Wut kommt nicht von ungefähr

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
janw
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Sa 4. Dez 2010, 15:09 - Beitrag #1

Wut kommt nicht von ungefähr

Aus: Potegal M, Robison S, Anderson F, Jordan C, Shapiro E. in Aggress Behav. 2007 Nov-Dec;33(6):508-18.
[quote="Abstract"]Brief, gentle arm restraint is widely used in experimental studies of children's anger, but the pattern of responses generated by such restraint has been incompletely described. We now describe a hierarchy of responses within trials as well as an escalation across trials that have both methodological and theoretical significance. Mothers of 87 15-month olds prevented them from playing with a toy by restraining their arms on two consecutive 30 sec trials. Physical struggling was the first and most frequent response]
Eine interessante Untersuchung in meinen Augen, da sie ein Licht auf die Entstehung von Wut wirft, die damit deutlich weniger als häufig gesehen als "blindwütig", "überraschend ausgebrochen" und ähnliches gelten kann.

Traitor
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So 5. Dez 2010, 00:13 - Beitrag #2

Ehrlich gesagt sehe ich nicht, wie eine derart spezielle und unter sehr konstruierten Bedingungen ablaufende Untersuchung allgemeingültige Aussagen zur Entstehung eines so vielschichtigen Phänomens liefern kann.

Ganz allgemein: dass Wut selten singulär ist, sich stets aufbaut und meist auch schon vorab zeigt, ist doch wohl ziemliches Allgemeinwissen?

Etwas spezifischer zur Anwendbarkeit dieser Untersuchung: Die Psychologie von Kleinkindern ist doch massiv verschieden von der Erwachsener, sodass ich die Übertragbarkeit für gering halte, selbst wenn es konkrete Resultate gäbe.

Ganz konkret zu Methodik und Resultaten: das "Experiment" erscheint mir sehr abstrakt konstruiert, und dennoch enthält es noch viel zu viele Freiheitsgrade, um statistisch belastbare monokausale "Eskalationsketten" daraus ableiten zu können. Und was sind nun überhaupt die Resultate? Der Schluss von einseitigen Korrelationen (wie sieht es mit den Gegenrichtungen aus?) zu Hierarchien oder gar zeitlichen Abfolgen, wie ihn der Abstract behauptet, ist zumindest in dieser Kürze absolut nicht nachzuvollziehen.

Natürlich kann es sein, dass die Vollversion des Artikels, plus das nötige Fachwissen, um etwa mit "Guttman scalability" oder "ecological validity" etwas anfangen zu können, die Sache überzeugender macht. Aber auf den ersten Blick erscheint mir das als klassische sozialwissenschaftliche / pädagogische Studie, die ein allseits bekanntes und auf Ebene des gesunden Menschenverstandes auch weitgehend verstandenes Phänomen mit wissenschaftlicher Methodik anzugehen versucht, aber dabei letztlich nichts relevantes liefert.

janw
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So 5. Dez 2010, 20:52 - Beitrag #3

Bestätigung von Allgemeinempfinden, Postulaten des gesunden Menschenverstandes kam mir auch zunächst in den Sinn, mir erscheint es aber schon interessanter - und sei es nur, daß auch der gesunde Menschenverstand oft nichts gilt, wenn er nicht durch eine multivariate doppelblinde dreifach replizierte und in einer Metaanalyse als valide eingestufte Studie auf der Grundlage der halben Weltbevölkerung bestätigt wird.
Alternativ bietet sich allerdings auch eine Erörterung der Mechanismen an, durch die belanglose Untersuchungen bekannter Phänomene den Ereignishorizont der wissenschaftlichen Öffentlichkeit übersteigen.

Erstmal zu ersterem:
Daß Wut sich allmählich aufstaut und dann irgendwann ausbricht, ist sicher jedem geläufig, der selber einmal wütend geworden ist - nur ist das Geschehen vor dem Ausbruch internes Geschehen des Betreffenden und somit von Außenstehenden nur mit Unschärfe wahrnehmbar.

Die Psychologie von Kleinkindern ist anders als jene von Erwachsenen, ja. Nur fragt sich, wieweit in welchen Bereichen - allgemein wird von einer Dominanz von automatischen Reflexen und stärker affekt- und impulsgesteuertem Handeln ausgegangen. Diese grundlegenden Steuerungselemente werden später durch Filter wie Algorithmen rollen- und situationsangemessenen Verhaltens und soziale Codices in ihrer Wirkung geregelt, u.a. durch Ablenkhandlungen, im Extremfall durch psychologische Verhaltensmuster.
Von daher besteht der methodische Gedanke, Kleinkinder als Modell zu verwenden, um die zahlreichen individuellen Filter bei erwachsenen Probanden auszuschließen.

Die Methode der Erzeugung eines Armwiderstandes als Reiz scheint eine Methode zu sein, um bei Kindern psychomotorischen Reaktionen zu provozieren.
Die Messung von Änderungen des Gesichtsausdruckes usw. erlauben danach die Feinskalierung der auftretenden Energien und eben die Entwicklung eines Modells der zeitlich ablaufenden Reaktion auf den Reiz.

Daß der Aufbau nur einseitig funktioniert, mag ein Problem sein, allerdings gilt dies ja auch für andere wissenschaftliche Untersuchungsverfahren (je mehr Licht auf Grünalgen scheint, umso mehr Sauerstoff produzieren sie. Kann man Dunkelheit auf sie scheinen lassen?).
Zur Skalierung wird die Guttman-Skala verwendet, die in der Psychologie und Soziologie offenbar recht verbreitet angewandt wird.
Sie erlaubt die Abfrage corollarer Sachverhalte, ohne den Probanden vor Fragen à la "welche Antwort wäre denen jetzt wohl lieber?" zu stellen:

1. Sind Sie bereit, Moslems zu ermöglichen, in Ihrem Land zu leben?
2. Sind Sie bereit, Moslems zu ermöglichen, an Ihrem Wohnort zu leben?
3. Sind Sie bereit, Moslems zu ermöglichen, in Ihrem Wohnviertel zu leben?
4. Sind Sie bereit, Moslems zu ermöglichen, direkt neben Ihnen zu leben?
5. Würden Sie Ihrem Kind ermöglichen, einen Moslem zu heiraten?

Es wird gewissermaßen der Trigger-Punkt ermittelt, bei dem der Proband eine bestimmte Verhaltensänderung zeigt, bzw. ggf. eine entsprechende Trigger-Bandbreite.

Ipsissimus
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Mo 6. Dez 2010, 12:51 - Beitrag #4

aus der Sicht europäisch-kontinentaler geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Traditionen folgt der angelsächsische Ansatz der soft sciences eher "merkwürdigen" Prinzipien. So etwas wie die Guttman-Skala war ursprünglich für den europäischen Raum undenkbar; mittlerweile gehört sie im Rahmen der empirischen Sozialforschung aber auch bei uns zum Handwerkszeug.

Ich denke, die Ansätze folgen unterschiedlichen Absichten. Den angelsächsischen Forschern geht es - vorsichtig ausgedrückt - tendentiell eher um Pragmatismus, um Fragen des Messens und Skalierens, im Hintergrund wartet irgendeine Variante von Verhaltenstherapie, Verhaltenskontrolle, Verhaltensnormierung; und das lässt sich aus der Darlegung des Experiments und seiner Implikationen ganz gut ablesen. Aus klassisch-europäischer Sicht geht es ums Verstehen dessen, was passiert, und bezogen auf diesen Ansatz begehen die soft sciences bei dieser Vorgehensweise einen systematischen Fehler, der darauf hinausläuft, dass von realem Verhalten abstrahiert wird auf Verhaltensmodelle und alle weiteren Aussagen zum Verhalten in Wirklichkeit Aussagen über Verhaltensmodelle sind. Diese grundlegende Methode der Naturwissenschaften - Modellbildung - ist im Rahmen der europäischen Geisteswissenschaften mit einem dicken Fragezeichen versehen; gleichwohl kann man feststellen, dass die Methode zumindest im Bereich der Gesellschaftswissenschaften auch bei uns mittlerweile zum selbstverständlichen Handwerkszeug zählt.

