Tragik

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Ipsissimus
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Fr 2. Mär 2007, 13:15 - Beitrag #1

Tragik

Der Versuch, über »das Leben« in seiner Gesamtheit zu sprechen - und also nicht über die Summe der diese Gesamtheit generierenden Einzelphänomene - riecht nach Anhäufung von Metaphern, denn zweifellos betrifft der Ausdruck »Leben« ein Abstraktum, die begriffliche Zusammenfassung einer unüberschaubaren Menge von Einzelphänomenen, denen im Einzelnen kaum mehr gemeinsam sein mag als der Umstand, daß sie unter diesem Begriff subsumierbar erscheinen, gerade so, als ob dieser Zusammenfassung eine eigene gestalthafte Existenz zukäme. Wenn ich in diesem kleinen Text vom »Leben« spreche als gäbe es dieses im Sinne einer Art »real existierender Idee«, so ist dieses Sprechen an die Hoffnung geknüpft, daß dieser metaphorische Gebrauch - quasi durch die Idee hindurch - Aussagen, welche letztlich auf die Phänomene zielen, plausibel zu machen vermag. Ähnliches gilt natürlich für alle quasimetaphorischen Begrifflichkeiten dieses Textes; es ist und bleibt mir wohlbewußt, daß die Sachverhalte, auf die sie verweisen, sich in ihren Einzelphänomenen erweisen, sonst nirgends, und somit eigentlich nur modellhaft, nicht aber real zusammenfaßbar sind.
Stille, schhhhhhh ...

Das Leben, die schiere Lebendigkeit, ist sich selbst genug. Es hinterfragt sich nicht; den Prinzipien der Autopoiesis, der Selbstähnlichkeit und Selbstreferentialität folgend, betreibt es die myriadenfache Reproduktion seiner selbst; neben den gelungenen sind ihm die fehlerhaften Reproduktionen gleich willkommen, doch es tanzt so schnell und so schnell weiter, daß keine dieser anscheinenden oder tatsächlichen Fehlleistungen es jemals einzuholen vermag; das Gesamte mittelt die Fehlerhaftigkeit seiner Teile aus, ohne ihrer je gewahr zu werden. Und auch die anscheinende oder tatsächliche Gelungenheit einer Reproduktion ändert nichts daran, daß sie ausgemittelt wird ...

Der Versuch, zu ermitteln, was menschlichem Grundwollen entspricht, läuft daher auf zwei Antworten hinaus.

In jenen Augenblicken, in denen wir uns fühlen, als seien wir im Einklang mit uns selbst, unserer ureigensten Natur und dem »Kosmos«, im vollen Saft, dann fragen wir nicht mehr, dann sind wir, wir tanzen, wir jubilieren, und unsere Seele singt vor Freude. Wir fragen nicht, und schon gar nicht nach den Fehlern. Es widerspricht sowohl der Selbstgenügsamkeit des Lebens als auch unserem menschlichen Gefühl von erfüllter, erfüllender Lebendigkeit, nach Konsequenzen zu fragen. Was wir am liebsten wollen: die Tat stehe für sich, sie möge kein Vorher, kein Nachher, und neben unserer Freude daran keine anderen als die erwünschten Konsequenz haben. Das Leben als eine Perlenkette nicht notwendigerweise zusammenhängender, jedoch freudespendender Augenblicke der Fülle.

Und zum anderen wollen wir, daß der morgige Tag sei wie der heutige, vielleicht ein klein wenig weniger leidvoll. Wir nehmen Kontinuität - als Entgegensetzung zu sprunghaften, den Daseinsrahmen erschütternden Änderungen - als Garantie dagegen, selbst ausgemittelt zu werden.

