Im Jahr der Inkontinzenz-Unterwäsche

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Ipsissimus
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Di 12. Okt 2010, 11:36 - Beitrag #1

Im Jahr der Inkontinzenz-Unterwäsche

in dem von mir mittlerweile höchst geschätzten Roman "Infinite Jest" ("Unendlicher Spaß") des unterdessen bedauerlicherweise suizidierten David Foster Wallace, findet sich eine Idee, die in ihrer schlichten Eleganz und Abgründigkeit das übliche Niveau all der vielen sonstigen faszinierenden Ideen dieses Romans bei weitem übersteigt, die Idee der Sponsorenzeit.

Sponsorenzeit. Gemeint ist damit die Abkehr von einer linearen Zeitauffassung zumindest in der öffentlichen Kultur.

Statt dessen versteigert ein Staat für den Bereich seiner Rechtsprechung gegen Startgebote gern im zweistelligen Milliardenbereich (Euro) an Konzerne und andere interessierte Organisationen den Namen eines Jahres, das nach erfolgtem Zuschlag dann eben nicht mehr z.B. als "2002" referenziert würde, sondern z.B. als "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche", falls es dem Industrieverband der Inkontinenzunterwäsche-Hersteller gelänge, den Zuschlag zu erhalten.

Der erfolgreiche Bieter hätte somit für ewige Zeiten - also bis zur nächsten Zeitreform^^ - seinen Firmennamen oder sonstwie gewünschten Werbeslogan in der offiziellen Zeitsprechung und Geschichtsschreibung verankert. Und der Staat hätte einen Teil seines Jahreshaushaltes schon mal finanziert.

Das Ganze ist natürlich von verwaltungstechnischen Maßnahmen flankiert, z.B. bräuchte man Vergleichstabellen, in denen für alle Staaten der Erde, die zur Sponsorenzeitrechnung übergegangen sind, die Namensentsprechungen aufgelistet sind; für PCs und ähnliches müsste eine interne Nummierung weitergeführt werden, damit mit Datum gerechnet werden kann, aber in der Display-Darstellung dürfen wiederum nur noch die korrekten Sponsorenzeit-Namen erscheinen, usw..

Ich finde die Idee total faszinierend^^ statt einer linearen Zeit hätte man eine Art "Ereignis-basierter" Zeitrechnung. Würde menschliches Empfinden das mitmachen? Schwer abschätzbar^^

(es ist mit meiner Faszination übrigens völlig vereinbar, dass ich die umgesetzte Idee gleichzeit als absolut bösartig emfinde^^ die Faszination des Bösen^^)

Lykurg
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Di 12. Okt 2010, 20:40 - Beitrag #2

Die Idee kommt mir bekannt vor... Ich weiß nicht mehr sicher, ob es 1998 oder 1995 war, über das es hieß, Bill Gates hätte das Jahr gekauft und es wahlweise Microsoft oder Melinda genannt, wenn die betreffende Windows-Version nicht rechtzeitig fertig geworden wäre. Ansonsten erinnert es natürlich an die diversen griechischen und römischen Jahreszählungsbräuche, dort allerdings kaufte man sich nicht in erster Linie das Recht auf den Namen. Bild

Andersherum wurde hierzustadt eine lokale Profanwallfahrtsstätte, über Jahrzehnte geläufig unter dem Namen Volksparkstadion, in den letzten Jahren auf Wunsch ihrer wechselnden Sponsoren so oft umbenannt, daß auch Fans den gegenwärtigen Namen nicht wissen und die Bahn ihre Wegweisung pragmatischerweise auf eine allgemeine Bezeichnung ("Arenen") umgestellt hat. Dagegen wäre die Inkontinenzunterwäsche noch ein ereignisreicher und einprägsamer Jahrestitel.

Der Lösungsvorschlag wegen internationaler Inkompatibilität ist allerdings etwas unbefriedigend. Besonders interessant wird es, wenn ein Global Player in benachbarten, sprachgleichen Ländern verschiedene Jahre erwirbt.

Traitor
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Di 12. Okt 2010, 22:32 - Beitrag #3

Schon bei den Stadien wundert es mich, warum die Presse, die ja eigentlich nicht an das Sponsoring gebunden sein sollte, die Namen nicht einfach boykottiert und die eingebürgerten verwendet. Bei etwas so elementarem wie Jahren wäre es aber wohl zu erwarten, dass die gekauften Namen weitgehend ignoriert werden und die "bürgerlichen", also numerischen Bezeichnungen, weiterverwendet werden. Höchstens in offiziellem Schriftwechsel wäre durchzusetzen, die Unsinnsnamen zu verwenden, und normal datierte Dokumente einfach für ungültig zu erklären. Bei Computern würden, selbst wenn die großen Softwarehersteller mitziehen und den Unfug anzeigen lassen, schnell Zusatzprogramme erscheinen, mit denen man jede Anzeige wieder auf die intern weiter verwendete und menschenlesbaren Zahlenjahre umstellt.