Das "Merkwürdige" an der Methode kann man vielleicht an folgender kleiner Story ersehen: ein Kommilitone von mir, Musikwissenschaftler, A-Organist, ging vor vielen Jahren für ein Jahr nach England. Nach seiner Rückkehr erzählte er von gar seltsamen Analysemethoden, in England würden Musikstücke - alte Musik, nicht etwa nur serielle u.dgl. - analysiert, indem man nachzählt, wieviele Töne ein Stück enthält, wieviele Töne einer bestimmten Tonhöhe und wieviele Töne einer bestimmten Dauer enthalten sind. Das hat bei uns damals nichts als ein verwundertes und ungläubiges Lächeln hervorgerufen, so absurd wurde das empfunden, und ehrlich gesagt, ich habe bis heute nicht so richtig verstanden, was eine derartige Analyse an relevanten Erkenntnissen bringen soll. Gleichwohl sind derartige Analysen im Angelsächsischen weit verbreitet. Aus angelsächsischer Sicht sind umgekehrt wohl diese selbstbezüglichen und anscheinend auf nichts Anwendbares hinauslaufenden l´art pour l´art-Theorien unserer Tradition entsprechend merkwürdig konnotiert.

janw
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Di 7. Dez 2010, 21:50 - Beitrag #5

Ipsi, soft science oder Biologie?^^
Du hast recht hinsichtlich der unterschiedlichen Herangehensweisen, Methoden und Absichten und der daraus resultierenden Verständnisprobleme.
Aber liefert die anglo-amerikanische Verfahrensweise nicht vielleicht einen Blick auf den Gegenstand, der die "altweltliche" Sichtweise vervollständigt?
Ich würde diesen konkreten Fall unter Verhaltensforschung, Ethologie unterbringen, also etwas weniger soft.
Unser Vorgehen wäre hier, den Verhaltensvorgang in alle erdenklichen Einzenteile und Faktoren zu zerlegen und diese dann aus Einzelmesswerten multivariat zusammenzufügen.
Dann hätten wir immer noch das Problem, daß es klemmen und hakeln würde, weil die Einzelteile nur mit ziemlichen Freiheitsgraden kontingent verknüft sind.
Ist da die Reiz-Reaktionsabfrage mit der Annahme von Triggern und Tipping-Points nicht ebenso erkenntnisversprechend?
Letztlich stammt das zugrunde liegende Modell mit Triebenergien ja von Freud...lag der so daneben?

Ipsissimus
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Mi 8. Dez 2010, 12:33 - Beitrag #6

als echtes Kompartiment ist der biologische Ansatz in den Sozialwissenschaften für mich schwer zu akzeptieren, Jan; als Ergänzung halte ich ihn für akzeptabel. Das Kompartiment ist für mich deswegen schwer zu akzeptieren, weil ich am Beispiel England sehe, wohin das führt, Spekulationen über kriminelle Gene nur als aktuell schlimmster Auswuchs genannt; aber insgesamt schmeckt mir der gesamte verhaltenstherapeutische Ansatz angelsächsischer Provenienz nicht sonderlich, weil er in meinen Augen auf Dressur hinausläuft, auf gewalttätiges Nachregulieren, nicht aber auf Einsicht, Verarbeitung und Transzendierung.

Ist da die Reiz-Reaktionsabfrage mit der Annahme von Triggern und Tipping-Points nicht ebenso erkenntnisversprechend?
der springende Punkt dabei: was machen wir mit den Triggern und Tipping-Points? Stromschlag zur Ausmerzung der neuronalen Verbindungen? Für mich klingt das nach dem guten alten Kadaver-Gehorsam in neuer Gestalt. Es wird gar nicht mehr gefragt, ob Wut berechtigt ist, ob Wut etwas Reinigendes haben kann, zu einer Katharsis führt und desgleichen; vielmehr: du wütig ? -> ich drücke Knopf. Das ist für mich ganz klar "dunkle" Psychologie und Soziologie und ich denke, dass in den angelsächsischen soft sciences diese Art der Vorhgehensweise und Grundauffassung deswegen so wichtig ist, weil die zugrundeliegenden Gesellschaftskonzepte wenige Probleme damit haben, Menschen zu brechen, solange die nur funktional bleiben und ihre Aufgaben erfüllen.

janw
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Mi 8. Dez 2010, 17:17 - Beitrag #7

Die Übertragung auf die Sozialwissenschaften sehe ich ähnlich bedenklich, aber Biologen sind nun mal intrinsisch interessiert, wie das funktioniert^^
Vielleicht wäre da wirklich eine Grenze des Erforschungserlaubten zu ziehen.

Wobei ich überlege...funktioniert? und wenn das wirklich so? Was steckt hinter den Tipping Points? Nur kollektive Kontingenzeinbrüche der beteiligten Parameter?

Ipsissimus
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Do 9. Dez 2010, 11:42 - Beitrag #8

das Interesse der Biologie am menschlichen Verhalten halte ich durchaus für legitim, Jan, ähnlich legitim wie das entsprechende Interesse seitens Neurologie oder Psychiatrie. Mich beschäftigt dabei nur wiederum das Form/Gestalt-Problem, das ich anhand des Beispiels des Fernsehelektronikers schon mehrfach erläuterte. Ein gut ausgebildeter Fernsehelektroniker weiß mehr oder weniger alles über seine Geräte. Trotzdem ist er aufgrund dieses Wissens nicht in der Lage, die Qualität der auf diesen Geräten empfangenen Programme zu bewerten, dazu bedarf es nicht nur anderen Wissens, das Wissen eines Fernsehmechanikers ist zu diesem Zweck sogar überflüssig (auch wenn es nichts schadet).

Es wäre aus meiner Perspektive also das Erkenntnisinteresse zu klären, und ich denke, ohne jemandem zu nahe zu treten lässt sich sagen, dass dieses verschieden ist, je nachdem, ob die Biologie, die Medizin, die Psychologie oder eine Sozialwissenschaft das Thema ins Visier nimmt. Und es wäre genauso dringlich zu klären, inwieweit bei solchen Themen wie "Wut", allgemeiner "Aggressivität", "Liebe", "Angst" und was es nicht noch alles gibt, eine ganzheitliche Perspektive überhaupt möglich ist. Ich sehe im Moment zumindest keinerlei Aspekt, den der evolutionäre Blick z.B. auf "Liebe" meiner "Kunst des Liebens" zufügen würde, der damit verbundene Erkenntnisgewinn bleibt abstrakt.

Noch anders formuliert, der Erkenntnisgewinn ist den Absichten verpflichtet. Und da muss ich leider sagen, dass bei mir alle Alarmglocken schrillen, wenn ich lese, dass Gefühle skalierbar gemacht werden sollen.

janw
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Do 9. Dez 2010, 19:39 - Beitrag #9

Da stimme ich Dir voll und ganz zu.

Aber sag mal, wie verhalten sich eigentlich die Theorien von Freud, und sagen wir mal Wilhelm Reich, mit diesen Befunden? Triebenergie=real? Wirbeltiergehirn eine neuromotorische "Maschine" mit Psyche als indiviuelle Betriebsanleitung?

