Der Versuch, über »das Leben« in seiner Gesamtheit zu sprechen - und also nicht über die Summe der diese Gesamtheit generierenden Einzelphänomene - riecht nach Anhäufung von Metaphern, denn zweifellos betrifft der Ausdruck »Leben« ein Abstraktum, die begriffliche Zusammenfassung einer unüberschaubaren Menge von Einzelphänomenen, denen im Einzelnen kaum mehr gemeinsam sein mag als der Umstand, daß sie unter diesem Begriff subsumierbar erscheinen, gerade so, als ob dieser Zusammenfassung eine eigene gestalthafte Existenz zukäme. Wenn ich in diesem kleinen Text vom »Leben« spreche als gäbe es dieses im Sinne einer Art »real existierender Idee«, so ist dieses Sprechen an die Hoffnung geknüpft, daß dieser metaphorische Gebrauch - quasi durch die Idee hindurch - Aussagen, welche letztlich auf die Phänomene zielen, plausibel zu machen vermag. Ähnliches gilt natürlich für alle quasimetaphorischen Begrifflichkeiten dieses Textes; es ist und bleibt mir wohlbewußt, daß die Sachverhalte, auf die sie verweisen, sich in ihren Einzelphänomenen erweisen, sonst nirgends, und somit eigentlich nur modellhaft, nicht aber real zusammenfaßbar sind.
Stille, schhhhhhh ...
Das Leben, die schiere Lebendigkeit, ist sich selbst genug. Es hinterfragt sich nicht; den Prinzipien der Autopoiesis, der Selbstähnlichkeit und Selbstreferentialität folgend, betreibt es die myriadenfache Reproduktion seiner selbst; neben den gelungenen sind ihm die fehlerhaften Reproduktionen gleich willkommen, doch es tanzt so schnell und so schnell weiter, daß keine dieser anscheinenden oder tatsächlichen Fehlleistungen es jemals einzuholen vermag; das Gesamte mittelt die Fehlerhaftigkeit seiner Teile aus, ohne ihrer je gewahr zu werden. Und auch die anscheinende oder tatsächliche Gelungenheit einer Reproduktion ändert nichts daran, daß sie ausgemittelt wird ...
Der Versuch, zu ermitteln, was menschlichem Grundwollen entspricht, läuft daher auf zwei Antworten hinaus.
In jenen Augenblicken, in denen wir uns fühlen, als seien wir im Einklang mit uns selbst, unserer ureigensten Natur und dem »Kosmos«, im vollen Saft, dann fragen wir nicht mehr, dann sind wir, wir tanzen, wir jubilieren, und unsere Seele singt vor Freude. Wir fragen nicht, und schon gar nicht nach den Fehlern. Es widerspricht sowohl der Selbstgenügsamkeit des Lebens als auch unserem menschlichen Gefühl von erfüllter, erfüllender Lebendigkeit, nach Konsequenzen zu fragen. Was wir am liebsten wollen: die Tat stehe für sich, sie möge kein Vorher, kein Nachher, und neben unserer Freude daran keine anderen als die erwünschten Konsequenz haben. Das Leben als eine Perlenkette nicht notwendigerweise zusammenhängender, jedoch freudespendender Augenblicke der Fülle.
Und zum anderen wollen wir, daß der morgige Tag sei wie der heutige, vielleicht ein klein wenig weniger leidvoll. Wir nehmen Kontinuität - als Entgegensetzung zu sprunghaften, den Daseinsrahmen erschütternden Änderungen - als Garantie dagegen, selbst ausgemittelt zu werden.
Doch wir unterscheiden uns vom Leben als Ganzem dadurch, daß wir nicht in unseren kühnsten Träumen, geschweige denn in unserer Wirklichkeit, hoffen dürfen, uns mit einer auch nur annähernd ausreichenden Geschwindigkeit zu bewegen, um über die Konsequenzen, die wir produzieren, hinwegtanzen zu können. Wir sehen eine Tat und noch eine Tat und noch eine Tat; und plötzlich entdecken wir etwas, was nicht eine Tat ist, sondern eine Konsequenz, möglicherweise - und realiter selbstverständlich immer - Seiteneffekte, gespeist aus Taten unterschiedlicher Handlungsstränge, die wir SO nie zusammengedacht haben.
Wir entdecken Muster; im Laufe eines Lebens lernen wir, eingermaßen leidlich mit den Mustern zu arbeiten. Irgendwo entlang dieses Lernens geht das Gefühl des Lebendigseins verloren. Zu viele Kompromisse mit dem Muster, dem wir unterliegen, zu viele Konsequenzen, die wir ausgleichen müssen, als daß noch Raum für Unmittelbarkeit bliebe. Dies ist der Fluch des Menschen.
Metamenschen unterscheiden sich von Menschen dadurch, daß sie die Muster explizit zum Thema ihres Lebens machen. Ihre Vision besteht nicht darin, in ihrem Tun das Leben zu gestalten - »gestalten« im Sinne von: den Mustern durch Macht einen Zustand abringen, den sie von sich aus nicht einnehmen würden -, sondern die Systeme der Muster zu verstehen, denen Leben unterliegt. Kein Mensch ist ein Metamensch durch das, was er tut, sondern ausschließlich durch das, wodurch er sich vom Leben distanziert. In dem Maße, in dem er sich distanziert, erkennt er, worin er gebunden ist, und durch welche Mittel; er durchschaut zunehmend die Systeme der Muster.
Der unvollendete Metamensch verfügt über die Macht, die daraus resultiert, daß er die Muster durchschaut; doch es verbleibt ihm der Wunsch, diese Macht anzuwenden. Er vermag es tatsächlich, »an den Parametern zu drehen«, doch indem er daran »dreht«, verändert er das Gewebe in einer Weise, deren Konsequenzen ihn doch wieder überraschen. Das ist der Fluch des unvollendeten Metamenschen.
Einige wenige gehen den Weg der Umdeutung der Willensfreiheit bis zum Ende: nicht tun, was sie wollen, sondern nur noch tun, was zu tun sie nicht vermeiden können, weil dessen - und nicht ihre eigene - inhärente Notwendigkeit sie gepackt hat und zwingt. Sie tun fast nichts mehr, und schon gar nicht etwas, das anderen Menschen verständlich wäre; solches jedoch mit letzter Hingabe, wissend, daß sie in diesem Tun etwas in die Welt setzen, was auf sie zurückfällt. Dies ist der Fluch des vollendeten Metamenschen.
»Lebendigkeit« und »Konsequenz« passen nicht zusammen innerhalb eines Universums.
Diese Bemerkungen sind deswegen möglich, weil es keine Versöhnung gibt zwischen der Perspektive eines Beobachters, der etwas wie »Leben« sehen kann, also ein begrifflich gefaßtes Prinzip in seiner konkreten Ausprägung, in welches jenes »Wuseln« um des Wuseln willen abgebildet ist, und der Perspektive der Individuen, die die Grundelemente jenes Wuselns bilden. Die Schönheit des Ameisenvolkes im Ameisenhaufen, von oben betrachtet, verbirgt das leidvolle Erleben der es bildenden Individuen.