Das Dilemma des Menschenopfers

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Ipsissimus
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Do 17. Mär 2011, 13:13 - Beitrag #1

Das Dilemma des Menschenopfers

... lautet die Überschrift dieses Artikels in der Süddeutschen. Die darin aufgeworfenen Fragen gipfeln in einer einzigen:

Kann eine liberale Demokratie ihre Bürger zum Heldentum verpflichten?


der Artikel legt dar:

In der Meldung, dass zwischenzeitlich nur noch fünfzig Arbeiter um die Kühlung des havarierten japanischen Atomkraftwerks Fukushima-1 kämpften, stecken fünfzig einzelne Menschenleben. Wegen der hohen radioaktiven Strahlenbelastung, der sie vor Ort ausgesetzt waren und weiter sind, sind ihre langfristigen Überlebenschancen deutlich gesunken. In der Meldung steckt aber auch ein moralisches Dilemma der liberalen Demokratie, über das nachzudenken eigentlich unmöglich ist, weil die Arbeiter noch leben. Das Dilemma ist allerdings so sehr Teil der laufenden Ereignisse, dass es ebenso unmöglich ist, nicht darüber nachzudenken.

Formulieren lässt es sich sehr einfach: Es sieht so aus, als müssten in Japan Menschen geopfert werden, damit andere Menschen gerettet werden können. Mit anderen Worten: Um den havarierten Reaktor, so gut es eben geht, zu kühlen, werden Helfer gebraucht, die wiederum einer hohen, den menschlichen Körper stark schädigenden Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Wie viele Menschen dafür gebraucht werden, ist bislang völlig unklar. Vermutlich aber viel mehr Menschen, als man sich derzeit vorstellen kann. Und zwar schon allein deshalb, weil noch völlig unklar ist, wie viele Menschen gerettet werden müssen. Das künftige Ausmaß und der Verlauf der Katastrophe ist kaum vorhersehbar.

Japan ist zudem kein autoritärer Staat. Beim Super-GAU von Tschernobyl im April 1986 befahl die sowjetische Führung innerhalb kurzer Zeit Tausende junger Soldaten, sogenannte Liquidatoren, als Katastrophenhelfer an den Unglücksort. Ähnliches wird der japanischen Regierung nicht möglich sein.


der Artikel ist wirklich gut und als ganzer lesenswert

wie seht ihr das?

Aydee
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Do 17. Mär 2011, 14:40 - Beitrag #2

Kann [ein Staat, eine Gesellschaft seine/]ihre Bürger zum Heldentum verpflichten?

eher locken. Wenn die "Bürger" es als Pflicht ansehen würden, kämen sie doch wohl scharenweise und freiwillig...

Kam letztens eine Sendung (ist ja derzeit sowas von "In"...), in der es hieß, dass in und rund um Tschernobyl noch immer Kontrolleure unterwegs sind, um die Stahlung zu überwachen. Die bekommen mehr Gehalt als die meisten anderen in diesem Gebiet.

Es ist womöglich auch in erster Linie eine Frage der Mentalität, ob sich jemand für solche eine Aufgabe zur Verfügung stellt. Zumindest wenn man von "Opfer" spricht. (wobei, vielleicht müssen wir über die Definition von "Opfer" sprechen, für mich wäre dies freiwillig, ohne Anreize... wobei, gibt es Selbstlosigkeit? :))


Edit.
PS: mir gefällt der Schlusssatz des Artikels...

Lykurg
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Do 17. Mär 2011, 14:49 - Beitrag #3

In der Tat lesenswert. Aus meiner Sicht ist es unumgänglich, nach Freiwilligen zu suchen, die in einem solchen Fall helfen können. Das hat die Betreiberfirma Tepco auch bereits erfolgreich getan - auf einen Aufruf meldeten sich in kurzer Zeit die erwünschten zwanzig Freiwilligen, teilweise Mitarbeiter des Unternehmens. Das ist wohl in Teilen sowohl mit der Unternehmenskultur und speziell dem Pflichtbewußtsein von Kernkraftsicherheitstechnikern als auch mit japanischer Mentalität zu erklären, wobei hier zumindest auch Fachleute für andere Länder (USA) vergleichbares vermuten, sollte es einmal dazu kommen.