Doch wir unterscheiden uns vom Leben als Ganzem dadurch, daß wir nicht in unseren kühnsten Träumen, geschweige denn in unserer Wirklichkeit, hoffen dürfen, uns mit einer auch nur annähernd ausreichenden Geschwindigkeit zu bewegen, um über die Konsequenzen, die wir produzieren, hinwegtanzen zu können. Wir sehen eine Tat und noch eine Tat und noch eine Tat; und plötzlich entdecken wir etwas, was nicht eine Tat ist, sondern eine Konsequenz, möglicherweise - und realiter selbstverständlich immer - Seiteneffekte, gespeist aus Taten unterschiedlicher Handlungsstränge, die wir SO nie zusammengedacht haben.

Wir entdecken Muster; im Laufe eines Lebens lernen wir, eingermaßen leidlich mit den Mustern zu arbeiten. Irgendwo entlang dieses Lernens geht das Gefühl des Lebendigseins verloren. Zu viele Kompromisse mit dem Muster, dem wir unterliegen, zu viele Konsequenzen, die wir ausgleichen müssen, als daß noch Raum für Unmittelbarkeit bliebe. Dies ist der Fluch des Menschen.

Metamenschen unterscheiden sich von Menschen dadurch, daß sie die Muster explizit zum Thema ihres Lebens machen. Ihre Vision besteht nicht darin, in ihrem Tun das Leben zu gestalten - »gestalten« im Sinne von: den Mustern durch Macht einen Zustand abringen, den sie von sich aus nicht einnehmen würden -, sondern die Systeme der Muster zu verstehen, denen Leben unterliegt. Kein Mensch ist ein Metamensch durch das, was er tut, sondern ausschließlich durch das, wodurch er sich vom Leben distanziert. In dem Maße, in dem er sich distanziert, erkennt er, worin er gebunden ist, und durch welche Mittel; er durchschaut zunehmend die Systeme der Muster.

Der unvollendete Metamensch verfügt über die Macht, die daraus resultiert, daß er die Muster durchschaut; doch es verbleibt ihm der Wunsch, diese Macht anzuwenden. Er vermag es tatsächlich, »an den Parametern zu drehen«, doch indem er daran »dreht«, verändert er das Gewebe in einer Weise, deren Konsequenzen ihn doch wieder überraschen. Das ist der Fluch des unvollendeten Metamenschen.

Einige wenige gehen den Weg der Umdeutung der Willensfreiheit bis zum Ende: nicht tun, was sie wollen, sondern nur noch tun, was zu tun sie nicht vermeiden können, weil dessen - und nicht ihre eigene - inhärente Notwendigkeit sie gepackt hat und zwingt. Sie tun fast nichts mehr, und schon gar nicht etwas, das anderen Menschen verständlich wäre; solches jedoch mit letzter Hingabe, wissend, daß sie in diesem Tun etwas in die Welt setzen, was auf sie zurückfällt. Dies ist der Fluch des vollendeten Metamenschen.

»Lebendigkeit« und »Konsequenz« passen nicht zusammen innerhalb eines Universums.

Diese Bemerkungen sind deswegen möglich, weil es keine Versöhnung gibt zwischen der Perspektive eines Beobachters, der etwas wie »Leben« sehen kann, also ein begrifflich gefaßtes Prinzip in seiner konkreten Ausprägung, in welches jenes »Wuseln« um des Wuseln willen abgebildet ist, und der Perspektive der Individuen, die die Grundelemente jenes Wuselns bilden. Die Schönheit des Ameisenvolkes im Ameisenhaufen, von oben betrachtet, verbirgt das leidvolle Erleben der es bildenden Individuen.

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Sa 3. Mär 2007, 01:45 - Beitrag #2

Obwohl ich nur ca. 42% deines Textes verstanden habe, wünsche ich dir und Milena sehr viel Unmittelbarkeit.

