(Ab) Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
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Mi 25. Aug 2010, 20:53 - Beitrag #1

(Ab) Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Ich möchte einen Artikel des Tagesspiegels mit der Überschrift "Eier, Samen, Leben", der sich mit der Frage beschäftigt, ab wann Leben Leben ist, zur Diskussion stellen.

Insbesonders beschäftigen mich die Abätze, die die Konsequnezen aufzeigen, wenn die katholische Auffasung, das Menschsein beginne mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle, strikt ausgelegt wird:

"Was sind die Konsequenzen dieser Überzeugung? Eine kleine absurde am Rande: Wenn der Mensch vollwertiger Mensch ist mit der Verschmelzung von Same und Ei, ist er ungefähr neun Monate älter, als in seinem Pass steht. Er dürfte also neun Monate früher seinen Führerschein machen und sich neun Monate früher pensionieren lassen.

Eine andere, wesentlich gravierendere Konsequenz: Zwischen der gegenwärtigen Abtreibungspraxis in Deutschland und etwa einem Gesetz, das es erlauben würde, jedes Jahr Hunderttausende von Kindern bei einer Massenschießerei umzubringen, besteht für den moralischen Puristen kein moralischer Unterschied. Für ihn ist das absichtliche Töten eines Kindes ebenso verwerflich wie die Vernichtung eines im Reagenzglas erzeugten Embryos. Denn die gerade befruchtete Eizelle hat denselben rechtlichen Status wie etwa ein neugeborenes Kind.

Wenn aber ein Fötus den absoluten Schutz des menschlichen Lebens genießt, müsste man Frauen, die während der Schwangerschaft rauchen, Alkohol trinken oder gar Drogen konsumieren, wegen vorsätzlicher Körperverletzung belangen können."

Klingt alles logisch, ist aber in der Praxis eben nicht so.
Ist das ein Fehler oder ist im Artikel ein von mir unentdeckter logischer Denkfehler?

Padreic
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Mi 25. Aug 2010, 22:39 - Beitrag #2

Dass mit dem Führerschein und der Rente ist ein so dummes Argument, dass sich eine Erwiderung erübrigt. Dass mit dem Rauchen ist auch nicht viel besser: wer in Anwesenheit eines Kindes raucht, wird auch nicht wegen Körperverletzung angeklagt.

Nichtsdestotrotz hat das Thema natürlich etwas Interessantes. Es ist unbestritten, dass eine Eizelle lebendig ist, vor und nach der Zeugung. Doch wir haben normalerweise wenig Skrupel, Lebendiges dieser Komplexität zu töten. Der Artikel spricht von einer abgestuften Schutzwürdigkeit. Das ist sicherlich nicht dumm. Interessant ist, dass neben dem Artikel eine Photoserie von Mutter Theresa abgebildet ist, die ja eine sehr große Abtreibungsgegnerin war.

Insgesamt ist bei der ethischen Komponente von Abtreibung immer die entscheidende Frage (wenn man einer nicht mystisch dominierten Ethik anhängt), ob man von dem tatsächlichen Zustand oder dem Potential eines Wesens ausgeht. In meiner Ethik, die ich mir für die Rechtfertigung, dass ich Fleisch esse, zurechtgelegt hab (frei nach Singer), heißt es, dass man Wesen, die Schmerz empfinden können, nicht quälen soll, und Wesen, die Selbstbewusstsein, Individualität und Zukunftsinteressen/-planungen haben, nicht töten soll. Letzteres dürfte für Embryonen und Neugeborene kaum der Fall sein, für embryonale Stammzellen gar nicht. Doch mein Herz sträubt sich dagegen, deswegen Abtreibungen für unproblematisch zu erklären (wie es sich sträuben sollte beim Gedanken, eine Kuh zu töten?) - und letztlich halte ich es für potentiell fatal in moralischen Fragen die Ratio zu sehr über das Herz und die Liebe zu stellen.

Interessant natürlich immer wieder die Bedeutung der Zäsur der Geburt, die in der Rechtssprechung (und auch im gesellschaftlichen Bewusstsein) gemacht wird. Eine Spätabtreibung ist nicht so toll, die Tötung eines Neugeborenen Mord....