Dabei wäre zu prüfen, ob die schwere Verstrahlung weniger oder eine geringere Verstrahlung von mehr Helfern das kleinere Übel ist, was sich die Gesellschaft und was sich die Einzelnen zumuten wollen. Die Ehrenspeisung im Prytaneion bzw. vergleichbare Dauerrechte und Ehrungen unserer Tage sollten ihnen gewiß sein.

Schwieriger ist der Einsatz von Soldaten, denn auch wenn die Verteidigung ihres Landes und seiner Bewohner gegen Gefahren explizit auch die Hintanstellung ihres eigenen Lebens verlangt, ist diese Situation immerhin nicht der Kriegsfall, für den sie ausgebildet sind. Dennoch ist das bei Bedarf an größeren Mengen von effizient in Befehlshierarchien arbeitenden Menschen eine gegebenenfalls unausweichliche Maßnahme, denn das AKW sich selbst zu überlassen und die Kontamination weiter Landstriche hinzunehmen, ist keine Lösung.

Kann eine liberale Demokratie ihre Bürger zum Heldentum verpflichten?
Ja, sie kann, sie muß es sogar, und sie hat bereits.

009
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Do 17. Mär 2011, 15:12 - Beitrag #4

Wie verhält sich dazu der in unserer Demokratie durch das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Frage des Abschusses von durch Terroristen entführten Flugzeugen klar festgestellte Grundsatz, kein Menschenleben sei weniger wert als andere und man könne eben gerade nicht "wenige opfern" um (möglicherweise) viele zu retten?

Wohl zumindest so, dass zwangsweiser Einsatz durch staatlichen Befehl verfassungswidrig wäre.

Lykurg
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Do 17. Mär 2011, 18:30 - Beitrag #5

Daß ich die ethische Fundierung dieses Urteils nicht teile, da sie absurde Konsequenzen hat, hatte ich schon damals geschrieben, glaube ich...

Zugegebenermaßen weiß ich nicht, ob die bisher vor Ort in Fukushima eingesetzten Soldaten (die sich unter den 50 befinden sollen) Freiwillige sind, und halte es für sehr wahrscheinlich. Das wäre natürlich auch innerhalb des Militärs das gebotene Vorgehen in einem solchen Fall.

Aber nach § 63,1 des Soldatengesetzes und § 35,2 GG können Soldaten zu Katastrophenschutzmaßnahmen im Landesinneren herangezogen werden. Die grundsätzlichen soldatischen Pflichten sehen zwar explizit nur Verteidigung von Recht und Freiheit vor, aber eben auch, 'der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen', und damit wäre auch dies im Ansatz erfaßt. Zur Gehorsamspflicht § 11,1 SG: "Der Soldat muss seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist [...]" - ein Befehl kann aber durchaus lebensgefährlich sein, da gibt es keine Sonderregelungen für Verteidigungs-/Spannungsfall o.ä.
(Sonst wäre ja auch z.B. das Verweigern von Schießübungen, bei denen ja auch gelegentlich was passieren kann, keine Befehlsverweigerung.)

009
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Do 17. Mär 2011, 18:39 - Beitrag #6

Also wenn scheint ein solcher Einsatz aus meiner Laiensicht überhaupt nur bei Soldaten möglich. Die Verhinderung einer atomaren Verseuchung würde ich irgendwie unter die Verteidigung der Freiheit zu subsumieren versuchen. Weil was nützt die durch Verfassung garantierte Freiheit, sich im Bundesgebiet frei bewegen zu können, wenn Teile davon durch Strahlung de facto Sperrgebiet für jeden mitdenkenden wären?
Nur wenn ich den Antrieb fände, zu dem Urteil mehr nachzulesen könnte ich sagen, ob ich da dann bei einem solchen Einsatz einen Verstoß gegen die Menschenwürde annehmen und so eine legale Verweigerungsmöglichkeit auch für Soldaten sähe.