Ipsissimus
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Fr 10. Dez 2010, 10:54 - Beitrag #10

ich halte Freud eigentlich eher für eine tragische Figur; dies deswegen, weil er gezwungen wurde, etwas zu entwickeln, von dem er selbst definitiv wusste, dass es falsch ist. Freud forschte in seinen jungen Jahren als noch unbekannter Mediziner über Kindesmissbrauch in der k.u.k.-Monarchie, oder vielmehr, er bekam es damit zu tun; und anders als damals üblich nahm er die Opfer ernst. Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchungen entwickelte er eine Theorie zur Trauma-Entstehung, beging aber dann den Fehler, die Theorie vor ihrer Veröffentlichung an Kollegen zu verschicken. Damit begann ein kurzes, knappes Martyrium, das in Drohungen gegen sein Leben mündete, worauf er die Theorie zurückzog und kurz darauf eine neue Theorie veröffentlichte, in der er nicht mehr erlittene sexuelle Gewalt im Kindesalter für die Entstehung von Traumas verantwortlich machte, sondern die außer Kontrolle geratenen triebhaften Wünsche und Phantasien des Kindes gegen seine Eltern als Ursprung psychischer und psychosomatischer Störungen darlegte - dem Kind also die "Schuld" für die Zustände des späteren Erwachsenen zuwies. Diese Theorie wurde dann zur Psychoanalyse ausgebaut. Alle seine - sagen wir es mild - in ihrer Einseitigkeit zu einseitigen Ideen zu Narzißmus, weiblicher Hysterie, Ödipuskomplex und Libido fußen auf dieser Ursachenumdeutung; es gibt Briefe des alten Freud, in denen er seine fehlende Standhaftigkeit selbst bedauerte. Ich denke, Freud ist in der praktischen Psychologie weitgehend erledigt, und selbst in der Psychoanalyse hat sich mehr als nur Unbehagen breit gemacht, die Analysen ausschließlich auf Freuds Theorien fußen zu lassen.

Reich, na ja, was soll man zu Reich sagen? Abgehobener Scheiß? Zumindest wenn man die esoterische Aufbereitung seiner Orgon-Theorie als Maßstab nimmt, liegt die Vermutung nahe. Reich war aber bei aller Fragwürdigkeit ein brillianter Sexualforscher, der die Libidotheorie Freuds zu einer echten Sexualtheorie weiterentwickelte, mit der er z.B. auch Neurosen theoretisch beschreiben konnte. Davon unabhängig formulierte er mit der Vegetotherapie eine Frühform späterer körperbetonter Psychotherapien, in der also Körper und Psyche als untrennbare Einheit aufgefasst und behandelt werden. Ich denke, das sind wirkliche Verdienste, die auch weit über Freud hinaus gehen, und auch durch seine "esoterischen Entgleisungen" (Orgontheorie) nicht geschmälert werden.

Die Beantwortung deiner Frage im engeren Sinne muss wahrscheinlich warten, bis wir belastbare Theorien über den Zusammenhang von Bewusstsein und seiner materiellen Grundlagen haben, bis wir also verstanden haben, wie ein Gehirn - oder der gesamte Körper? - Bewusstsein erzeugt (oder ist?). "Triebenergie" ist ein schönes Wort^^ Aber besagt es etwas? Oder liegen den "Energien" von Trieben nicht doch einfach nur hormonelle Anregungszustände zugrunde? Auch das ist ein Form/Gestalt-Problem, und der Verweis auf biochemische Zusammenhänge erübrigt genau so wenig wie bei Verhaltensfragen die Notwendigkeit, als Individuum eine innere Haltung den Phänomenen gegenüber zu entwickeln. Es sei denn, wir wollen zukünftig Glückspillen über unsere "Performance" entscheiden lassen^^

Traitor
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Mi 22. Dez 2010, 00:22 - Beitrag #11

@Jan:
Von daher besteht der methodische Gedanke, Kleinkinder als Modell zu verwenden, um die zahlreichen individuellen Filter bei erwachsenen Probanden auszuschließen.
Legitimer Ansatz, nur sind es mit Sicherheit keine reinen "Filter", sondern die Wahrnehmungskanäle, die Verarbeitungsmethoden und Reaktionspotentiale erweitern sich auch massiv. Insbesondere dürften derart simple, lineare Prozesse wie hier untersucht durch weit komplexere System ersetzt werden. Kinder lassen sich besser mechanistisch beschreiben als Erwachsene.

Daß der Aufbau nur einseitig funktioniert, mag ein Problem sein, allerdings gilt dies ja auch für andere wissenschaftliche Untersuchungsverfahren (je mehr Licht auf Grünalgen scheint, umso mehr Sauerstoff produzieren sie. Kann man Dunkelheit auf sie scheinen lassen?).
Unpassender Vergleich in der Klammer - Dunkelheitsschein ist trivial, simples Nichtlicht, ebenso trivial wäre simples Nichtarmdrücken mit recht wahrscheinlichem Nichtwutresultat. Die Nachfrage nach Gegenrichtungen bezog sich auf die Kette struggling-->vocalizing-->facial, die mir als recht willkürlich angeordnet erscheint.

Zumindest das Beispiel der Guttman-Skala, so es denn kanonisch ist, erscheint mir als typische Selbstwiderlegung pseudoquantitativer Modelle, hier ist keine klare Hierarchie erkennbar. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass jemand kein persönliches Problem mit dem netten Moslem im Nachbarhaus hat, aber in der NPD gegen Überfremdung des Landes wettert. Aber gut, ich sehe gerade, Wikipedia sieht genau denselben Einwand gegen das Beispiel voraus und gibt zu:
Eine Guttman-Skala, bei der dies immer auftritt, nennt man perfekt. Solch eine Skala zu erzeugen ist oft schwer und nur mit wenigen Aussagen, die bewertet werden müssen, möglich.

Was man jetzt daraus gewinnt, die Anwendbarkeit der Skala mit einer Metaskala zu beurteilen, anstatt das Problem direkt als kontinuierlich zu akzeptieren, ist mir dabei nicht klar.

Die Übertragung auf die Sozialwissenschaften sehe ich ähnlich bedenklich, aber Biologen sind nun mal intrinsisch interessiert, wie das funktioniert^^ Vielleicht wäre da wirklich eine Grenze des Erforschungserlaubten zu ziehen.
Aber hoffentlich nicht schon bei derart harmlosen, wenig illuminierenden Spielereien.

@Ipsi:
Diese grundlegende Methode der Naturwissenschaften - Modellbildung - ist im Rahmen der europäischen Geisteswissenschaften mit einem dicken Fragezeichen versehen;
Sind sich nicht "die Angelsachsen" einfach nur bewusster, dass sie Modelle bilden? Und versuchen, vielfältige davon gegeneinander abzuwägen? Meines Erachtens scheitern sie damit meistens aufgrund mangelnder Datenmenge oder methodischer Reife, aber der Ansatz ist löblich. "Die klassische europäische Geisteswissenschaft" dagegen ist sich doch viel zu oft einfach nur nicht bewusst, dass sie unreflektiert ein a-priori-Modell verwendet.

der springende Punkt dabei: was machen wir mit den Triggern und Tipping-Points? Stromschlag zur Ausmerzung der neuronalen Verbindungen? Für mich klingt das nach dem guten alten Kadaver-Gehorsam in neuer Gestalt. Es wird gar nicht mehr gefragt, ob Wut berechtigt ist, ob Wut etwas Reinigendes haben kann, zu einer Katharsis führt und desgleichen; vielmehr: du wütig ? -> ich drücke Knopf. Das ist für mich ganz klar "dunkle" Psychologie und Soziologie und ich denke, dass in den angelsächsischen soft sciences diese Art der Vorhgehensweise und Grundauffassung deswegen so wichtig ist, weil die zugrundeliegenden Gesellschaftskonzepte wenige Probleme damit haben, Menschen zu brechen, solange die nur funktional bleiben und ihre Aufgaben erfüllen.
In dieser Studie und vielen vergleihbaren sehe ich keine Intention, einen Knopf gegen etwas zu suchen. Viel eher suchen sie den Knopf für etwas. Und wenn es im konkreten Fall eine Motivation gibt, dann am ehesten die, zu wissen, wie man es vermeidet, den Knopf unnötigerweise zu drücken. Ja, dich scheint schon das Konzept eines Knopfes an sich zu stören. Aber es gibt viele Mechanismen der menschlichen Psyche, die wir aus tradiertem und Alltagswissen heraus nicht verstehen oder auch nur bemerken, und diese zu erforschen, kann dabei helfen, den Menschen besser zu behandeln (im Sinne von "interagieren", nicht von "therapieren"). Wenn soziologische oder neurologische Studien einen Mechanismus für Leid finden, der Handelnden wie Betroffenen selbst unbewusst bleibt, dann kann das natürlich für "dunkle" Zwecke genutzt werden, aber ebenso auch für gute, um unnötige Traumatisierungen, Abschreckungen oder Verführungen zu vermeiden.

