Video, ergo sum

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Menschen mit todesnahen Erfahrungen und intensiven Träumen berichten von dem Gefühl, sich selbst von außen zu sehen. Jetzt kann das jeder erleben: Forscher haben die Illusion mit verblüffend einfachen Mitteln künstlich erzeugt - und stellen die gesamte Vorstellung vom Ich in Frage.
Wenn die Augen den Körper verlassen, wandert das Selbst dann mit ihnen? Diese auf den ersten Blick eigentümliche Frage beschäftigt den schwedischen Psychologen Henrik Ehrsson schon seit seinem Studium. Natürlich ist das Gedankenspiel als solches unrealistisch. Allerdings berichten Menschen immer wieder von dem Gefühl, außerhalb des eigenen Körpers zu stehen: Patienten mit neurologischen Erkrankungen etwa oder Schlaganfall-Opfer. Auch Menschen, die für kurze Zeit klinisch tot waren, erzählen zuweilen von so genannten Nahtod-Erlebnissen und damit verbundenen außerkörperlichen Erfahrungen. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erfahren irgendwann im Leben wenigstens einmal eine "out-of-body experience" (OBE), wie Fachleute die Sinnestäuschung nennen.
Daraufhin glaubten die Versuchspersonen, sie hätten tatsächlich hinter ihrem eigenen Körper gesessen und ihn von dort aus beobachtet. Ehrsson:"Viele von ihnen haben gekichert und sagten, 'Wow, so was Verrücktes!'"Ehrsson, der am University College in London und dem renommierten Stockholmer Karolinska-Institut forscht, filmte seine Versuchspersonen von einem Punkt etwa zwei Meter hinter ihrem Rücken aus. Er übertrug die Bilder in Echtzeit auf die Videobrillen vor den Augen der Probanden. Das rechte und das linke Auge erhielten dabei leicht versetzte Ansichten, so dass der räumliche Eindruck entstand, die Person betrachte den eigenen Körper von hinten.
Dann berührte der Wissenschaftler mit zwei Plastikstiften die Brust des Test-Teilnehmers - außerhalb des Blickwinkels der Kamera - und zugleich jene Stelle im Raum, an der sich die Brust des virtuellen Körpers befand.
"Wir fühlen, dass unser Ich dort lokalisiert ist, wo unsere Augen sind", meint Ehrsson. Prinzipiell sei die Illusion auch nicht auf Sitzen oder Stehen beschränkt, erklärte Ehrsson gegenüber SPIEGEL ONLINE.
Das Londoner Experiment, ein Lehrstück perfekter Illusion?
Darum geht es gar nicht, findet eine deutsch-schweizerische Forschergruppe, die an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne ein ganz ähnliches Experiment durchgeführt hat. Im Versuchsaufbau des Neurowissenschaftlers Olaf Blanke und des Mainzer Philosophen Thomas Metzinger wurde den Probanden ebenfalls per Kamera und Videobrille eine entrückte Perspektive geboten (siehe Video). Auch diese Versuchsteilnehmer glaubten, sich selbst von außen zu sehen - auch wenn es sich dabei tatsächlich um eine Puppe handelte. Es gehe aber vielmehr darum, das Bewusstsein des eigenen Körpers zu studieren als außerkörperliche Erfahrungen, sagte Bigna Lenggenhager aus dem Forschungsteam zu SPIEGEL ONLINE.
"Zu einer klassischen OBE gehört sicher, dass alle Sinnesmodalitäten in den zweiten Körper hinein verlagert werden", sagt Philosoph Metzinger. Deshalb will er bei den beiden Experimenten höchstens von "Teleportations-OBEs" sprechen - und hält Ehrssons Aussage für "ein bisschen dick aufgetragen". Immerhin, das Ich-Gefühl lässt sich gezielt manipulieren - so viel steht fest.
Doch Psychologen, Hirnforscher und Philosophen interessieren sich aus einem ganz anderen Grund für die außerkörperlichen Erfahrungen - und dafür scheinen ausgerechnet die primitivsten Experimente am besten geeignet zu sein. "Wir haben hier die einfachste Form von Ich-Gefühl gezeigt", sagt Metzinger. Schon vor drei Jahren hatte Ehrsson vorgeführt: Im prämotorischen Cortex setzt das Gehirn Informationen zusammen, um zu entscheiden, ob ein Gliedmaß zum eigenen Körper gehört oder nicht. Schon mit der Gummiattrappe einer rechten Hand ließen sich seine Probanden damals reinlegen (mehr...).
Hier habe man "die einfachste Form von Ich-Gefühl" manipuliert. Und das habe weitreichende Konsequenzen für das Bild vom Menschen. Angefangen bei Descartes seien Philosophen vom rationalen Ego ausgegangen, hätten das Ich geradezu metaphysisch erhöht. Bis heute hält sich diese Vorstellung: Man könne zwar nicht erklären, was das Selbst ausmacht - aber es müsse mit Reflexion und Selbsterkenntnis zu tun haben, und einzigartig mache es den Menschen auch.
"Dieses Experiment könnte man genauso mit Affen machen", sagt Metzinger. "Die könnten vielleicht nicht so gut den Fragebogen ausfüllen, aber alles andere würde genauso funktionieren." Die Einheit von Körper und Ich-Empfinden gehört zur Grundlage des Selbstbewusstseins - und offenbar ist das Gehirn ständig damit beschäftigt, unterschiedliche Sinnenseindrücke zu einem stimmigen Körperempfinden zu verbinden. Da lässt sich im Experiment zwar hereinpfuschen - bewusst steuern kann der Mensch selbst es aber nicht.
"Das sitzt viel tiefer", sagt Metzinger. Er sieht die Chance, dass Psychologen und Hirnforscher das Ich-Bewusstsein nun stückchenweise auseinandernehmen und auf seine körperlichen Grundlagen reduzieren können. Sollten sie damit erfolgreich sein, so werden sie wohl auch feststellen, dass es ein Ich, das allem übergeordnet ist, gar nicht gibt. Schon der Titel ihrer Forschungsarbeit klingt wie ein Kampfansage an Ego-Philosophen René Descartes: "Video Ergo Sum" - ich sehe, also bin ich.
Zitat von Lykurg:janw, diese schnelle Weiterleitung gilt im Zweifel auch für den Tastsinn? Dann wäre das eine Grundlage der Täuschung - daß die Berührung *eindeutig* wahrgenommen wird, muß auch das Gesehene stimmen? Damit hätte der urtümliche Tastsinn eine latente Höherrangigkeit?
Zitat von ProxyBlue:Wenn ich mich in Gedanken an einen völlig beliebigen Ort versetze und mich in diesen vertiefe, so komm ich nicht umher zu sagen, dass sich je nach Tiefe mein Bewusstsein, also mein Ich, doch an diesem imaginären Ort befindet.