Jetzt sind die Worte geschrieben, jetzt wurde das Muster verändert, jetzt ist alles zu spät.

henryN
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Di 6. Mär 2007, 04:19 - Beitrag #3

Verstehe leider nur zu gut 100%. Es war "Tragik" lange Zeit, ich gebe es zu. Aber die Konsequenz war, nicht mehr zu "studieren" bis nicht eines Tages vielleicht doch eine Idee wächst, die die Gedanken, das Wissen, klingen läßt. Als Gesamtheit von Leben, Sehen und Tat. Das "Licht" ist nur ein Zustand der Energie und es lohnt sich diesen zu transformieren.
Die "Schola" ist nur ein gemütliches Sofa, das Sehen "Nichts", wenn es nicht "Mitsehen" läßt.
Und die Hände sind da. Sie können "lebendiges" erschaffen, soviel ist sicher.
Und wenn es nur Reiz ist oder eben jenes "Licht" ist welches Licht "provoziert". Im Loslassen von "allem" was Wille, Grund, oder Macht ist, ist nichts erreicht als der Anfang dessen was unsere Phantasie und Emphatie ermöglicht. Dort fängt das "Lernen" erst neu an, die Zauberei, die Phantasie...
Ein eigenes hart zu erarbeitendes Handwerk, das vielleicht herausfällt aus dem, was "Sein" genannt wird. Aber dieses Wort allein, vernichtet schon die Erkenntnis.... ;-)

Ein Japaner hat mal ganz pragmatisch einleuchtend gesagt: "Du bist nicht Gott" wie schön einleuchtend... oder?

Ipsissimus
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Di 6. Mär 2007, 11:48 - Beitrag #4

Und die Hände sind da. Sie können "lebendiges" erschaffen, soviel ist sicher.


du bist nicht zufällig Nachfahre eines gewissen Prager Rabbis? ^^

der Japaner war ganz sicher kein Zenmeister^^

henryN
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Di 6. Mär 2007, 18:41 - Beitrag #5

Es gibt viele lebendige "Organismen", die aus unserem Denken und sozialen Handeln heraus entstehen. Gesellschaften gehören dazu.

Nur weil sie nicht so sind, wie man es gern hätte, bedeutet es nichts man könnte nichts "bewegen". Bewegung heißt für mich aber nicht "Bestimmung"... Ich kann sehen, erkennen, mich einordnen, der Sache hingeben, ohne in Besitz zu nehmen. Aber nur im Handeln "erweist" sich das Wissen als Chance. Warst Du nicht derjenige, der davon sprach?

Nur die Form des Handelns und Erkennens sind noch mehr als unvollkommen, und man könnte wirklich verzweifeln daran. Ich muß es nicht wollen, und kann es dennoch tun... Und wenn es nur das ist, was Anderen den Mut und die Neugier schenkt, mitzuspielen... denn sie müssen es selber tun.

Tragik ist die Folge eines starken Willens, einer Sehnsucht. Es lohnt sich, auch diese Potentiale "aufzulösen"!!! sich zu bewegen

...danzu, danzu, danzu.... ;-)

Ich baue nicht aus Lehm. Mal bin ich Herz, mal Lunge, mal nur die winzige Spitze eines Haares....... und am liebsten der Wind....;-)

Ipsissimus
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Mi 7. Mär 2007, 15:28 - Beitrag #6

wu wei ^^

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Mi 7. Mär 2007, 17:31 - Beitrag #7

Ich dachte das heißt "Au wei?" ;)

henryN
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Mi 7. Mär 2007, 17:57 - Beitrag #8

o.k. verstehe :-) stimme zu, wiki sei Dank :-) ...ist aber nicht der Weisheit letzter Schluß.... ;)

Yanāpaw
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Mi 7. Mär 2007, 19:11 - Beitrag #9

Ataraxie naja ok damit tue ich mir schon schwer, aber diese endlose zyklische Wird-schon-alles-Gut Geschichte war mir nie wirklich sympathisch...