Ich sehe im Moment zumindest keinerlei Aspekt, den der evolutionäre Blick z.B. auf "Liebe" meiner "Kunst des Liebens" zufügen würde, der damit verbundene Erkenntnisgewinn bleibt abstrakt.
Es gibt beispielsweise zahlreiche Studien der Art "80% der Frauen stört es, wenn ihr Mann..." Die meisten sind trivial und/oder falsch. Aber jene, die mindestens eines davon nicht sind, können das Bewusstsein für Verhaltensweisen, die man unbewusst oder ohne Kenntnis der negativen Konnotationen betreibt und lieber abstellen sollte, schärfen und so sicher nicht monokausal eine Beziehung retten, aber vielleicht doch manch Missverständnis und unnötiges Ärgernis zurückzudrängen helfen.

Ipsissimus
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Mi 22. Dez 2010, 14:39 - Beitrag #12

na ja, Traitor, heute, da jede Statistik so tut, als sei sie bereits eine Erkenntnis oder gar ein Zusammenhang, mag deine Position in der Tat einem wissenschaftlichen Grundparadigma entsprechen - mir ist das suspekt. Solange sich modellbildende Wissenschaftler darüber im klaren sind, dass ihre anhand von Modellen gewonnenen Aussagen Aussagen über Modelle sind und nicht über die Wirklichkeit, mag die Vorgehensweise noch vertretbar sein. Aus meiner Perspektive führt die Reduktion der Komplexität, die mit dieser Methode einhergeht, zumindest im Rahmen der Geisteswissenschaften aber in die Irre; die hermeneutische Methode mag ihre Probleme haben, aber sie stellt sich wenigstens der Komplexität und tut nicht so, als sein schon etwas verstanden, nur weil ein Modell entwickelt wurde.

Ich denke allerdings auch, dass ich mit dieser Auffassung zu den Dinosauriern gehöre^^

Aber hoffentlich nicht schon bei derart harmlosen, wenig illuminierenden Spielereien.
der springende Punkt ist die fließende Grenze. Es ist wie beim "groß sein" - du bist nicht plötzlich groß, aber aus der Retrospektive zeigt sich, dass du es ja schon eine ganze Weile bist. Da diese Grenze zur Gefährlichkeit kaum einmal a priori angegeben werden kann, neige ich dazu, Wissenschaftlern, die mit dieser Grenze spielen, eher früher als später auf die Finger hauen zu wollen. Aber da das nur Außenseitermeinung ist, besteht auch an dieser Stelle keine Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft, alles beschaffen zu dürfen, was für die Selbstzerstörung der Spezies benötigt wird. Oder dafür, sich das Leben zur Hölle zu machen. Oder für irgendeine der anderen Methoden zur Optimierung des kommerziellen Erfolgs^^

und diese zu erforschen, kann dabei helfen, den Menschen besser zu behandeln
oh ja, das befürchte ich auch^^ ich weiß übrigens, dass du das Prinzip "mit Speck fängt man Mäuse" durchaus verstehst^^

Aber jene, die mindestens eines davon nicht sind, können das Bewusstsein für Verhaltensweisen, die man unbewusst oder ohne Kenntnis der negativen Konnotationen betreibt und lieber abstellen sollte, schärfen und so sicher nicht monokausal eine Beziehung retten, aber vielleicht doch manch Missverständnis und unnötiges Ärgernis zurückzudrängen helfen.
und du meinst wirklich, dazu ist es notwendig, etwas über die evolutionären Grundlagen von Liebe zu wissen statt über Rücksichtnahmen, EInfühlungsvermögen, Zärtlichkeit und desgleichen?

Traitor
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Do 23. Dez 2010, 16:07 - Beitrag #13

heute, da jede Statistik so tut, als sei sie bereits eine Erkenntnis oder gar ein Zusammenhang
Die Unfähigkeit zahlreicher "Wissenschaftler", Statistiken korrekt zu erstellen oder gar korrekt zu interpretieren, sagt nichts über die prinzipielle Anwendbarkeit der Methode aus.

Solange sich modellbildende Wissenschaftler darüber im klaren sind, dass ihre anhand von Modellen gewonnenen Aussagen Aussagen über Modelle sind und nicht über die Wirklichkeit, mag die Vorgehensweise noch vertretbar sein.
Du scheinst nicht zu trennen zwischen konkreten Modellen und der wissenschaftlichen Methode an sich. Sauber gemachte modellbildende und -überprüfende Analysen machen Aussagen nicht nur über das konkrete Modell, sondern über eine optimale modellhafte Beschreibarkeit der zugrundeliegenden Daten. Und damit über die Wirklichkeit, sofern du nicht weiter gehst und die Trennung von Wirklichkeit und Daten anzweifelst. Dann ist es mir aber völlig schleierhaft, warum zwar abstraktes, aber auch subjektives, reines Nachdenken einen wahrhaftigeren Zugang zur Wirklichkeit haben soll als wissenschaftliche Datenerfassung.
die hermeneutische Methode mag ihre Probleme haben, aber sie stellt sich wenigstens der Komplexität und tut nicht so, als sein schon etwas verstanden, nur weil ein Modell entwickelt wurde.
Das sehe ich genau umgekehrt. Für mich stellt sich die klassische Geisteswissenschaft eben nicht der Komplexität der Wirklichkeit, sondern glaubt, dass natürliche Sprache und gebildetes, aber nicht unbedingt strenges Nachdenken angemessene Methoden ihrer Beschreibung sind. Sie weigert sich, den Schritt zu machen, den die Naturwissenschaften längst gemacht haben und manche Geisteswissenschaftler zu machen versuchen: einzugestehen, dass normale menschliche Denkstrukturen der Komplexität der Welt nicht gewachsen sind und man Methoden braucht, die auf sachliche Art die normalen Denkmuster überwindet.
Die Physik und Mathematik haben Erkenntnisse geliefert, die jedem normalen Denken widersprechen, aber allgemein als wahr anerkannt werden. Auch die Verhaltenswissenschaften haben inzwischen einige Resultate geliefert, die man einfach nicht glauben will oder kann. Nur ist hier die Datenlage noch nicht sicher genug, um sie wirklich akzeptieren zu müssen. Aber klassisches Nachdenken aus etablierten Mustern heraus hätte solche Resultate nie liefern können. Es braucht Empirie, um den Wissenschaftler davon zu überzeugen, dass er falsch liegen könnte.
Also als Paraphrase zu "als sein schon etwas verstanden, nur weil ein Modell entwickelt wurde": "als sei schon etwas verstanden, nur weil man darüber geredet hat".

Da diese Grenze zur Gefährlichkeit kaum einmal a priori angegeben werden kann, neige ich dazu, Wissenschaftlern, die mit dieser Grenze spielen, eher früher als später auf die Finger hauen zu wollen.
Früher, meinetwegen, aber doch nicht bei Null. Jedwede Forschung untersagen, die den Menschen zum Thema hat?

oh ja, das befürchte ich auch^^ ich weiß übrigens, dass du das Prinzip "mit Speck fängt man Mäuse" durchaus verstehst^^
Aber ich fürchte immer wieder, dass du das Prinzip "auch wenn es einen Nachteil oder ein Risiko gibt, kann es von überwältigenden Vorteilen überwogen werden" wahlweise nicht verstehst, nicht verstehen willst, oder aber verstehst, aber aus Gründen des Fundamentalpessimismus lieber ignorierst. (Höchstwahrscheinlich letzteres ;) )

und du meinst wirklich, dazu ist es notwendig, etwas über die evolutionären Grundlagen von Liebe zu wissen statt über Rücksichtnahmen, EInfühlungsvermögen, Zärtlichkeit und desgleichen?
Notwendig ist es sicher nicht. Aber da kein mir bekannter Mensch zu Perfektion in Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Zärtlichkeit und dergleichen fähig ist, die meisten sogar verdammt schlecht darin sind, kann uns nur jede Hilfe recht sein.