Ipsissimus
Dämmerung
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Do 26. Aug 2010, 00:54 - Beitrag #3

meines Erachtens gibt es zunächst mal keinen strengen point of no return. "Ab dieser Sekunde ist der aus der Verschmelzung von Zelle und Spermie entstandene Zellhaufen ein schützenswertes Leben" - das funktioniert nur in abstrakten Modellbildungen so, etwa der Moral. In der Realität ist der betreffende Umstand nur a posteriori feststellbar, salopp formuliert nach dem Motto "Oh, du lebst ja schon, ich hatte es zunächst gar nicht bemerkt". Das ist meines Erachtens so ähnlich wie wenn dir jemand sagt "Du bist ja schon groß geworden", aber du warst zu keinem bestimmten Einzelzeitpunkt plötzlich "groß", und erst im Nachhinein wird klar, du bist es ja schon eine Weile.

Was daraus für Konsequenzen folgen, ist eine Frage der Prämissen; und zwischen Prämissensystemen sachlich - und nicht auf der Basis von Ideologie - zu entscheiden ist deutlich schwieriger, als es Anhänger einfacher Weltbilder zur Kenntnis zu nehmen wünschen. Die gesamte "Logik" eines Gedankenganges wie dem im Problemaufriss beschriebenen steht und fällt jedenfalls mit der Anerkennung seiner Prämissen. Was davon gesellschaftliche Wirklichkeit wird, hängt letztlich von den realen Machtverteilungen einer Gesellschaft ab.

Padreic
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Do 26. Aug 2010, 14:37 - Beitrag #4

Das wäre natürlich keine sehr hilfreiche Antwort für alljene, die versuchen, da ein Rechtssystem aufzustellen oder dergleichen ;). Aber ich hab mich eh schon immer gefragt, was sie eigentlich in diesen Ethikkomissionen genau machen und auf welcher gemeinsamen Basis sie argumentieren wollen...

Maglor
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Do 26. Aug 2010, 18:42 - Beitrag #5

Es handelt sich um eine bloße Konvention.
Jedes Rechtssystem hat eine andere Auffassung, was schon die kleinen Unterschiede zwischen Katholischer Kirche und BRD zeigen.

Interessanterweise hatten die alten Römer und Griechen noch eine ganz andere Auffassung: Die Geburt war für sie eben keine Zäsur.
Ihrer Ansicht nach dürfe (oder besser sogar sollte) man ungewollte Neugeborene einfach im Wald aussetzen und ihrem Schicksal überlassen. Entweder sie werden von von den Wölfen gefressen oder sie bringen als Heroen Heil und Unheil über sich und ihre Mitmenschen. Das ganze geht sogar soweit, dass sie (z. B. Plato) die Tötung behinderter Kindern zur moralischen Notwendigkeit erklären.
Eine Praxis, die sich nur durch die Tatsache, das die Frucht bereits geboren ist, von aktuellen Spätabtreibungen unterscheidet. (Der Grad an Bewusstsein, Sinn, Geist etc. eines noch gerade so ungeborenen unterscheidet sich nicht von dem eines gerade eben geborenen Kindes.)

Ja, man könnte diese Zäsur verschieben. Warum fängt Menschsein nicht erst an, wenn sie zu sprechen beginnen oder Schamhaare bekommen?

Ipsissimus
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Do 26. Aug 2010, 20:21 - Beitrag #6

Noch mal zu der Eingangsfrage im engeren Sinne: selbstverständlich ist der Zellhaufen, der aus der Verscmelzung von Ei und Spermie resultiert, vom Augenblick der Verschmelzung an lebendig - was sollte er sonst sein. Die Frage ist also nicht die nach seiner Lebendigkeit sondern danach, ab welchem Augenblick der Schutz der Menschenrechte für ihn gelten soll

Ein dafür einigermaßen vertretbares, nicht gänzlich willkürliches Kriterium - das aber auch nicht einer vorher exakt festlegbaren Sekunde folgt - scheint mir in dem Zeitpunkt gegeben, ab dem eine Frühgeburt ohne Gerätemedizin überlebensfähig ist, also etwa ab dem 6ten Monat (Hege benötigen alle Neugeborenen, es ist also kein Kriterium, keiner Hege mehr zu bedürfen). Nehmen wir für Eventualitäten noch einen Monat weg, sind wir beim 5ten Monat, und damit schon gar nicht mehr so weit weg von den derzeitigen 3 Monaten, mit denen ich daher auch einverstanden bin (es ist imo nicht zuviel verlangt, sich innerhalb dieser 3 Monate darüber klar zu werden, mit welchem Set von Konsequenzen für den Rest des Lebens klarzukommen bevorzugt wird).

Ein ungutes Gefühl bleibt, resultierend daraus, dass damit die Änderung einer qualitativen Eigenschaft postuliert wird, die in Wirklichkeit zu keinem Augenblick ihren Charakter geändert hat. Das ist eine Konsequenz des Wollens, also unvermeidbar.


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