Ipsissimus
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Do 8. Mär 2007, 14:19 - Beitrag #10

Spender, "au wei" ist ein westliches Missverstehen des "wu wei", das man übersetzen könnte mit "Lerne zu klagen ohne zu leiden"^^

henry, welches ist denn der Weisheit letzter Schluss? Der Wikipedia-Artikel ist übrigens allenfalls ein alleroberflächlichster Anriss der Thematik


Yanapaw, mit dieser "endlose zyklische Wird-schon-alles-Gut Geschichte" meinst du wu wei? Oder allgemein fernöstliche Philosophien?

henryN
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Do 8. Mär 2007, 16:13 - Beitrag #11

@Ipsi
...es gibt keinen letzten Schluß der Weisheit ;-) auch keine Bedienungsanleitung dafür, so muß man es machen....
haben ja noch viele hundertausende Jahre Evolution vor uns, auch des Bewußtseins, wäre ja schade wenn man jetzt schon wüßte.....

hast Du LeseTipps für mehr davon? Bin neugierig. :)

Wie verstehst Du z.b. teilnehmende Beobachtung? Oder gibt es nicht noch ein anderes Prinzip als "Beobachtung" gleich welcher Ordnung? Du hattest doch mal irgendwann etwas in der Richtung angedeutet, was passiert wenn der "Beobachter" mit dem "Sein" (grr so ein blöder schwammiger Begriff, will was neues! ;)) zusammenfällt?

Wu wei --- Intuition
Wie bestimmt sich für Dich dieser Begriff "Intuition". Habe das dumme Gefühl, das sich in der Analyse dessen noch viel verbirgt.....

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Do 8. Mär 2007, 18:00 - Beitrag #12

Spender, "au wei" ist ein westliches Missverstehen des "wu wei", das man übersetzen könnte mit "Lerne zu klagen ohne zu leiden"^^
*lol*

O.K., ich werds einer Bekannten von mir sagen, die wegen MS im Rollstuhl sitzt.

Ach nein, du meinst sicher das Deutschtum? Ja, ich versuche mich anzupassen, aber ich kann einfach nicht genug jammern und jetzt fühle ich mich im Abseits. Zur WM hatte ich auch kein Fähnchen raushängen... ;)


Alles wird gut, wie unlogisch, wenn niemand die Zukunft kennen kann.

"Alles ist gut", verstehe ich ja noch, als Beruhigungsphilosophie, in GEGENWARTSFORM, aber "Alles wird gut"??? Genausogut könnte ich schreiben "Der Wald ist grün, wegen der Bäume", das hätte für mich dieselbe Wirkung wie "Alles wird gut", aber jedem das Seine, nich wahr?!

-+-

Trotzdem möchte ich noch anfügen, dass ich dieses Thema sehr interessant finde und einige Dinge, die von Ipsissimus in Beitrag 1 erwähnt werden, gut nachvollziehen kann. Mir fällt halt nur leider nicht soviel dazu ein, bzw. meine Gedanken sind noch nicht ganz defragmentiert. *g*

Yanāpaw
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Sa 10. Mär 2007, 13:14 - Beitrag #13

Ipsissimus,

meine Meinung zu fernöstlicher Philosophie im Allgemeinen und zum wu wei im Speziellen ist alles andere als fundiert, da ich nur sehr wenig darüber gelesen habe, von Bushido, Shintoismus und dergleichen abgesehen, da wu wei aber eher daoistisch sein sollte (iirc) kann mein mein Geblubber dazu getrost als Schwachsinn aka. unqualifizierte Meinung abtun. ^^

Das "Kreislaufmodell" zieht sich zwar durch die fernöstliche Philosophie, aber die Interpretation und die Handlungsmaßgaben an den Menschen variieren doch erheblich und mit dem daoistischen Ansatz kann ich, so ich ihn verstehe, recht wenig anfangen. Allerdings fehlt mir da auch, wie ich schon einräumte, zu viel Wissen um eine fundierte Meinung zu haben.

