Das Dilemma des Menschenopfers

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Lykurg
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Fr 18. Mär 2011, 17:30 - Beitrag #21

Sind diejenigen, die die Verantwortung dafür tragen müssen, die, die dafür verantwortlich sind? Fukushima wurde in den 70ern errichtet, und damals wurden offenbar schwere Fehler gemacht (direkte Übernahme von US-Plänen ohne jegliche weitere Berücksichtigung des Erdbeben- und Tsunami-Risikos). Dafür sind die heutige Regierung und Unternehmensführung nicht verantwortlich, sicherlich aber für eine im Februar 2011 (!) erfolgte Laufzeitverlängerung. Es wäre genauestens zu prüfen, wie genau da Risiken abgewogen wurden.

Ipsissimus
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Fr 18. Mär 2011, 17:39 - Beitrag #22

nun, zumindest TEPCO hat eine Vorgeschichte von Betrug und Korruption im Kontext der Kraftwerkszulassungen. Wenn eine neue Konzernführung bei Amtsantritt das nicht aufdeckt, übernimmt sie die Verantwortung

janw
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Fr 18. Mär 2011, 19:23 - Beitrag #23

Die Frage, wie weit der Menschenrechtsschutz wirklich reicht, scheint mir durch das Flugzeug-Urteil nicht ganz geklärt. Jedenfalls könnte aus
Zitat von BVerfG:(4) Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen (so etwa Enders, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Rn. 93 <Stand: Juli 2005>), führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solche solidarische Einstandspflicht entnommen werden kann. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.

der Eindruck entstehen, daß eine unmittelbare existenzielle Gefahr für die staatliche Rechts- und Freiheitsordnung eine Einschränkung zulässt, zumindest für Kräfte von Militär und Katastrophenschutz - oder lest Ihr das anders?

Zitat von Ipsissimus:laut dieser Meldung sind die 50 Helden von Fukushima wohl ziemlich unfreiwillige Helden

falls sich das bestätigt, ist es ein Verbrechen

Ja, und andererseits wären ohne die Löschversuche die Menschen im näheren und weiteren Umkreis, eventuell bis nach Tokio, in deutlich größerer Gefahr, von einer unkontrollierten Kernschmelze mit Materieauswurf betroffen zu werden, mit Tokio immerhin auch das wirtschaftliche und administrative "Herz" des Landes.
Hat vielleicht das öffentliche Auftreten des Tenno hier eine Rolle gespielt, hat er vielleicht den Präsidenten verpflichtet, die Firma zu zwingen?

Sicher wäre es angemessener, die für das Desaster Verantwortlichen aufräumen zu lassen - aber könnten die Verwaltungsmenschen das überhaupt, haben sie die Kenntnisse der Techniker?
Immerhin hätte aber der Firmenchef dem Präsidenten dem Verbot des Präsidenten aus rechtlichen Gründen nicht folgen können...hat er nicht, vielleicht aus der japanischen Wertebefindlichkeit heraus?
Wahrscheinlich hätte seine einzige andere Reaktion nur in einem sofortigen kollektiven Rücktritt der Firmenleitung, vielleicht mit sofortigem seppuko, bestehen können.

[quote]das hängt, soweit ich weiß, von der Krise ab, Jan. Bei militärischen Einsätzen sind sie außen vor, bei Katastropheneinsätzen nicht]
Vielleicht war dabei ausschlaggebend, daß zumindest unmittelbar keine Gefahr für Leib und Leben der Wehrpflichtigen bestand, wenn die vielleicht eher beim Sandsackfüllen waren.

009
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Sa 19. Mär 2011, 01:47 - Beitrag #24

So schwer war diue Recherche auch nicht, ich schätze das BVerfG ua für diese leichte Verfügbarkeit umfassnder Pressemittilungen sowie der kompletten Urteilstexte. Allein mir fehlt der Sachverstand, da wirkliche rläuternd kommentieren zu können^^

Das sie nicht alles sich aufdrängende gleich miteintscheiden, sondern nur das, was für den Prozeß/die zu entscheidende Frage relevant ist, lösen sie auf hohem Nivaeu. Wie alle Jurusten scheinen sie geradezu ökonomisch zu denken und sich zu freuen, wenn sie bei manchen Teil-Fragen nur ausführen müssen, warum die gar nicht relevenat sind, statt die mitzuentscheiden.

Mangels eigenen Sachverstandes frage ich mich nämlich auch, wie sich vor dem hier diskutierten Fragen die im Thread "Kein Grundrecht auf umfassenden Schutz vor Straftaten" nachzulesende Gleichrangigkeit der Schutzrechte des Bügers gegen den Staat auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit einfügen lassen, auch wenn die dortige Entscheidung sich ums Strafrecht dreht. Bei verpflichteten Arbeitern bestünde gerade eben keine Freiheit mehr, aber nur so kann in Situationen wie in Japan versucht werden, die körperliche Unversehrtheit möglichst vieler zu retten.
Ein Dilemma!