Ipsissimus
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Mo 3. Jan 2011, 16:23 - Beitrag #14

Die Unfähigkeit zahlreicher "Wissenschaftler", Statistiken korrekt zu erstellen oder gar korrekt zu interpretieren, sagt nichts über die prinzipielle Anwendbarkeit der Methode aus.
das ist richtig^^ es sagt jedoch sehr wohl etwas über praktische Grenzen der Methode aus. Da ich allerdings gar nicht auf individuelle Befähigungsgrenzen einzelner Wissenschaftler rekuriere sondern auf ein methodenimmanentes Problem, bleibt auch an dieser Stelle wohl nur die Feststellung unterschiedlicher Sichtweisen.

... sofern du nicht weiter gehst und die Trennung von Wirklichkeit und Daten anzweifelst.
das heißt, deiner Ansicht nach sind die Objekte der Wirklichkeit und die Daten über diese Objekte ein und dasselbe? Das halte ich für kritisch, schließlich ist ein Photonstrom, der mir optische Daten über einen Tisch liefert, nicht dieser Tisch. Kannst du etwas näher erklären, was du unter der "Trennung von Wirklichkeit und Daten" verstehst und warum die für dich so zweifelhaft ist? Die anderen Fragen aus diesem Absatz kann ich erst beantworten, wenn ich verstanden habe, was du unter dieser Trennung respektive ihrer Nichtgegebenheit verstehst.

Für mich stellt sich die klassische Geisteswissenschaft eben nicht der Komplexität der Wirklichkeit, sondern glaubt, dass natürliche Sprache und gebildetes, aber nicht unbedingt strenges Nachdenken angemessene Methoden ihrer Beschreibung sind. Sie weigert sich, den Schritt zu machen, den die Naturwissenschaften längst gemacht haben und manche Geisteswissenschaftler zu machen versuchen: einzugestehen, dass normale menschliche Denkstrukturen der Komplexität der Welt nicht gewachsen sind und man Methoden braucht, die auf sachliche Art die normalen Denkmuster überwindet.
an dieser Stelle verbirgt sich wohl der Kern des Konflikts. Aus meiner Sicht liefern Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften echte Erkenntnis-Kompartimente. Die jeweiligen Erkenntnisinteressen sind natürlich verschieden, und soweit ist diese Feststellung trivial. Allerdings ist es ohne weiteres möglich, dass sich einschlägiges Erkenntnisinteresse auf das Terrain des jeweils anderen Wisenschaften-Reservoirs richtet. Und damit wäre zu fragen, warum es zwar für legitim gilt, wenn sich Naturwissenschaftler mit ihren Methoden Problemen der Geisteswissenschaften widmen, umgekehrt aber die naturwissenschaftlichen Betätigungsfelder von dem ganzen geisteswissenschaftlichen Quatsch hübsch freigehalten werden sollen.

Ich halte es für ausgesprochen schade, dass die moderne Philosophie ihren ursprünglichen Anspruch der Welterklärung an die Naturwissenschaften abgegeben hat und diesen nur noch von ferne hinterher hechelt. Dass die Ergebnisse philosophischen Nachdenkens nicht identisch sein können mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Experimente ist eine Selbstverständlichkeit. Nur warum aus der Andersartigkeit der philosophischen Methode eine Zweitrangigkeit ihrer Ergebnisse resultieren soll, entzieht sich meinem Verständnis. Wenn zum Beispiel in der Philosophie vier verschiedenen Arten von Kausalität bekannt sind, trifft die naturwissenschaftliche Verfügung, drei davon seien Schwachsinn und nur die Wirkkausalität sei relevant, unter völliger Verkennung des Kontextes noch nicht mal von weitem ihr Ziel. Trotzdem hat diese Verfügung erhebliche Konsequenzen am Rande eines Denkverbots für die Philosophie mit sich gebracht. Selbstverständlich: die Philosophie wird die Welt nicht physikalisch erklären. Na und? "Nicht physikalisch" heißt nicht "belanglos".

Die Physik und Mathematik haben Erkenntnisse geliefert, die jedem normalen Denken widersprechen, aber allgemein als wahr anerkannt werden.
mag sein, aber das hat die Philosophie schon vor 2½ Jahrtausenden. Es ist sogar ihr ureigenstes Thema, normales Denken zu hinterfragen. Und, na ja, ob es ein Wahrheitskriterium ist, dass etwas allgemein für wahr anerkannt wird, darf im strengen Sinne auch bezweifelt werden

... dass du das Prinzip "auch wenn es einen Nachteil oder ein Risiko gibt, kann es von überwältigenden Vorteilen überwogen werden" wahlweise nicht verstehst, nicht verstehen willst, oder aber verstehst, aber aus Gründen des Fundamentalpessimismus lieber ignorierst. (Höchstwahrscheinlich letzteres )
weder das eine noch das andere^^ ein Wichtungs-Problem, denn was da überwiegt, was da überwogen wird und ob die Kriterien zur Feststellung des einen oder des anderen sachlich valide sind, wäre das eigentliche Problem. Es ist nicht gerade so, als wären Naturwissenschaftler berühmt dafür, sich um Nebeneffekte einen Kopf zu machen, ehe es zu spät ist

Aber da kein mir bekannter Mensch zu Perfektion in Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Zärtlichkeit und dergleichen fähig ist, die meisten sogar verdammt schlecht darin sind, kann uns nur jede Hilfe recht sein.
ich stelle mir gerade vor, was mein Schätzle davon halten würde, wenn ich nachdenke, ob evolutionär gerade Zärtlichkeit angebracht ist oder doch eher das Mitschleifen an den Haaren^^

Traitor
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Fr 7. Jan 2011, 23:44 - Beitrag #15

das ist richtig^^ es sagt jedoch sehr wohl etwas über praktische Grenzen der Methode aus. Da ich allerdings gar nicht auf individuelle Befähigungsgrenzen einzelner Wissenschaftler rekuriere sondern auf ein methodenimmanentes Problem, bleibt auch an dieser Stelle wohl nur die Feststellung unterschiedlicher Sichtweisen.
Ja, wenn derart viele Leute ihre Methode nicht richtig hinkriegen, kann man leicht zum Schluss kommen, dass es ein Problem der Methode, nicht nur der Leute ist. Ich habe aber die Hoffnung, dass es etwas dazwischen ist, nur ein Problem der Ausbildung, der externen Ergebniszwänge und der mangelnden Erfahrung der Disziplinen.

das heißt, deiner Ansicht nach sind die Objekte der Wirklichkeit und die Daten über diese Objekte ein und dasselbe? Das halte ich für kritisch, schließlich ist ein Photonstrom, der mir optische Daten über einen Tisch liefert, nicht dieser Tisch. Kannst du etwas näher erklären, was du unter der "Trennung von Wirklichkeit und Daten" verstehst und warum die für dich so zweifelhaft ist? Die anderen Fragen aus diesem Absatz kann ich erst beantworten, wenn ich verstanden habe, was du unter dieser Trennung respektive ihrer Nichtgegebenheit verstehst.
Trennung von Wirklichkeit und Daten hieße für mich, dass es wesentliche Aspekte der Wirklichkeit gibt, die sich mit unseren objektiven Datenerfassungsmethoden nicht erfassen lassen, also über sie hinaus gehen oder von ihnen verfälscht werden. Das könnte ich mir sogar halbwegs vorstellen, wenn unsere Weltbeschreibung nicht bisher so verdammt erfolgreich wäre. Der nächste Satz, "Dann ist es mir aber völlig schleierhaft, warum zwar abstraktes, aber auch subjektives, reines Nachdenken einen wahrhaftigeren Zugang zur Wirklichkeit haben soll als wissenschaftliche Datenerfassung.", soll dann heißen: Der Geisteswissenschaft einen direkteren Zugang zur Wirklichkeit zuzugestehen als den Naturwissenschaften, erfordert meines Erachtens eine noch deutlich mutigere Annahme, nämlich einen von naturwissenschaftlichen Datenerfassungen unabhängigen Informationsübertragungsweg zwischen Wirklichkeit und Hirn.
Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass die Naturwissenschaftliche Methode nicht die gesamte Wirklichkeit erfassen kann. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir keine andere Methode haben, die mehr erfassen kann. Wenn es ein Mehr gibt, dann sind wir armselige Wesen blind dafür.