Lykurg
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Do 17. Mär 2011, 19:07 - Beitrag #7

Der angenommene Fall liegt insofern deutlich anders als der Abschußbefehl gegen ein Verkehrsflugzeug, weil ein Soldat nach geltendem Recht nicht gezwungen werden kann, gezielt Zivilisten zu töten, wohl aber, sein eigenes Leben zu riskieren. Ersteres kollidiert mit dem Strafrecht, letzteres fällt unter die Gehorsamspflicht. Übrigens sieht auch § 12 SG explizit die Pflicht zu kameradschaftlichem Beistand "in Not und Gefahr" vor, also auch, bei einem solchen Einsatz die anderen nicht im Stich zu lassen.

Ob Menschenwürde hier greift, wage ich zu bezweifeln. Man mag in einem solchen Dienst sogar eine besondere Würde sehen.

Aydee
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Do 17. Mär 2011, 19:28 - Beitrag #8

Frage, so ganz ehrlich, aus dem tiefsten Innersten eures Seins.. :

würdet ihr gehen?
und dann, egal welche Antwort: warum?

janw
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Do 17. Mär 2011, 22:23 - Beitrag #9

Der Artikel ist gut, allerdings hätte IMHO ein Hinweis auf Not- und Ausnahmezustandsregelungen das Problem noch etwas verschärft - bedarf es in einer freiheitlichen Demokratie dieser Mittel, ist der Lebenseinsatz erfordernde Zustand gewissermaßen die epoché der freiheitlich-demokratischen Verfasstheit von Gesellschaft?

In meinen Augen gehört es zur Daseinsvorsorge eines Staates, Institutionen vorzuhalten, deren Kräfte in derartigen Fällen zum Einsatz kommen. Dazu zählen Militär (für den militärischen Krisenfall und für andere Krisen, die besondere Fähigkeiten und Geräte erfordern) und Katastrophenschutz. Wer hier arbeitet, sollte wissen, worauf er sich einlässt - und die Gewinnung hinreichend geeigneter Kräfte ist für mich ein Stück weit eine Nagelprobe für die Gesellschaft, für die der Einsatz erfolgt. Ist sie dem Einzelnen - oder ist zumindest der Nahbereich des Einzelnen dem Einzelnen - so viel wert, daß er sich bis zum Äußerszen dafür einsetzen würde?
Umgekehrt muss dieser Einsatz den Kräften auch angemessen honoriert werden, einschließlich der Hilfe bei erlittenen Schäden - momentan eine größere Baustelle der Bundeswehr.

Zitat von 009:Wie verhält sich dazu der in unserer Demokratie durch das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Frage des Abschusses von durch Terroristen entführten Flugzeugen klar festgestellte Grundsatz, kein Menschenleben sei weniger wert als andere und man könne eben gerade nicht "wenige opfern" um (möglicherweise) viele zu retten?

Wohl zumindest so, dass zwangsweiser Einsatz durch staatlichen Befehl verfassungswidrig wäre.

009, damals ging es um die Abwägung von Leben von Zivilbevölkerung, das ist nicht mit Kräften vergleichbar, die in einer zur Gefahrenabwehr tätigen Institution arbeiten.

Zitat von Aydee:Frage, so ganz ehrlich, aus dem tiefsten Innersten eures Seins.. :

würdet ihr gehen?
und dann, egal welche Antwort: warum?