Tendentiell würde ich sagen - man sollte die Option einfach mal zum Verkauf anbieten, einige Milliarden für die Staatskassen einstreichen, und die Nutzung dann dank allgemeinen Boykotts im Sande verlaufen lassen. ;)

Ipsissimus
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Mi 13. Okt 2010, 00:23 - Beitrag #4

na ja, bei Fussballstadien steht kein Gesetz hinter der Namensänderung, da könnten sich Medien in der Tat verweigern, wenn die namensgebenden Sponsoren nicht in sehr vielen Fällen auch wichtige Werbekunden sind, die man ungern vergraulen möchte^^

Aber die Sponsorenzeit ist per strafbewehrtem Gesetz eingeführt; wenn im öffentlichen Raum die Bezeichnungen nicht verwendet werden, stellt das eine strafbare Handlung da. Dem können sich Medien auch nicht entziehen, zumindest, wenn der etwaige ursprüngliche Widerstand gegen das Gesetz gesellschaftsweit gebrochen ist

Traitor
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Mi 13. Okt 2010, 10:22 - Beitrag #5

Die Werbekunden sind sicher ein Argument. Vermutlich gibt es dann interne Anweisungen von der Werbeabteilung an den redaktionellen Teil oder eine Nachkorrektur.

Wenn das Sponsoringgesetz der Presse und Privatpersonen mit Strafe drohen würde, bin ich mir ziemlich sicher, dass es zumindest im Deutschland das Verfassungsgericht nicht passieren könnte. Wenn man nichtmal für sinnvolle Sachen wie Rechtschreibung oder SI-Einheiten verbindliche Regeln festlegt, kann man das nicht für soetwas machen, da kein erkennbarer Schaden durch Nichtbeachtung vorliegt und somit ein reiner Eingriff in Presse- und Entfaltungsfreiheit, der mit keiner Zwangslage abgewogen werden kann.

Ipsissimus
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Mi 13. Okt 2010, 11:38 - Beitrag #6

ja, natürlich^^ aber "Infinite Jest" ist ein Roman, Fiktion mithin; betrachte es halt einfach als eine Art Gedankenexperiment - entgegen aller Einwände hat sich Sponsorenzeit durchgesetzt, das ist die Prämisse. Davon abgesehen hat das politische System, das in dem Roman gezeichnet wird, durchaus Züge eines totalitären Regimes, und in einem solchen wäre der Einwand mit dem Verfassungsgericht gegenstandslos.

Aber auch in der Realität lobbyistischer Staaten, selbst wenn sie sich einen demokratischen Anschein geben, wäre das m.E. keine von vornherein aussichtslose Sache. Wenn die Neoliberalisierung der Gesellschaft so weiter geht, dürfte das Verständnis für die Festlegung Konzern-spezifischer, also privat-kommerzieller Notwendigkeiten als selbstverständliche gesellschaftliche und politische Zielvorgaben zumindest in der öffentlichen Zeichnung so sehr überhand nehmen, dass auch in solchen Staaten recht wenig Widerstand zu erwarten wäre, jedenfalls keiner, der nicht übergangen oder gebrochen ... pardon, argumentativ ausgeräumt werden könnte^^

nils.ri
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Mi 13. Okt 2010, 17:54 - Beitrag #7

Naja, die Hemmschwelle für die kommerzielle Nutzung von Jahresnamen ist doch schon ziemlich hoch. Dazu ist die Nummerierung einfach zu praktisch.
(Die Umbenennung von Stadien oder die Privatisierung der Bahn ist bei weitem weniger unpraktisch.)

In Nordkorea könnte ich mir das allerdings ganz gut vorstellen (wobei die Jahre dann natürlich "Jahr zu Ehren des glorreichen Siegs der Arbeiterrevolution" o.ä. heißen würden).

Interessant, dass kein moderner Autoritätsstaat (jedenfalls kein mir bekannter) das jemals getan hat. Ist doch ein erstklassiges Propagandainstrument!

Lykurg
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Mi 13. Okt 2010, 18:54 - Beitrag #8

Du hast völlig recht, zumindest die mir bekannten Beispiele sind historisch bzw. in historischer Tradition. Athen zählte seine Jahre nach dem regierenden Archonten, Rom in der frühen Republik nach den Konsuln; Königs- oder Dynastienzählungen sind Legion. - Ein historisch-moderner Grenzfall, Japan, führt seit 1979 den Beginn einer neuen Ära nur noch zum Tod eines Tennos ein, vorher wäre es wohl durchaus möglich gewesen, eine passende Devise auszugeben, wenn auch eher nicht jährlich. Zählungen ab bestimmten nichtreligiösen Fixpunkten gibt es allerdings mehrfach, meist kurzlebig - in der Moderne hat immerhin die Sowjetunion die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution von diesem Datum an gezählt, deren Vorbild waren vermutlich die Franzosen (in den ersten Jahren nach 1789).

