Aquinische Eier

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Lykurg
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Mi 3. Nov 2010, 01:31 - Beitrag #1

Aquinische Eier

Gegenwärtig darf ich mich mit Auszügen aus Thomas von Aquins Summa Theologica auseinandersetzen, konkreter der 118., der 77. und 78. Frage des zweiten Teils, es geht also um Habsucht, Handel und Zinsgeschäfte. Hier gibt es II, 118 in einer englischen Übersetzung. Der Einfachheit halber hier einige Notizen dazu, die allerdings eher vorläufigen Charakter haben. Anregungen und Widersprüche jeder Art sind mir willkommen, davon liefert der Text selbst ja schon aus Prinzip eine ganze Menge.[quote="Lykurg"]Thomas von Aquin erörtert in der 118. Frage der Summa Theologica den ethischen Stellenwert der Habsucht (avaritia). Von der Frage ausgehend, ob es sich dabei um eine Sünde handelt, untersucht er im Folgenden, wie schwer sie wiegt, welcher Tugend sie gegenübersteht und in welchem Verhältnis sie zu anderen Sünden steht. Die Untersuchungen erfolgen jeweils dialektisch, Autoritätszitate und eigene Überlegungen werden jeweils pro und contra gesammelt und im Responsum abgewogen, worauf eine Klärung übriggebliebener Widersprüche der abgelehnten Argumentation erfolgt.

Sein Ergebnis, avaritia sei eine Sünde, ergibt sich daraus, daß sie in der Überschreitung des rechten Maßes (debita mensura) bestehe. Dabei sieht Thomas im Gegensatz zu Aristoteles eine natürliche Veranlagung des Menschen, äußeren Reichtum (exteriores divitias) zu besitzen, um ein Leben secundam suam conditionem zu führen. Zum Wesen der Habsucht gehöre es aber, Güter besitzen zu wollen, die eben dieses Maß überschreiten. Es gelte aber, die natürlichen Neigungen (inclinationes naturales) gemäß dem Verstand zu regeln, wovon ausdrücklich auch alte Menschen nicht befreit sind. Hier zeigt Thomas, daß er in mangelndem Maßhalten ein naturae defectum sieht, nicht etwa eine persönliche Eigenschaft.

Thomas unterscheidet zwischen Habsucht in Erwerb und in Aufbewahrung der Güter, dabei führt er – was bei Aristoteles noch völlig fehlte – eine Relation der Besitztümer ein dahingehend, was der eine an zeitlichen Gütern im Überfluß habe, müsse dem anderen fehlen (bis heute würden ihm darin Teile der Linken zustimmen). Dies könnte auf eine Sünde an anderen Personen hinauslaufen, entweder durch Vorenthaltung des Benötigten (dann handelt es sich um einen Verstoß gegen die Freigebigkeit) oder durch Raub (dann wird gegen die Gerechtigkeit verstoßen). Auch das Verletzen des Maßes in die entgegengesetzte Richtung ist Thomas zufolge falsch, wobei er übertriebene Freigebigkeit, also Verschwendung, als Schuld bezeichnet, im übermäßigen Altruismus (?) (minus habere quam debeat secundum justitiam) aber keine Schuld, sondern eine Strafe sieht, wobei er selbst anmerkt, einen solches Gegensatzpaar lasse sich hier nicht bilden.

Die Sündhaftigkeit der Habgier liegt aber wesentlich darin begründet, daß (deshalb wird der Aspekt des Maßhaltens von Thomas so unterstrichen) das Verlangen nach Reichtümern über die Liebe zu Gott gestellt wird, womit sogar die Voraussetzung für eine Todsünde erfüllt wäre. Die Schwere einer Sünde entscheidet sich ihm zufolge daran, wogegen sie sich richtet]

Ipsissimus
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Mi 3. Nov 2010, 12:54 - Beitrag #2

wirkt ein bisschen wie eine vorzeitige Widerlegung des Calvinismus oder vielleicht sogar wie eine Vorwegnahme von Weber, natürlich auf ganz anderen Voraussetzungen aufbauend als dessen Gedanken zur protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus.

Worauf zielt deine Untersuchung, und versuchst du dich an einer ausschließlich textimmanenten Exegese oder ziehst du auch soziologische Faktoren der Zeitgeschichte heran? In letzterem Falle wäre z.B. die zunehmende Lockerung des Zinsverbotes für Christen und dessen letztliche Aufhebung zu bedenken, die in derartigen Texten vorbereitet, begleitet und begründet wurde. Zwar immer noch Sünde, aber bei geeigneter innerer Haltung doch vielleicht machbar, dass auch Christen voneinander Zinsen nehmen, ohne ihre ewige Seligkeit zu verspielen, so könnte man das Argument zusammenfassen, ohne dass dem Text insgesamt damit schon umfassende Gerechtigkeit widerführe.

Was hast du denn schon erbrütet?

Lykurg
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Mi 3. Nov 2010, 16:40 - Beitrag #3

Zentraler Gesichtspunkt für mich sind dessen Konsequenzen für die Gesellschaft, insbesondere aber die literarische Produktion. In der Tat ist Calvin, soweit ich ihn kenne (und das ist bisher ausschließlich sekundär erfolgt), als klare Gegensatzbildung dazu entstanden, wobei eben Primärkenntnisse erforderlich wären, um zu beurteilen, ob man es eben auch andersherum sehen könnte, wie du so schön zugespitzt meinst. Um das Zinsverbot geht es ja konkret in den anderen beiden Fragen, mit denen ich mich jetzt verstärkt auseinandersetzen muß. Interessant fand ich aber auch schon die rein autoritative Argumentationsweise, die Bibel und ihre Exegeten als selbstverständlich unhinterfragbare Instanz, die es allenfalls zu kommentieren gilt, um die Welt angemessen zu beschreiben.