Zur Frage würde ich bei so einer AKtion mitmachen wollen:
Ein Dilemma!
Denn einerseits ist es die Frage, wie ich für mich mit der ggf. hohen Wahrscheinlichkeit umgehen würde, nicht mehr lange zu leben zu haben oder zumindest schwer zu erkranken. Und andererseits würde es für mich dilemmaauslösend auch darum gehen, wie die an mir höngenden sozusagen mit "auch durch ihn keine Katastrophe entstanden, aber durch dieses Handlen von ihm haben wir ihn nun nicht mehr" umgehen würde.

"Freiwillige Menschenopfer einzelner bzw. die Bereitschaft dazu scheint es zumindest im Bereich des professionellen Personenschutzes zu geben, da Personenschützer in vielen Fällen eben ihren Körper einsetzen, um ernste Schäden von der Schutzperson abzuwenden, egal, was ihnen selbst davon droht. Ich erinnere beispielsweise nur an den Personenschützer von Wolfgang Schäuble, der die dritte Kugel des Attentäters mit seinem Körper abfing und so sich selber schädigte (IIRC hat er zum Glück ohne wirklich dauerhaft gravierende Folgen überlebt), nach Meinung ettlicher damit aber mehr oder minder den Tod Schäubles verhinderte.

Traitor
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Sa 19. Mär 2011, 12:20 - Beitrag #25

Die Begründungen des Gerichts in diesem Fall halte ich für dumm und gefährlich, aber glücklicherweise liegt der hier diskutierte Fall anders genug, dass sie nach juristischer Spitzfindigkeit eh nicht anwendbar wären.

Wie genau der "Zwang" in Japan aussieht, würde mich noch interessieren. Allein, dass die Regierung dem Konzern untersagt, die Arbeiter abzuziehen, heißt ja noch nicht, dass expliziter Zwang auf die Arbeiter ausgeübt wurde. Solange ihnen nicht schwere Strafen angedroht wurden, waren sie weiterhin in der normalen Situation eines Arbeitnehmers und hätten kündigen, sich krankmelden oder einfach verschwinden können und lediglich normale arbeitsrechtliche Konsequenzen befürchten müssen, ein kleiner Preis für Nichtverstrahltheit, aber dürften sich aus Pflichtgefühl dazu entschieden haben, weiterzuarbeiten.

Ipsissimus
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Sa 19. Mär 2011, 14:02 - Beitrag #26

ich bin nicht ganz sicher, Traitor, ob du dir da die Situation gedanklich nicht ein bisschen zurecht "hübschst". Es hat natürlich juristische Tradition, das Unterlassen von Widerstand als Zustimmung auszulegen, aber das wurde glücklicherweise - anderer Kontext: Vergewaltigung - schon lange überwunden, wenngleich es immer wieder versuchsweise in die Diskussion geworfen wird, vor allem dann, wenn es darum geht, angebliche Rechte des Staates in bestimmten Situationen zu begründen. Wie in einem anderen Thread schon mal dargelegt: die Pflicht eines Staates, seine Bürger zu schützen, und das Recht eines Bürgers, von seinem Staat vor Gefahren beschützt zu werden, treffen sich nicht auf gleicher Ebene, insofern als es damit nicht in der Pflicht der Bürger liegt, sich zum Schutz anderer Bürger heranziehen zu lassen, schon gar nicht zwangsweise.

Wenn es der Staat trotzdem versucht, sitzt er in der Regel allerdings an einem sehr langen Hebel. Wehr dich erst mal gegen direkten Zugriff in einer solchen Situation.

Lykurg
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Sa 19. Mär 2011, 15:48 - Beitrag #27

Über 009s Link im Erdbeben-Thread stieß ich auf diese Relativierung.
Nakagawa said that normally nuclear power plant workers in Japan are limited to accumulated radiation doses of 100 millisieverts. But as an emergency measure, the ministry of health on Tuesday raised that to an accumulated 250 millisieverts. Nakagawa says that at that higher level of exposure, the workers will likely face a 1% or more increased risk of cancer. "It's only a risk, but they are now carrying a heavier risk of cancer," he said.
Zugegebenermaßen ist die Meldung inzwischen drei Tage alt, aber trotzdem schwächt es die Opferung wohl im konkret betrachteten Fall etwas ab, auch wenn sicher Mitarbeiter auch schwerer verstrahlt wurden und über die Soldaten etwa in den Helikoptern damit noch nichts gesagt ist.

Traitor
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Sa 19. Mär 2011, 23:47 - Beitrag #28

@Ipsi: Ja, ich hübsche mir die Situation zurecht, denn ich bin themenbedingt gerade im Juristerei-Modus, und da ist Zurechthübschen Grundmethode. ;) Persönlich würde ich liebend gern mit dir Tepco-Manager und Regierungsleute direkt ins Reaktorbecken schicken... Aber das führte ja auch zu nichts.
Verwerflich finde ich das Einsetzen im Geiste von "wer nicht widerspricht, stimmt zu" schon, aber eben das kleinere Fehlverhalten gegenüber dem Verzicht auf Katastrophenbekämpfung. Und als den weitaus größeren Druckfaktor auf die Arbeiter sehe ich das japanische "man erfüllt seinen Dienst, basta".

@Lykurg: Ja, von direktem Todesopfer kann man bisher nicht reden, die Diskussion hier ist schon eher beim abstrahierten Fall angekommen.

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