auch nie etwas Dummes, sondern immer das, was mensch ihm befiehlst^^ daß mensch nicht immer weißt, was es ihm befohlen hat, ist tragisch-komisch^^

Das "zu irgendetwas gesinnt sein" war meine Interpretation des "innersten Wesens" als die individuellen Eigenarten erzeugenden Movens. Irgendwo auch so gedacht, daß allem was wir tun, ein innerer Impuls vorangeht, für mich Ausdruck unseres individuellen Soseins - ob wir dem dann immer so folgen, ist eine andere Sache^^
Aber, kommt diese Betrachtung in etwa dem von Dir Gemeinten nahe?

Interessant, daß wir jetzt bei der tabula-rasa-Vorstellung gelandet sind...
Wenn ich mir meinen kleinen Neffen ansehe, etwa seit er 6 Monate alt war bis jetzt, 1 1/2, und mir Berichte über mich in dem Alter anhöre, dann mag ich fast nicht glauben, daß alle Wesenszüge nur aus externen "Eingaben" resultieren.
Naja, ist wohl so, daß unser aller Wesen eben einfach so ist, ein Stück weit...^^

Worin besteht aus Deiner Sicht der Unterschied zwischen einer Zen-basierten Gesellschaft und der shintoistischen Japans? Nur darin, daß letztere einen Menschen zum Gott erhebt?

Ipsissimus
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Di 9. Jan 2007, 10:56 - Beitrag #20

das Wort, um das es im Zen an dieser Stelle geht, heißt "mu", und die Vielfalt der Bedeutungsnuancen dieses mu macht es schwierig, es adäquat in Begriffe westlicher Philosophie zu übersetzen.

Zunächst mal ist es zentrales Element des wohl berühmtestesten aller Koans, des Mu-Koan:

"Kommt ein Mönch zu Joshi und fragt ihn: 'Hat ein Hund Buddha-Natur'? Antwortet ihn Joshi: 'Mu'.

Hier bedeutet das mu primär "nicht" (also nicht "nichts", sondern "nicht"), was völlig im Widerspruch zu der expliziten Lehre des Buddhismus steht, wonach allen empfindenden Wesen die Buddha-Natur zu eigen ist. Andererseits kann "mu" aber auch mit "Nichts" und darüber hinaus mit "offene Weite" übersetzt werden.

Joshi weist die Frage zurück. Die Buddhanatur ist im Mahayana der höchste Status eines Menschen, und Joshi sagt dazu "mu". "Was interessiert dein Hund, was interessiert dein theoretisches Konzept von der Buddhanatur, das du irgendwo gelesen hast? 'Offene Weite', das ist die einzige Antwort von Belang auf das Wesen des Seins, die du jemals erhalten wirst." So ungefähr lässt sich Joshi interpretativ paraphrasieren. Diese paradoxe Verknüpfung des mu als Zurückweisung und des mu als Nichts und offene Weite gibt dem Mu-Koan seine Abgründigkeit, da beide Facetten gleichermaßen wichtig sind.

"Offene Weite", mit westlichen Worten würden wir vielleicht vom "Potential aller Möglichkeiten" sprechen. Gerade weil du nicht beschränkt bist von deinem Wesen her, erweist sich in der konkreten Auswahl, die du aus diesem Total von Möglichkeiten für dich beanspruchst, in dir verwirklichst, auf das hin, was du wirklich bist. Du bist nicht reduziert auf diese Auswahl, aber in dieser Auswahl offenbarst du gerade deshalb etwas Wesentliches über dich.

Mit ataraxia hat das alles nur aufgrund eines Missverständnisses zu tun. Die westliche Auffassung von Zen ist zuhauf die der japanischen Kirche, und in dieser Auffassung wird eine mögliche Folge des Satori so sehr betont, daß es den Anschein haben könnte, es sei notwendige Folge: Affektlosigkeit. Aber das ist die Zenkultur der Mönche, nicht das Zen der Meister. Und Affektlosigkeit ist noch zusätzlich ein Missverständis im Missverständnis, denn es geht nicht um Affektlosigkeit, sondern um Nicht-Anhaften. Und damit kommen wir wieder bei Aristipp heraus und nicht bei Epikur, wenn wir nach europäischen Parallelen suchen^^


eine im Innersten Zen-basierte Gesellschaft kann es imo nicht geben; auch in Japan schätze ich den Zen-Anteil nur als Lokalkolorit ein, sofern wir die Grundprinzipien der japanischen Gesellschaft betrachten. Zenmeister lachen über Machthierarchien (auch wenn sie sich ihrer gelegentlich bedienen), und wer das WIRKLICH tut, kann diesen ganzen darauf basierenden gesellschaftlichen Unfug nicht mehr wirklich ernst nehmen.

Shintoismus ist, soweit ich das überblicke, im Kern eine schamanistische Fruchtbarkeitsreligion in einem etwas moderneren Gewand. Wo ich den Unterschied sehe? Nun, es gibt keine Gemeinsamkeiten mit Zen, das ist der Unterschied^^

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