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Mo 12. Mär 2007, 04:40 - Beitrag #14

In die Herzen ein Feuer

Gerade frage ich mich, was die Tragik eines Meta-Unmenschen sein könnte?

Die Muster des Sterbens und des Leidens zu erkennen und nicht zu versuchen, sie zu manipulieren, weil sowieso früher oder später alle Menschen, die jetzt leben, tot sein werden? Vielmehr gibt das Wissen um die Sterblichkeit, zusammen mit der kurzfristigen Unabänderlichkeit bestimmter Dinge doch dem Leben genau jene Sinnlosigkeit, die manche Menschen zu barbarischen Taten motiviert, wenn sie sie erkennen. Man erkennt irgendwann, dass man nicht kurzfristig, also innerhalb eines Lebens, etwas zum Zwecke der eigenen Machtvergrößerung und Leidverringerung ändern kann. So ein Mensch ist dann frustriert und leer, weil die Macht das Ziel war und nicht das Mittel. Er sagt sich: In mir die Leere, nach mir die Sinflut!

Deswegen heute mein Leitspruch: Ameisen leiden nicht, wir brauchen mehr Ameisen, mein Führer!

Ameisen nützen nur dem Ganzen, dem Kollektiv. Es gibt kein Leid, keine Leere und kein Erkennen der Zusammenhänge.

Der erste Grund für das Scheitern des Meta-Unmenschen ist auch seine Motivation: Egoismus und persönliche Bereicherung. Es ist ihm nie genug, weil er nie genug bedingungslose Liebe erfuhr, die ihm sein Sosein als etwas bedingungslos Einzigartiges bestätigte.

Die Schönheit der Einzigartigkeit des Lebens ist Moment genug, um tausend unmittelbare Momente mit Leben zu füllen.

Vergehen, Entstehen.

Lieben, Verstehen, in die Herzen ein Feuer geben.

Geben.


Soweit einige Assoziationen von mir, die nicht nur einen sentimentalen Wert haben, sondern auch dieses Thema hoffentlich genug würdigen, um mich besser schlafen zu lassen. Ich hasse es, schöne Muster unbeachtet zu lassen.

Wie sagte doch einst eine Bekannte von mir:

"Tanze jeden Tag und sei es nur in Gedanken!"

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Mo 12. Mär 2007, 17:25 - Beitrag #15

Henry, das sehe ich etwas anders^^

auf individueller Ebene ist der Weisheit letzter Schluss das mögliche Maß an Weisheit, das einem Individuum als Kompilat seiner aktuellen Lebenserfahrung zur Verfügung stehen könnte, wenn sich seine Intelligenz nicht dazu entschließen würde, aus Zielerreichungsgründen alles zu ignorieren, was anscheinend zur Zielerreichung ignoriert werden kann^^

auf einer überindividuellen Ebene ist der Weisheit letzter Schluss das Wissen um die eigene Einbindung in Rückkopplungskreisläufe und -muster und die angemessene Einbindung dieses Wissens in die eigenen Entscheidungsprozesse. Man kann Blödsinn machen, aber es wäre wünschenswert, diesen Blödsinn nicht in der Annahme zu betreiben, keinen Blödsinn zu machen^^

aus dem nichtstatischen Charakter der Menge aller möglichen Lebenssituationen ergibt sich daraus von selbst eine gewisse Flexibilität des "letzten Schlusses"^^

Lesestoff zu wu wei such dir bitte selbst zusammen. Aufgrund der fraktalen Anordnungsstruktur meiner Besitztümer dürfte die Suchdauer in meinem nicht unerheblichen Bücherbestand erheblich sein^^



Spender, ich wollte mit dem Begriff des Metamenschen eigentlich keine ernstzunehmende Nomenklatur initialisieren, sondern nur auf etwas hinweisen, worin sich bestimmte, wenige Menschen von allen anderen unterscheiden; man könnte mit Joseph Knecht (dem aus dem Glasperlenspiel) auch sagen, daß Menschen, die das Spiel wirklich verstanden haben, dazu neigen, ihre Teilnahme am Spiel zu minimieren, weil sie darüber hinausgewachsen sind.