Schwierigkeiten hatte ich mit den begrifflichen Abgrenzungen, was vitium und peccatum betrifft; außerdem - da fehlt mir historisches Wissen - die Abschätzung der Praxisrelevanz. Inwieweit Beichte als Kontrollinstanz und Denkschema eine Selbstregulierung bewirkte oder aber über Kirchenstrafen Wohlverhalten erwungen wurde, ist mir unklar, und spielt doch für die Alltagsbedeutung des Textes eine zentrale Rolle. Auffällig ist auch die Bekräftigung der herrschenden Ordnung, was das Standesdenken angeht. Thomas sagt ganz klar, daß das 'rechte Maß' standesbezogen unterschiedlich liegen müsse, und vermutlich würde jemand, der die Standesgrenzen verletzt, sich nicht nur der avaritia, sondern sogar der superbia schuldig machen. Hier könnte eine weitergehende Untersuchung der Einflüsse etwa auch seiner Herkunft interessant sein.

Ipsissimus
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Mi 3. Nov 2010, 17:34 - Beitrag #4

nun ja, Thomas lebte um die Mitte des 13ten Jahrhunderts, also im hohen Mittelalter, für das man noch eine an der Oberfläche weitgehende Unversehrtheit der kirchlichen Deutungshoheit feststellen kann (an der Oberfläche, denn schon lebte ja Johannes Duns Scotus, der kurz darauf der Einheit von Philosophie und Theologie sachlich den Garaus machen wird). Bei Thomas können wir jedenfalls die scholastische Grundprämisse des Vorrangs der Offenbarung vor dem Verstand und damit der Theologie vor der Philosophie noch als unangetastet voraussetzen; es ist sicher auch nicht ganz verkehrt, die Scholastik als Versuch aufzufassen, diesen Vorrang bis zum äußersten zu verteidigen - dass mit der dazu betriebenen Verfeinerung der logischen Mittel der Untergang ihres Sujets eingeläutet würde, war zu Beginn (Anselm von Canterbury, ontologischer Gottesbeweis, mittleres bis spätes 11tes Jahrhundert) wohl nicht abzusehen.

Die Aufhebung des Zinsverbotes lag im 13ten Jahrhundert bereits in der Luft; Kaufmannsverbünde wie die Hanse gab es längst, Kaufmannsfamilien wie die Fugger zeichneten sich bereits am Horizont ab, und ich denke, es war den klügeren unter den kirchlichen Funktionären völlig klar, dass sie sich nicht dauerhaft würden gegen die Flut stemmen können (aber vielleicht, clever vorgegangen, in verwertbare Bahnen lenken ... warum denke ich eigentlich gerade an Ablass?^^)

vitium - Fehler, Fehlerhaftigkeit, peccatum - Sünde, Sündhaftigkeit, ein Fehler ist noch nicht per se eine Sünde, bestimmte Kategorien von Fehlern tragen aber das Potential in sich, Sünde zu werden.

Die Praxisrelevanz schätzte ich als hoch ein; das Hochmittelalter ist zwar unter der Oberfläche bereits gewaltig auf dem Weg, sich von kirchlicher Bevormundung zu befreien, das heißt aber nicht, dass der Zugriff auf die Psychen der Menschen bereits gebrochen wäre. Der gesamte Ablasshandel basiert darauf, als eine einfache Methode, sich von seinem schlechten Gewissen zu befreien.

Ich glaube nicht, dass Thomas, als typischer Ordensgelehrter, derartiges bereits im Sinne hatte. Andere - Managertypen^^ - haben die - heute würde man sagen: politische - Brisanz seiner Gedanken wohl eher erfasst als er selbst.

Padreic
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Do 4. Nov 2010, 18:54 - Beitrag #5

Nur als kurzer Kommentar: Auch wenn du tendentiell mit Duns Scotus recht haben magst - der Großteil seines philosophischen Werks liegt in den Sentenzenkommentaren, also der Tradition nach theologischen Werken. Er folgt auch der scholastischen Methode, die viel auf die Dialektik mittels Traditionszitaten gibt - nur, dass er sie vielleicht ein wenig kritischer als so mancher Vorgänger durchführt.

Den Thomas von Aquin werde ich mir mal anschauen, wenn ich etwas mehr Zeit/weniger Müdigkeit hab.

Ipsissimus
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Fr 5. Nov 2010, 11:05 - Beitrag #6

ich behaupte ja gar nicht, Padreic, dass Johannes Duns Scotus diese Trennung selbst schon innerhalb seines Werkes vollzogen hätte, er war aber wohl der erste, der klipp und klar gesehen und gesagt hat, dass Philosophie und Theologie unterschiedliche Disziplinen sind, und mit diesem Statement hat er die letztliche Abtrennung der Philosophie von der Theologie eingeleitet, selbst wenn die Theologie in seinem Werk noch den Hauptanteil ausmacht (die 1950 von einer vatikanischen Kommission begonnene und längst nicht abgeschlossene Neuausgabe seiner theologischen Schriften umfasst bislang 26 dicke Bände, über den Umfang der 1997 begonnenen Bonaventura-Ausgabe seiner philosophischen Texte kann man bislang nur spekulieren)


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