Und damit wäre zu fragen, warum es zwar für legitim gilt, wenn sich Naturwissenschaftler mit ihren Methoden Problemen der Geisteswissenschaften widmen, umgekehrt aber die naturwissenschaftlichen Betätigungsfelder von dem ganzen geisteswissenschaftlichen Quatsch hübsch freigehalten werden sollen.
Weil die Geisteswissenschaften das schon vielfach versucht haben, aber trotz respektabler Teilresultate daran gescheitert sind. Ich bin Wissenschaftsdarwinist. Die Naturwissenschaften haben sich aus den Geisteswissenschaften (bzw. der Geisteswissenschaft, damals war ja alles Philosophie) in den Gebieten entwickelt bzw. abgespalten, wo jene nicht mehr weiterkamen. Anfangs beschränkte sich das auf Mathematik und Physik, dann kamen Medizin, Chemie und Biologie dazu, und jetzt sind eben Sozialwissenschaften und Kognitivitätslehre dran.

Aber natürlich sollen Geisteswissenschaftler nicht aus diesen Bereichen verdrängt werden. Nehmen sie die Herausforderung an, haben sie immer noch mindestens genausoviel beizutragen. Hier möchte ich auf zwei eigentlich logisch getrennte, aber anscheinend personell korellierte Frontverläufe hinweisen: Empirismus gegen reines Sinnieren einerseits, formale Strenge gegen Ungenauigkeit andererseits. Im Bereich von Sozial- und Kognitivitätswissenschaften sehe ich die Frage als völlig unentschieden an, ob Empirismus oder Sinnieren mehr zu sagen hat. Beide haben ihre Beiträge zu liefern. Aber warum kann letzteres sich nicht genauso um Strenge bemühen?

Nur warum aus der Andersartigkeit der philosophischen Methode eine Zweitrangigkeit ihrer Ergebnisse resultieren soll, entzieht sich meinem Verständnis
Eine Zweitrangigkeit der Ergebnisse resultiert nicht aus der Andersartigkeit der Methode, sondern aus der Qualität der Methode und der Ergebnisse. Solange kein Philosoph in der Lage ist, eine halbwegs eindeutige und zwingende Argumentationskette zu einem nicht trivialen Problem zu veröffentlichen, solange sind alle philosophischen Ergebnisse letztlich beliebig und deshalb zweitrangig. Und vielleicht ist es ja doch ein methodenimmanentes Problem, wenn es so viele Individuen nicht hinkriegen? ;)
(OT: Sind die vier Kausalitäten nicht ziemlich einfach reduktionistisch zu erledigen? Wenn nein, wäre das ein interessanter Thread.)

Selbstverständlich: die Philosophie wird die Welt nicht physikalisch erklären. Na und? "Nicht physikalisch" heißt nicht "belanglos".
Hängt davon ab, wie du "physikalisch" definierst. Wenn als "effizient reduktionistisch mit einfachen Gesetzen beschreibbar", dann klar. Wenn als "alles, was einen Einfluss auf die Realität hat", dann kann die Philosophie lediglich vereinfachende und damit hilfreiche Erklärungen für reduktionistisch unüberschaubare physikalische Vorgänge liefern.

Die Physik und Mathematik haben Erkenntnisse geliefert, die jedem normalen Denken widersprechen, aber allgemein als wahr anerkannt werden.

mag sein, aber das hat die Philosophie schon vor 2½ Jahrtausenden. Es ist sogar ihr ureigenstes Thema, normales Denken zu hinterfragen. Und, na ja, ob es ein Wahrheitskriterium ist, dass etwas allgemein für wahr anerkannt wird, darf im strengen Sinne auch bezweifelt werden
Ich möchte provokant behaupten, dass die Philosophie die einfachen über normales Denken hinausgehenden Erkenntnisse geliefert hat. Jene, für deren Aufdeckung es reicht, schärfer und gründlicher nachzudenken als gewöhnlich. Aber eben nicht jene, für die es notwendig ist, allzu tief verwurzelte Elemente des Denkens zu überwinden. Diese Erkenntnisse angemessen zu interpretieren, das kann die Philosophie dann wieder leisten. Aber es braucht strenge Empirik und Logik, um die Bruchstellen aufzuzeigen.

Es ist nicht gerade so, als wären Naturwissenschaftler berühmt dafür, sich um Nebeneffekte einen Kopf zu machen, ehe es zu spät ist
Das muss ich durchaus zugestehen. ;) Aber wenn man so sehr bei "wehret den Anfängen" ist, kann man ja vielleicht den gleichen Vorwurf auch Geisteswissenschaftlern machen - könnte nicht Nietzsche genausoviel Schuld am Holocaust und Hegel genausoviel an Stalins Massakern treffen wie Curie und Einstein an Hiroshima? ;)

ich stelle mir gerade vor, was mein Schätzle davon halten würde, wenn ich nachdenke, ob evolutionär gerade Zärtlichkeit angebracht ist oder doch eher das Mitschleifen an den Haaren^^
Man darf es halt nicht zugeben. :D

Padreic
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So 9. Jan 2011, 17:27 - Beitrag #16

Ein zentraler Punkt, an den die naturwissenschaftliche Methode nicht direkt herankommen kann, ist unser eigenes Bewusstsein - dieses ist uns hingegen direkt zugänglich durch Introspektive. Da eine solche Introspektive nichts "Objektives" und Überprüfbares geben kann, steht sie außerhalb der naturwissenschaftlichen Methode - ist in der Geisteswissenschaft jedoch zentral.

Die Naturwissenschaft wird aus zwangsläufigen Gründen die Philosophie nie ersetzen können. In der Soziologie oder allgemeiner in der Theorie des menschlichen Verhaltens ist es zumindest denkbar (wenn ich auch nicht weiß, ob wahrscheinlich), dass die naturwissenschaftliche Methode irgendwann allgemeine und gut anwendbare Ergebnisse liefert, die auch zutreffen - es geht schließlich um etwas Beobachtbares. In bestimmten Situationen, wie z. B. Massenverhalten von Fußgängern etc., kann sie sicherlich mehr beitragen als eine bloß geisteswissenschaftliche Methodik, da sie quantitativ verwertbare Maßstäbe liefern kann. In vielen anderen Bereichen ist sie noch überfordert.

Bei Statistiken treffen prinzipielle Beschränkungen der Methode mit Anwendungsfehlern zusammen. Es sind sicherlich Anwendungsfehler, wenn im großen Stil überzogene Schlüsse daraus gezogen werden. Aber vielleicht sind vielleicht auch so ziemlich alle Schlüsse in vielen Fällen unangebracht. Menschen lügen beispielsweise auf verschiedenste Weise bei Umfragen (oft nichtmal bewusst). Ohne geisteswissenschaftliche Methodiken wäre es kaum möglich, diesen Falschaussagen auf die Spur zu kommen. [wir wissen so schon relativ viel aus unserer alltäglichen Erfahrung und Introspektive über den Menschen und der geklärte geisteswissenschaftliche Blick noch mehr]

Ein Beitrag, den die Geisteswissenschaft sicherlich zu den Naturwissenschaften leisten konnte und kann, ist die Wissenschaftstheorie/Wissenschaftsphilosophie. Dass diese (teils intuitiv) auch oft von Naturwissenschaftlern betrieben wird, ändert natürlich nichts daran, dass es keine Naturwissenschaft. Und dass eine gute Wissenschaftstheorie unter Umständen helfen kann, Sackgassen zu umgehen und auf dem richtigen Weg zu bleiben, wird sicherlich selbst Traitor nicht anders sehen.