Ich fragte mich nach der Lektüre deiner Gedanken kurzzeitig ernsthaft, ob ein Meta-Unmensch überhaupt möglich wäre. Aber die Antwort lautet mit ziemlicher Sicherheit "ja", wenn ich zum Beispiel daran denke, daß in den 90er Jahren via USA auch in Japan die Frage nach einigen äußerst renommierten Zenmeistern entbrannte, denen nachgewiesen werden konnte, daß sie sich an ziemlich schlimmen Kriegsverbrechen beteiligt hatten (darunter auch der in Deutschland überaus hochgeschätzte Daisetzu Suzuki). Der erleuchtete KZ-Kommandant ist absolut kompatibel zu Zen, und der Albtraum jeglicher moralisch orientierten Betrachtung dessen, was Zen sein sollte.

Allerdings glaube ich nicht, daß es die innere Sinnlosigkeit ist, welche solche Menschen treibt, denn innere Leere macht auch apathisch, und um solche Ziele zu verwirklichen wie zum Beispiel ein KZ-Kommandant, darf man nicht apathisch sein. Eher halte ich dann schon den erleuchteten Sadisten für möglich.

C.G.B. Spender
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Mo 12. Mär 2007, 18:36 - Beitrag #16

"Der erleuchtete Sadist - die dunkle Seite der Macht."

Hey, das wäre doch mal ein Buchtitel, oder? ;)

Der erleuchtete Sadist, klingt ja schrecklich! In dem Fall würde ich mich fragen, warum jemand ein Sadist ist. Ich würde das darauf zurückführen, dass zuwenig Liebe von dieser Person empfangen wurde, und das ist im Zusammenhang mit der für viele Menschen korrumpierenden Macht sicher ein Grund, warum jemand ein Unmensch wird, oder eine Meta-Unmensch. Beides läuft meines Erachtens auf einen Mangel an Empathie, einen Mangel an Mitgefühl und Menschenliebe, hinaus. Ich habe das wohl nicht klar umrissen, bzw. es war mir nicht selbst klar, aber Menschen ohne Fähigkeit zur Empathie, sind für mich leer. Mit Leere drücke ich in dem Fall Gefühlslosigkeit im Bezug auf andere aus, was sicher damit zusammenhängt, dass sie es selbst nicht erfahren haben, nicht von selbstloser Liebe erfüllt würden. Dem Dalai Lama wurde von Geburt an diese Liebe geschenkt und so lebt er das Leben eines Erfüllten, der viel zu geben hat.

Das ist ein Grund für mich, warum mich der Buddhismus interessiert. Dort wird die Empathie und das Miteinander gepflegt. Im Christentum gibt es das zwar auch, aber trotzdem ist mir der Buddhismus irgendwie sympathischer. Die genauen Gründe würde ich gerne locker anfügen, nur leider habe ich mich schon seit einiger Zeit nicht mehr genau damit beschäftigt. Der Reiz des Exotischen spielt natürlich auch eine Rolle.


Zen ist hingegen eine mystische Erfahrung und keine Weltanschauung, auch wenn man durch mystische Erfahrungen Weltanschauungen transportieren kann. Das Letztere wird gefährlich, wenn niemand mehr hinterfragt. Es kann natürlich auch den größten Verbrechern dienen.

Ich denke kurz an Ayrton Senna, auch wenn das jetzt abstrus klingen mag. Er konnte sich so gut konzentrieren, dass er sich im Formel Eins Auto pratisch beim Fahren zuschaute. Das hat bei der einen oder anderen Pressekonferenz zu erstaunten Gesichtern geführt, wenn er eine Runde auf einer Rennstrecke beschrieb. Kein Buckel, auch bei 250 Km/h, blieb ihm verborgen.