Aydee, ich würde gern noch ein, zwei Menschen kennen lernen, vorher^^ ;-)
Und dann...sehen, was tut das gehen denen, die bleiben?

e-noon
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Do 17. Mär 2011, 22:33 - Beitrag #10

@Aydee: Ich tendiere zu "nein". Fragt sich, wie die Geschichte aussähe, wenn ich (als Atomexperte) mehr über meine Rolle im Geschehen, eventuelle Risiken (für mich oder im Falle des GAUs) wüsste. Insbesondere wenn ich die Familienplanung schon abgeschlossen hätte, wäre ich eher dazu geneigt; aber das lässt sich natürlich leicht sagen, solange es noch nicht soweit ist.

Ipsissimus
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Do 17. Mär 2011, 22:54 - Beitrag #11

bei einer Wehrpflichtigen-Armee würde ich eindeutig den Vorrang des Grundgesetzes vor dem Soldatengesetz sehen, Lykurg. Menschen zu zwingen, als Soldat Dienst zu tun, und sie dann noch mal zu zwingen, im Dienst zu sterben - jeder Deserteur der Welt darf auf meine Unterstützung rechnen. Bei einer Berufs-, also Freiwilligenarmee ist das wiederum anders, die unterzeichnen freiwillig einen Vertrag, in dem das Soldatengesetz Teil des Vertrags ist.

Ich bin jedenfalls froh, dass das Grundgesetz und die Mehrzahl der Verfassungsjuristen die Unverrechenbarkeit und Unverfügbarkeit von Menschenleben absolut setzen.

Sollte das aus irgend einem Grund einmal anders werden, sehe ich im Grunde nur zwei Alternativen: zum einen, basierend auf dem Verursacherprinzip, diejenigen werden hin verpflichtet, die den Schlamassel zu verantworten haben, also die Vorstände. Zum anderen, im Falle eines professoinellen Katastrophenschutzes: diejenigen gehen hin, die sich vorher dazu verpflichtet haben und dafür ausgebildet wurden, also die Leute vom THW und ähnlichen Institutionen, sofern sie das berufsmäßig ausüben.

Ob ich hingehen würde, kommt auf die Umstände an. Weder meine körperliche Leistungsfähigkeit noch mein technisches Verständnis sind ausgebildet genug, um in einer derartigen Extremsituation von Hilfe zu sein, und nur zum Verheiztwerden stehe ich nicht zur Verfügung. Andererseits, wenn irgendwann einmal wirklich etwas davon abhinge, dass in so einer Situation jemand reingeht und einen Schalter umlegt, und außer mir niemand nah genug wäre, um es zeitlich noch zu schaffen, würde ich rein gehen. Ich käme sowieso nicht mehr weit genug weg.

e-noon
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Do 17. Mär 2011, 23:03 - Beitrag #12

Ich käme sowieso nicht mehr weit genug weg.
Ist das nicht auch schon Verrechnung von Menschenleben? Auch, wenn du nur dein eigenes verrechnest. Meiner Meinung nach kommt man an derartigen Überlegungen nicht vorbei; von "wenn ich sonst eh sterbe" zu "wenn sie sonst eh sterben" ist es nicht sehr weit.

Wenn ich nicht als Experte, sondern als schalterumlegender Held gefragt würde, würde ich wohl erstmal die anderen vorlassen. Wenn niemand anderer da wäre und man mir glaubhaft versichert, dass die Katastrophe sonst riesig wäre, würde ichs vielleicht machen.

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Do 17. Mär 2011, 23:07 - Beitrag #13

bei einer Wehrpflichtigen-Armee würde ich eindeutig den Vorrang des Grundgesetzes vor dem Soldatengesetz sehen
Die Grenze würde ich auch ziehen, allerdings nicht nur zwischen Wehrpflichtigen- und Berufsarmee, sondern allgemeiner zwischen Wehrpflichtigen- und Freiwilligen-Armee, wobei ich die Bundswehr der letzten ~20(?) Jahre bereits als Freiwilligen-Armee zähle, also sobald der Zivildienst ohne Sonderverfahren jedem offen stand. (Vorausgesetzt, die diskutierte Krise wäre nicht so groß, dass die Verweigerer auch eingezogen würden.)