Einfache und zwingende Argumentationsketten gibt es sicherlich in der Philosophie - sie beruhen meist aber auf nicht akzeptablen oder zumindest fragwürdigen Voraussetzungen oder ihre Endaussage ist schwächer als sie auf Anhieb scheint. Ein Beispiel ist Gödels Gottesbeweis. Es ist philosophische Grundmethodik, dass man jede Voraussetzung wieder überdenkt. Es ist klar, dass man ohne gemeinsame Voraussetzungen keine zwingenden Beweise darbringen kann. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es in der Philosophie Fortschritt gibt und dass sie uns einiges über den Menschen gelehrt hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob es in der Philosophie genauso große Umschwünge des Denkens und unintuitive Aussagen wie in der Physik mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik gibt. Aber es gibt schon Anwärter. Nicht umsonst schreibt Kant, dass man seinen gesunden Menschenverstand bei den Sachen lassen sollte, für die er gemacht wurde, und ihn nicht als Philosophen einsetzen sollte. Gewissermaßen ist Kant auch viel radikaler als Relativitätstheorie und Quantenmechanik zusammen - man kann sie durchaus als Bestätigung für ihn deuten.
Übrigens muss ich auch anmerken, dass man es durchaus so sehen kann, dass die Physik nur sagt, dass Relativitätstheorie und Quantenmechanik Rechenmodelle sind, die sich mit unseren Beobachtungen vertragen, und es Sache der Naturphilosophie ist, darauf aufbauend zu behaupten, wie sich die Wirklichkeit tatsächlich verhält.

Was meines Erachtens auch eine interessante Fragestellung ist, ist folgendes: Welcher Art sind die Aussagen der Geisteswissenschaft und worauf beziehen sie sich, wenn sie sich nicht auf Beobachtbares beziehen? Beispiel: Die Aussage des Stückes XYZ ist ABC. Sollte man das rein reduktionistisch sehen?

Traitor
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So 9. Jan 2011, 21:34 - Beitrag #17

Erstmal ein Nachtrag, bevor man mich dafür zerreißt:
Zitat von Traitor:(OT: Sind die vier Kausalitäten nicht ziemlich einfach reduktionistisch zu erledigen? Wenn nein, wäre das ein interessanter Thread.)
"Erledigt" war eine miese Formulierung, klingt sehr nach Ipsis "Schwachsinn". Was ich meine, ist eine Rückführung von 4 auf 1, im Sinne davon, dass kompliziertere 1er-Kombinationen alle Aussagen, die mit 4 gemacht werden, auch erklären können, ohne damit die Konsistenz und Hinreichendheit, in manchen Fällen vielleicht auch größere Einfachheit, der 4 anzuzweifeln.

Zurück zum Thema (wenn auch nicht dem ganz eigentlichen, vielleicht wäre es Zeit für einen neuen GW-NW-Thread), und zu Padreic:

Direkt lässt sich sicher schwer naturwissenschaftlich auf das Bewusstsein zugreifen, indirekt aber schon, denn man kann es ja modellieren, statistisch Befragungen dazu auswerten (dazu gelten natürlich deine methodologischen Einwände), usw. Und dann muss man eben Indirektheitsverluste der naturwissenschaftlichen Psychologen gegen Subjektivitätsverluste der Philosophen abgleichen.

Die Philosophie kann nicht vernaturwissenschaftlicht werden, zumindest in der heutigen eingeschränkten Version quasi per definitionem. Schon allein aus dem Grund, den du später nannst und ich ja auch schon anführte - die Naturwissenschaft muss stets manche über ihre Methodik hinausreichende Interpretationsaufgaben delegieren.

Die bewussten und unbewussten Lügen in Befragungen sind schon mit einfachen Mitteln recht weit zurückdrängbar. Ein gewisser Restanteil wird immer bleiben. Aber auch Astronomie und Teilchenphysik arbeiten mit nicht beseitigbaren systematischen Restfehlern und kommen trotzdem zu guten Ergebnissen. Wo liegt das fundamentale Problem? Gesunder Menschenverstand und geisteswissenschaftliche Methoden sind aber sicher äußerst hilfreich, um diese Fehler zu bekämpfen. Und ebenso unverzichtbar, um die überhaupt spannenden und empirisch behandelbaren Fragen zu finden.

Wissenschaftstheorie ist ein guter Punkt, der meines Erachtens aber auch beidseitig zeigt, wie gut sich die beiden Disziplinen gegenseitig tun können. Durch den naturwissenschaftlichen Einfluss erscheint mir die Wissenschaftstheorie nämlich teils merklich rigider und zielorientierter als andere Bereiche der Philosophie. (Wobei ich bei all diesen Beurteilungen zugeben muss, moderne Philosophie nicht sehr intensiv und nur aus Sekundärquellen zu kennen und somit sicher einige Entwicklungen verkenne.)

Fragwürdige Voraussetzungen sehe ich nichtmal als größtes Problem, wenn auch natürlich als kritisch für "praktische Anwendungen". Aber selbst große Philosophen neigen ja oft zu erschreckend schwachen Schlüssen, lassen Alternativen einfach undiskutiert unter den Tisch fallen, etc. (Kann natürlich wiederum gut sein, dass moderne Fachpublikationen da anders aussehen als alte Bücher und moderne Populärpublikationen.) "Kein Philosoph" ist da sicher auch keine sonderlich gut abgesicherte Allausage meinerseits. ]Übrigens muss ich auch anmerken, dass man es durchaus so sehen kann, dass die Physik nur sagt, dass Relativitätstheorie und Quantenmechanik Rechenmodelle sind, die sich mit unseren Beobachtungen vertragen, und es Sache der Naturphilosophie ist, darauf aufbauend zu behaupten, wie sich die Wirklichkeit tatsächlich verhält. [/QUOTE]Das meinte ich gerade damit, dass die Naturwissenschaften neue Phänomene finden, und die Philosophie sich dann damit beschäftigen kann, diese zu interpretieren. Dabei muss sie dann teils ganz neue Konzepte finden, was auch eine große Leistung ist, vielleicht teils sogar die schwierigere, aber den entscheidenden Intuitionsbruch hat die Naturwissenschaft geleistet.

Welcher Art sind die Aussagen der Geisteswissenschaft und worauf beziehen sie sich, wenn sie sich nicht auf Beobachtbares beziehen? Beispiel: Die Aussage des Stückes XYZ ist ABC. Sollte man das rein reduktionistisch sehen?
Allein dadurch, dass jemand das Problem behandelt, ist für mich schonmal klar, dass es beobachtbar war. ;) Meinst du beobachtbar im Sinne von instrumentell messbar?
Die "Aussage eines Stückes" könnte man natürlich reduktionistisch auf die elektromagnetisch vermittelte Kausalkette zwischen Autorenhirn und Rezipientenhirn zurückzuführen versuchen. Man kann es aber auch lassen. Und sich damit begnügen, die prinzipielle Rückführbarkeit einzelner Elemente zu untersuchen, um die Stabilität des Gesamttheoriegebäudes zu zeigen. Das Gesamtproblem ist aber sicher auf der obersten Abstraktionsebene, der Kunstwissenschaft, am effizientesten zu behandeln.