Diese hohe Konzentration geht einher mit einer erhöhten Wahrnehmung, wie ich es selbst schon erleben mußte und gespenstisch war für mich immer der Zeitfaktor, die gedehnte Zeit. 1:30min Konzentration in einem Fahrsimulator und es kam mir vor wie 10 Minuten. Es ist allerdings sehr erschöpfend. Auch unterwegs auf schwierigen Strecken mit dem Mountainbike habe ich so etwas schon erlebt. Ich finde es faszinierend. Vor allem wenn es so stark wird, dass man sich selbst und das Ego vergißt, Zuschauer wird. Meistens fällt man dann aber wieder aus der Konzentration heraus, weil andere Gedanken zurück kommen, man die Leere nicht aufrecht erhalten kann. (In dem Fall meine ich mit Leere fehlende Gedanken, eine positive Entspannung.)

Yanāpaw
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Mo 12. Mär 2007, 20:17 - Beitrag #17

Beides läuft meines Erachtens auf einen Mangel an Empathie, einen Mangel an Mitgefühl und Menschenliebe, hinaus.


Die Gefühlswelt, Bedürfnisstruktur und Wünsche eines Menschen zu kennen und zu ignorieren (oder diesen bewusst zuwider zu handeln) unterscheidet sich grundlegend von der Unfähigkeit jene zu überhaupt zu erkennen. Ein Sadist muss empathisch sein, ohne Resonanzerkenntnis und Verständnis wäre Sadismus völlig absurd. Davon abgesehen ist es ein Irrtum, dass Sadismus oder andere psychische Andersartigkeiten zwangsläufig Folge von zu wenig Liebe sein müssen. Es gibt Beispiele genug, dass einige der sadistischsten Mörder einer intakten Familienstruktur entsprangen. Das ist allenfalls eine Wunschvorstellung um Unverständnis schön zu kleiden.

henryN
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Mo 12. Mär 2007, 21:59 - Beitrag #18

"die dunkle Seite der Macht" - sich die Welt zurechtlegen, wie sie in das eigene Ordnungssystem passt, Außen in Bezug zum Innen, welches erkannt oder unerkannt ist oder bleibt
"die andere Seite" - das "Innen" mit dem Außen in Bezug setzen bzw. sich zur Verfügung stellen, am besten natürlich unter Eleminierung all dessen, was "Macht" bedeutet.... über einen selbst, oder über andere....

@ipsi
Schade, daß Du nicht suchen magst, möglicherweise habe ich einfach nicht genügend Zeit alles selbst herauszufinden. Bin ja schließlich Musiker. ;)

Der Buddhismus hat mich in meinen jungen Jahren auch immer interessiert, hat sich für mich aber im Alltag als nicht praktikabel erwiesen. Eigentlich alle "Ismen". Alles was sich um reine Selbsterfahrung, oder Berauschen an den eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten dreht, ist für mich mit einem grundlegenen Denkfehler behaftet. Ich kann nur noch nicht genau sagen, welcher es ist...

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Mi 14. Mär 2007, 18:31 - Beitrag #19

@Yanāpaw:

Du hast schon recht, man darf es sich nicht zu einfach machen. Es ist auch schwer sich hundertprozentig in Sadisten reinzuversetzen, wenn man selbst keiner ist, aber einige kennt.

Bei meinem Empathieverständnis wäre "empathischer Sadismus" eine Form von Selbstzerstörung oder Selbstqual. Das Menschen auch dazu fähig sind, darf man natürlich nicht ausschließen.