Das vorausgeschickt: bei Soldaten, Hilfswerklern oder Kraftwerkstechnikern stellt sich die zugespitzte Fragestellung des Opferzwanges gar nicht, da diese nicht über ihre normale, freiwillig eingegangene Dienstpflicht hinaus eingesetzt werden. Allerdings sähe ich hier zumindest mildernde Umstände für Dienst- bzw. Befehlsverweigerung, zumindest, solange sich letztlich noch jemand anderes findet, der bereit ist, die Arbeit zu erledigen.

Unbeteiligte Zivilisten zwangszuverpflichten, wäre da definitiv etwas anderes, ist aber auch ein wenig realistisches Szenario, da meist genügend spezialisiertes und verpflichtetes Dienstpersonal verfügbar sein sollte. Sollte es aber doch irgendwie dazu kommen, hat der Staat, so liberaldemokratisch er auch sei, aber für mich die Pflicht, es zu tun - eine der zentralen Aufgaben eines Staates ist es eben, Menschenleben abzuwägen. Egal, ob er das ethisch darf oder nicht, er muss es.
Das muss dann aber auch einer der Momente sein, in dem sich die Entscheidungsträger persönlich für diese Entscheidungen verantworten müssen, und auch im Nachhinein für Entscheidungen, die zum fraglichen Zeitpunkt die am besten erscheinenden waren, die Konsequenzen tragen. Wurden Menschen unnötig verheizt, so haben sie diese auf dem Gewissen, und sollten das auch juristisch verantworten.

Ich selbst ziehe mich mit dem selben Trick wie Ipsi aus der Verantwortung - ich würde kein solches Risiko eingehen wollen, da ich stets überzeugt wäre, dass jemand anderes dafür besser qualifiziert wäre. Ausnahme direkte persönliche oder Umfeld-Betroffenheit ohne Ausweichmöglichkeit.

Lykurg
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Fr 18. Mär 2011, 00:04 - Beitrag #14

Meines Erachtens ist der Verpflichtungsgrad bei Soldaten höher als bei Hilfswerklern und Feuerwehrleuten, bei denen es wohl keine vergleichbare Befehlsstruktur gibt. An deren großer freiwilliger Einsatzbereitschaft habe ich aber auch wenig Zweifel.

Aufgaben wie in Tschernobyl (Zementsäcke tragen, Schläuche verlegen, Wasser draufkippen, wai) sind nicht allzu kompliziert und könnten mit kurzer Einweisung wohl übernommen werden. Klar, daß manche Aufgaben Spezialistensache sind (wie die des Ingenieurs, der damals ins Becken tauchen mußte, um ein Ventil zu öffnen), aber wenn solche Hilfstätigkeiten dazu beitragen würden, im Team eine höchst kritische Situation zu entschärfen und etwa eine großflächige Kontamination aufzuhalten, wäre ich möglicherweise dazu bereit (Einschränkung: Schreibtischaussage, immerhin jetzt ein paar Stunden abgewogen, aber wie das im Ernstfall aussähe, ist schwer zu sagen). Ich sehe darin eine mögliche Sinnsetzung und die Chance, anderen ein glücklicher empfundenes Dasein zu erhalten.

@e-noon: Ich denke, das Vorhandensein eigener Kinder würde die Entscheidung immens erschweren, von einigen sehr speziellen Umständen abgesehen. Ich könnte mir aber vorstellen, vor einem solchen Einsatz eine Samenspende einlagern zu lassen, um im Überlebensfall bessere Chancen auf Familiengründung zu haben.

e-noon
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Fr 18. Mär 2011, 00:11 - Beitrag #15

Zitat von Lykurg: Ich sehe darin eine mögliche Sinnsetzung und die Chance, anderen ein glücklicher empfundenes Dasein zu erhalten.
Das wäre auch meine Motivation, gegebenenfalls, sehr gut ausgedrückt.