Ipsissimus
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Mo 10. Jan 2011, 11:20 - Beitrag #18

Trennung von Wirklichkeit und Daten hieße für mich, dass es wesentliche Aspekte der Wirklichkeit gibt, die sich mit unseren objektiven Datenerfassungsmethoden nicht erfassen lassen, also über sie hinaus gehen oder von ihnen verfälscht werden.
das ist immer der Fall bei "gestalthaften" Problemstellungen. Du magst z.B. als Biologe davon überzeugt sein, alles wesentliche über Liebe zu wissen, wenn du sie evolutionär herleiten und einzelne Phasen auf biologische Nützlichkeiten zurückführen kannst sowie über profundes Wissen bezüglich ihrer organischen Implementierung verfügst. Ich bezweifele aber, dass es selbst einem Biologen als Mensch genügen würde, wenn damit sein Wissen über Liebe bereits erschöpft wäre. Geschweige, dass er aufgrund dieses Wissens als "Meister der Liebe" gelten dürfte. Ich bezweifele nicht, dass es ein einschlägiges Interesse gibt, derartige gestalthafte Problemkomplexe mit Messtechnik zu erschlagen. Das wären sie dann aber auch, erschlagen.

Wenn es mir ein Anliegen wäre, den oben zitierten Satz zu retten, würde ich bestenfalls erwägen, ob Naturwissenschaften für die Erfassung trivialer Wirklichkeit - Wirklichkeit, die sich nicht wehrt, weil sie keine Gestalthaftigkeit zu verteidigen hat, also Physik und Chemie - besser geeignet sind. Und selbst da bedürfen sie des Korrektives. Aber ob sie etwas und gegebenenfalls was Naturwissenschaft im Bereich menschlicher Lebenswirklichkeit zu suchen hat, bleibt mir trotz deiner und vieler anderer Verfügungen aus naturwissenschftlicher Seite suspekt. Als Unterstützungswissenschaften vielleicht, aber mit Alleinerklärungsanspuch? Beware.

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Sa 15. Jan 2011, 14:47 - Beitrag #19

Ich rede von der Datenerfassung, nicht von der Datenanalyse. Ich wüsste nicht, welche Daten über die Welt dem menschlichen Gehirn zugänglich sind, die Kamera, Mikrophon, chemische Sensoren usw. nicht auch messen können. Zumindest, wenn es eben keine "übernatürlichen" Wahrnehmungswege gibt. Es kann diese Daten nur auf andere Art und teilweise deutlich besser weiterverarbeiten, als es bei derzeitigem Stand der Analyse auf Papier oder Bildschirm vorliegender Daten der Fall ist. Vielleicht auch nicht nur bei derzeitigem Stand, sondern auf ewig. Aber es erfasst eben nichts, was sich nicht auch anders erfassen ließe.

Erschlagen werden sollte in vernünftigem Wissenschaftsbetrieb nichts, messtechnische oder fragebogenbasierte Datenerhebung sollte immer ersteinmal eine Ergänzung und Überprüfung normaler menschlicher Wahrnehmung sein. Und ein Ersatz nur, wenn das menschliche Denken selbst auf Basis dieser Überprüfung zu dem Schluss kommt, dass sie doch zuverlässiger sind als das, was ihm bisher zur Verfügung stand. Und zumindest solange es keine starke KI gibt, braucht man sich auch gar keine Sorgen zu machen, dass das anders abläuft. ;)

Dass sich die Forschungsobjekte der Physik nicht wehren würden, erfasst zu werden, darfst du mir aber nicht erzählen, wenn ich mir meine Tätigkeiten so ansehe. ;) Auch ernsthaft gesehen würde ich sagen, dass sie sich genauso stark wehren wie geisteswissenschaftliche, nur auf einer anderen Ebene. Der der Abstraktion und Alltagsferne statt der der Komplexität. Das macht sie von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt her "trivialer", aber für menschliche Forscher eher schwieriger.

Der "Alleinerklärungsanspruch" kann für jeden halbwegs realistischen Wissenschaftler immer nur ein stufenweiser sein, wie ich ihn schon so oft skizziert habe: eine beispielhafte Rückführung der Wirkprinzipien hochemergenter Bereiche wie Soziologie auf die elementareren Wirkprinzipien von Psychologie, Biologie, Chemie, Physik, jeweils in Einzelschritten, vielleicht auch mal zweien. Aber mit Sicherheit keine eindeutige Erklärung auch nur weniger Aspekte Soziologie durch die Physik. Und auch keine komplette Erklärung irgendeines Bereiches durch den direkt darunter liegenden. Immer nur Bestätigung und Absicherung der bereits vorhandenen Erkenntnisse sowie Ergänzung der Disziplin in Randbereichen und Auffinden und Stopfen blinder Flecken - wobei letztere je nach Entwicklungsstand der Disziplin natürlich riesig sein können.

Ipsissimus
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Mo 17. Jan 2011, 15:36 - Beitrag #20

"Daten" sind ein Abstraktum, das im Gehirn entsteht. Was passiert, wenn ein Physiker etwas zu messen meint, ist nichts anderes, als dass "Objekte der Welt" mittels anderen "Objekten der Welt" - Photonen, Wellen, Magnetfelder uvm. - anregend auf einen Geschichtenerzähler in unserem Gehirn einwirken, weniger schnoddrig gesagt, dass sie in unserem Gehirn Vorstellungen entstehen lassen. Darüber hinaus bedeuten Daten für sich selbst genommen nichts; erst innerhalb der Geschichte - einer integrierenden Theorie - erlangen sie Bedeutung.

Beides zusammen lässt sich durchaus als Hinweis auf die Notwendigkeit eines geisteswissenschaftlichen Korrektivs lesen, das deswegen ja nicht gleich die naturwissenschaftliche Analyse ersetzen soll.

Und ein Ersatz nur, wenn das menschliche Denken selbst auf Basis dieser Überprüfung zu dem Schluss kommt, dass sie doch zuverlässiger sind als das, was ihm bisher zur Verfügung stand.
auch das geht in dieselbe Richtung. In den von mir angeführten gestalthaften Problemstellungen geht es nicht um die Exaktheit einer Messung; eine solche ist vielleicht nicht in jeglicher Hinsicht gänzlich irrelevant, aber sie gehört normalerweise zu einer Perspektive, mit der das menschliche Gehirn im allgemeinen nichts anfangen kann. Wenn zwei Menschen einander in sexuellem Austausch hingeben, ist das letzte, was sie in situ benötigen, der Hinweis darauf, dass der/sie andere jetzt nur deswegen stöhnt, weil er/sie evolutionär/biologisch darauf konditioniert ist. Und wenn diese Konditionierung hundertprozentig theoretisch abgesichert ist, ist sie immer noch irrelevant, außer vielleicht in sehr spezifischen Situationen, bei denen dann aber gerade kein "sex in action" passiert. Das Hinterallerletzte wäre dann die exakte Messung der Lautstärke des Stöhnens während des Aktes, weil NaturwissenschaftlerIn offenbar nur bei Kenntnis und durch dauerhaftes Monitoring der exakten sone-Zahl einschätzen kann, wie erregt PartnerIn ist^^

Dass sich die Forschungsobjekte der Physik nicht wehren würden, erfasst zu werden, darfst du mir aber nicht erzählen, wenn ich mir meine Tätigkeiten so ansehe.
ich bezweifele, dass diese Forschungsobjekte eine aktive, intelligente und absichtshafte Gegenwehr leisten^^ ihr Ding ist eher passiver Widerstand^^ außer natürlich bei den Kobolden, die machen das aus lauter Boshaftigkeit^^

ich denke, Natur- und Geisteswissenschaften belegen Erkenntniskompartimente, und das heißt, sie könnten füreinander auf dem Gebiet des jeweils anderen Kompartments sehr fruchtbar werden. Derzeit wird das sehr, sehr einseitig gesehen, so einseitig, dass es fast zu einer Verdrängung der geisteswissenschaftlichen Perspektive aus ihrem ureigensten Bereich gekommen ist. Das ist schädlich für die Geisteswissenschaft, aber es ist genauso schädlich für die Naturwissenschaft, auch wenn es naturgemäß etwas länger braucht, ehe Naturwissenschaftler etwas bemerken, das sich nicht in ihren Mikroskopen und Reagenzgläsern abspielt^^


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