Individuelle, nichtzyklische Namen für jedes Jahr scheinen seit den Sumerern und Akkadern nicht mehr allzuviele Völker ausprobiert zu haben. Als inoffizielle Benennung gibt es allerdings eine Menge. 2010 ist z.B. das Jahr des Wanderns, der Biodiversität, der indigenen Völker, der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, der Hausgeburt und der Stille. Man könnte natürlich auch den Vogel, Baum oder wai des Jahres als eponym behandeln. Nur durchsetzen wird sich nichts davon. Bild

Traitor
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Mi 13. Okt 2010, 21:52 - Beitrag #9

Ja, schon klar, dass das fiktiv gedacht ist. Aber ich fand den Aspekt, ob sich soetwas tatsächlich durchsetzen konnte, ersteinmal interessanter. Insbesondere in Hinblick darauf, ob man das Ganze als harmloses Gedankenspiel betreiben kann, oder ernsthaft Angst vor dem Szenario haben muss. ;)

Noch ein Argument gegen die Realisierbarkeit: Würden die Konzerne das wirklich wollen? Auf den ersten Blick ist ein gekauftes Jahr ja ein tolles Werbeinstrument. Aber jeder Marketingabteilung würde klar sein, dass sie nicht alle Jahre für ihre eigenen Marken ersteigern kann, sondern (außer in stark hegemonisierten Marktsegmenten) mehr Jahre an die Konkurrenz gehen werden als einen selbst. Und im Gegensatz zu Fußballstadien, bei denen sie die "fremdgekauften" weitgehend ignorieren können, müssten die Firmen dann ja selbst die Werbung ihrer Konkurrenten verbreiten, weil sie um die Benutzung von Jahren ja wohl kaum herumkommen. Produktbezeichnungen wie "Windows 2000" würde es schlicht und ergreifend nicht mehr geben, weil das Risiko zu groß wäre, dass rückwirkend Apple das Jahr kauft und man am Ende Werbung mit "Windows Jahr des Macintosh" machen müsste. Aber ob die Firmen auch bereit wären, in jedem anderen Kontext die Konkurrenz zu bewerben oder komplizierte Umgehungsformulierungen zu konstruieren?

Aber zu überlegen, was denn nun wäre, wenn es sich durchsetzte, ist durchaus auch spannend, das gebe ich gerne zu. Zu deiner Ausgangsfrage also -
Würde menschliches Empfinden das mitmachen?
Prinzipiell mitmachen im Sinne, dass nicht alle völlig wahnsinnig würden oder die Zeitrechnung völlig verlernen, sicher schon. Aber ich denke, es gäbe deutliche Effizienzeinbußen in allen Lebensbereichen (auch etwas, was die Firmen selbst eher von dem Modell abhalten würde), und zwar nicht nur in der verwirrten Umstiegsgeneration, sondern auch darüber hinaus. Unpraktische Kalendersysteme könnten in der Vergangenheit durchaus auch zu den weichen Faktoren im globalen Zivilisationswettstreit gehört haben (ob es da Untersuchungen gibt?).
Obwohl, vielleicht würde es eben doch dazu führen, dass die Menschen die Zeitrechnung verlieren - in Verbindung mit fortschreitender Computerisierung. Durchaus vorstellbar, dass dies neben immer kürzer werdenden Medienaufmerksamkeitsspannen und allgemeinen Bildungsproblemen ein Baustein sein könnte, um das Geschichtsbewusstsein der Menschheit zu untergraben und zumindest die Bevölkerungsmehrheit rein in der Gegenwart leben zu lassen, alles ernsthaft mit Jahren rechnende würden dann Computer oder Eliten übernehmen. Wäre ein nettes Element für deine eigene, lobby- statt repressions-getriebene 1984-Variante, oder? ;)

Lykurg, mit der "Jahr des Dingens"-Inflation verhält es sich sehr ähnlich wie mit den Städte-Beinamen...

Ipsissimus
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Do 14. Okt 2010, 10:50 - Beitrag #10

ob es sich durchsetzen würde, hinge m.E. einfach davon ab, ob eine entsprechende Gesetzgebung dahinter stünde. Wenn Kindern schon im Kindergarten beigebracht wird, die Namen zu benutzen, wenn Zeitungen und Bücher aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie Jahreszahlen benutzen, wenn in allen offiziellen Verlautbarungen und auch in den Medien nur Jahresnamen benutzt werden, dann dürfte der Widerstand nach ein paar Jahren keine richtige Nahrung mehr haben.

Nicht dass ich für so einen Scheiss wäre. Aber dass es nicht gelingen könnte, glaube ich nicht wirklich.

Das Argument mit der Konkurrenz ist bedenkenswert, aber das ist relativ einfach zu lösen. Zum einen wäre die Anzahl der Interessenten ziemlich groß; dass ein direkter Konkurrent das nächste Jahre ersteigern könnte, wäre ohnehin die seltene Ausnahme, und das Problem könnte man z.B. dadurch zusätzlich mildern, dass sich Marktsegmente erst 5 oder 10 Jahre nachdem sie das letzte Mal dran waren, wieder ein Jahr ersteigern können.

Und ja, der Aspekt des Verlusts des Geschichtsbewusstseins außerhalb der Eliten wäre ein Aspekt, der das Ganze für die Eliten um so begehrlicher machen würde^^ wie gesagt, ich bin nicht deswegen von der Idee fasziniert, weil ich sie für so wünschenswert erachte^^


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