@e-noon: Ich denke, das Vorhandensein eigener Kinder würde die Entscheidung immens erschweren, von einigen sehr speziellen Umständen abgesehen.
Ja, vermutlich. Ich hatte vor allem an die Erbgutschädigung gedacht und nicht an die eigene Schädigung. Ziemlich unbedacht.

janw
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Fr 18. Mär 2011, 01:54 - Beitrag #16

[quote="e-noon"]Ist das nicht auch schon Verrechnung von Menschenleben? Auch, wenn du nur dein eigenes verrechnest. Meiner Meinung nach kommt man an derartigen Überlegungen nicht vorbei]
Für mich fällt das unter Selbstverfügung über das eigene Leben.
Meine Entscheidung käme in praxi der von Ipsi sehr nahe - meine Einsatzfähigkeit ist auch eher begrenzt, und so wäre es schon eine sehr spezielle Situation, wenn ich von Nutze wäre bzw. mich nützlich machen würde, für wen, wäre dabei recht bedeutsam.

Ipsi, meines Wissens waren die Wehrpflichtler doch bei Kriseneinsätzen außen vor, oder irre ich mich?

Ipsissimus
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Fr 18. Mär 2011, 10:45 - Beitrag #17

laut dieser Meldung sind die 50 Helden von Fukushima wohl ziemlich unfreiwillige Helden

falls sich das bestätigt, ist es ein Verbrechen

das hängt, soweit ich weiß, von der Krise ab, Jan. Bei militärischen Einsätzen sind sie außen vor, bei Katastropheneinsätzen nicht; zumindest glaube ich mich daran zu erinnern, dass bei diversen Oder-Hochwasserkatastrophen auch jede Menge Wehrpflichtige eingesetzt wurden, um die Dämme zu sichern

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Fr 18. Mär 2011, 11:10 - Beitrag #18

Wenn ich die [url=1 BvR 357/05]Pressemeldung[/url] des BVerfG lese, sehe ich schon Anknüpfungspunkte (sämtliche kursive Stellen von mir hervorgehioben):
Darüber hinaus sei § 14 Abs. 3 LuftSiG mit dem Grundrecht auf Leben und mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden. Diese würden dadurch, dass der Staat ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt, als bloße Objekte behandelt; ihnen werde dadurch der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.


Helfer, die nicht aus den Reihen der AKW-Betreuiber (und somit pot. der Verursacher/der Menge de tatbeteiligten Menschen) stammen, können demnach vom Staat (analog wohl erst recht von Unternehmen und Einzelpersonen) nicht getötet werden, um andere zu retten. Für mich heisst das letztlich, in entsprechenden Fällen ist es nur (verfassungs-)legal, etwaigen Freiwilligen die Möglichkeit zur Meldung zu geben, weil eine auf konkrete(re) Personen(gruppen) bezogene Handlung/Werbung des Staates von Karlsruhe recht leicht wieder einkassiert würde.

Ausführlicher liesst sich das so:
Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann.


Zum strikten Schutz der Menschenwürde und dessen nicht Zugänglichkeit für eine Einschränkung liest man in der Pressemeldung wie folgt:
Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Die Annahme, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.


Das Gericht scheint zu meinen, im analogen Fall sei dann auch wohl nicht zu erwarten, dass alle in AKWs arbeitenden in ihre eigene Tötung zustimmen würden.