Dabei tauchen jedoch wieder diesselben Fragen auf, bzw. diesselbe Argumentation. Liebt man sich selbst, warum sollte man sich dann selbst quälen? Bei meinem Empathieverständnis wäre eine Verletzung von Anderen gleichbedeutend mit einer eigenen Verletzung der Seele. MIT-GEFÜHL bedeut mit anderen zu fühlen, d.h. ihre Gefühle sind zum Teil auch deine Gefühle.

Wenn du Augenzeuge einen Unfalls bist, erschauderst du, und im gleichen Moment würde dein Herz zerspringen, wenn du nicht deine Hilfe anbietest. Siehst du eine Vergewaltigung, macht es dich wütend, etc., und du würdest nicht sagen, "Hoppla, jetzt aber ran und mitmachen!"

Liebt man sich selbst, warum sollte man sich dann also quälen, indem man andere Menschen quält? Für mich ist das paradox. Genauso paradox wie die Liebe zu anderen Menschen, ohne Selbstliebe.

Manchmal muß man sich gegen diese Mit-Gefühle abschotten, weil man ansonsten zerspringen würde, denn nicht alle Dinge lassen sich zum Guten verändern, und es ist sicher nicht leicht, ein Gleichgewicht zum Schutz der Seele zu finden. Wenn man die schlechten Gefühle nur oft genug unterdrückt und verkopft, gehen irgendwann auch die guten. Dann geht vielleicht eines Tages auch die Selbstliebe und so weit ist es dann nicht mehr bis zum Sadisten, der zwar im Kopf weiß, wie es sich anfühlt, was er anderen antut, es ihm aber nicht mehr die Gedärme verdreht und das Herz zerreißt.

Damit hat er dann auch keine ausreichende Motivation mehr, kein Sadist zu sein, denn er hat nicht einmal mehr Mitgefühl mit sich selbst. Inwieweit so ein Mensch dann durch Zen seine schlechten Seiten nur noch verstärkt, kann ich schlecht abschätzen, aber ich würde doch behaupten, dass die bekannten Weltreligionen ebenfalls unglaublich viel Freiraum für Interpretationen und Raum für Verbrecher bieten.


@henryN:

Das mit der dunklen Seite war als Scherz gemeint, aber wenn ich so recht darüber nachdenke, ist es sicher nicht verkehrt, wenn man nicht verdrängt, dass es Böses gibt, auf der Welt, z.B. Sadisten. Man darf dabei nur nie vergessen: Der Gegensatz des Einen schlummert als Keim immer im Anderen. Jeder ist gefährdet, jeder muß sich ständig prüfen. Die allerwenigsten Menschen sind vollständig schlecht, die allerwenigsten vollständig gut. Wir leben nunmal in den Spannungen zwischen den Gegensätzen.

Damit die dunkle Seite gewinnt, reicht es in der Regel oft aus, wenn die gute Seite ausharrt, sei es aus Erschrecken heraus, sei es aus anderen Gründen. Dabei halte ich Menschen, die in Kontakt mit ihren Gefühlen und Mitgefühlen stehen und trotzdem ihr Leben meistern, oft für stärker, da viele Dinge für sie eine ungleich größere Herausforderung sind, als für die gefühlskalten Automaten.

e-noon
Sterbliche
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Mi 14. Mär 2007, 20:22 - Beitrag #20

Für dich ist Empathie also nicht nur, die Gefühle des anderen zu spüren oder zu erahnen, sondern sie direkt mitzufühlen? Dann wäre das Konzept des Sadismus imo eindeutig eine selbstzerstörerische Angelegenheit oder zumindest Resultat eines selbstzerstörerischen Prozesses. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das immer gelten muss.

dass es Böses gibt, auf der Welt, z.B. Sadisten.
Sind Sadisten für dich per se böse? Reicht es dazu aus, sadistische Gefühle zu haben, oder ist es erst gegeben, wenn man die entsprechenden Situationen bewusst herbeiführt? Und wie würdest du eine ansonsten liebevolle, gleichberechtigte, sado-masochistische Beziehung demnach bewerten?

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