Im Urteil findet sich dann gleichartiges:
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben als Freiheitsrecht (vgl. BVerfGE 89, 120 <130>). Mit diesem Recht wird die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe geschützt. Jedes menschliche Leben ist als solches gleich wertvoll (vgl. BVerfGE 39, 1 <59>).
[...]
Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>; 107, 275 <284>; 109, 279 <312>). Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <227 f.>), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>); 45, 187 <228>; 96, 375 <399>). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 87, 209 <228>; 96, 375 <399>), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>).
[...]
(2) Auch die Einschätzung, diejenigen, die sich als Unbeteiligte an Bord eines Luftfahrzeugs aufhalten, das im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG gegen das Leben anderer Menschen eingesetzt werden soll, seien ohnehin dem Tode geweiht, vermag der mit einer Einsatzmaßnahme nach dieser Vorschrift im Regelfall verbundenen Tötung unschuldiger Menschen in einer für sie ausweglosen Lage nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz(vgl. oben unter C I, II 2 b aa). Wer dies leugnet oder in Frage stellt, verwehrt denjenigen, die sich wie die Opfer einer Flugzeugentführung in einer für sie alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde willen gebührt (vgl. oben unter C II 2 b aa, bb aaa).



Dafür klingt für mich als Laie der folgende Abschnitt so, als könne das Verfassungsgericht dauraus für die Frage "Leute zum kühlen ins AKW" gg. gerade auch zu einer anderen Entscheidung kommen:
(4) Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen (so etwa Enders, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Rn. 93 <Stand: Juli 2005>), führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solche solidarische Einstandspflicht entnommen werden kann. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.

Auch wenn ein defekt gegangenes AKW kein klassischer ANgreifer ist, so kann er doch gewill kokal bis mind. auf mehrere Bundesländer genau so eine Vernichtung zur Folge haben.

In Bezug auf die Flugzeugfrage wird das BVerfG dann noch mal deutlich:
Die Anordnung und Durchführung der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt nach dieser Vorschrift lässt außer Betracht, dass auch die in dem Luftfahrzeug festgehaltenen Opfer eines Angriffs Anspruch auf den staatlichen Schutz ihres Lebens haben. Nicht nur, dass ihnen dieser Schutz seitens des Staates verwehrt wird, der Staat greift vielmehr selbst in das Leben dieser Schutzlosen ein. Damit missachtet jedes Vorgehen nach § 14 Abs. 3 LuftSiG, wie ausgeführt, die Subjektstellung dieser Menschen in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise und das daraus für den Staat sich ergebende Tötungsverbot. Daran ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten.

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Fr 18. Mär 2011, 15:32 - Beitrag #19

Ipsissimus, das nahm ich mit "sie hat bereits" ja an - allerdings bezogen auf Soldaten und nicht auf zivile Techniker. In dieser Weise ist das furchtbar, aber möglicherweise tragisch-unvermeidlich und je nach angelegter Ethik auch die richtige Entscheidung in katastrophaler Ausgangslage. Daß aber nach Abschluß der Notfallmaßnahmen die Regierung bzw. die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen, ist klar.

009, danke für deine gründliche Recherche! Man kann zwar nun diskutieren, ob der Einsatz als Rettungskraft eine vergleichbare Entindividualisierung darstellt wie der Tod als unbeteiligter Flugzeugpassagier, darüber hinaus teile ich nach wie vor die Prämisse des unbegrenzten und unbedingten Schutzes des Lebens nicht, wie mir in diesen Themen immer deutlicher wird; zumindest scheint mir aber nun auch wahrscheinlich, daß das Gericht in der von dir vermuteten Weise urteilen würde. Ich nehme an, daß die nur im Kommentar formulierte Verpflichtung, im Notfall sein Leben zu opfern, nicht rechtskräftig eingefordert werden kann.

Ipsissimus
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Fr 18. Mär 2011, 16:38 - Beitrag #20

"tragisch-unvermeidlich" ist möglicherweise aber auch nur ein Euphemismus dafür, dass diejenigen, die den Unfall zu verantworten haben, sich jetzt auch noch anmaßen, darüber zu entscheiden, wer dafür sterben darf, was üblicherweise dann nicht die Verantwortungsträger sind. Also noch im "Verantwortungstragen" in Wirklichkeit noch ein Davonlaufen vor der Verantwortung.

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