Ich soll verzeihen, aber ich will nicht

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Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 13. Mai 2011, 19:45 - Beitrag #1

Ich soll verzeihen, aber ich will nicht

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,762493,00.html und
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,629871,00.html

2004 nahm ein Student Amene Bahrami das Augenlicht - nun steht ihr Sühnetermin bevor. Am Samstag darf sie selbst ihren Peiniger blenden, mit fünf Säuretropfen ins rechte, fünf ins linke Auge. Im Interview erklärt die Iranerin, warum sie unbedingt Rache nehmen will.


Heftig, wirklich heftig. Und komplex. Was haltet ihr davon?

janw
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Fr 13. Mai 2011, 22:14 - Beitrag #2

Furchtbar zwangsläufige furchtbare Situation infolge eines furchtbaren Systems.

Eine der Fragen, die man ihr hätte stellen können, ist die, was für sie danach kommen wird? Befriedigung über die erfolgte Rache? Ein Ende des Hasses? Eines der Probleme dabei ist aber IMHO, daß ihr als Frau solche Fragen gestellt würden, wie sie ja auch gebeten wurde, ihr Recht nicht wahrzunehmen, nicht aber einem Mann, wäre die Lage umgekehrt. Ein Mann würde sein Recht wahrnehmen oder nicht, unhinterfragt.

Mir fällt dazu eine Schilderung in Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit ein, in der er die Hinrichtung eines russischen Schriftstellers in der Zarenzeit schildert - die durch Gnadenerweis in allerletzter Minute abgewendet wurde.
Ginge es ihr um etwas anderes als Rache, darum, daß er etwas begreife, dann könnte sie daraus einen Schluss ziehen. Wasser anstelle der Säure.

Sehr merkwürdig die Reaktion seiner Eltern, sie aufnehmen zu wollen, "dann könnten sie endlich heiraten".

Ansonsten stellt sich mir die Frage, ob sie in talkshows eingeladen werden sollte...

009
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Mo 16. Mai 2011, 10:03 - Beitrag #3

Und ich frage mich, wie genau der Aufschub bei der Vollstreckung entstand. Und, mit diesen Gründen ggf. gewiss zusammenhängend, ob die Vollstreckung nun noch folgen wird oder nicht.

Lykurg
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Mo 16. Mai 2011, 16:18 - Beitrag #4

Für mich stellt sich die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Konsequenz. In anderen Berichten las ich vor längerer Zeit, es habe Trittbrettfahrer dieses Säureattentats gegeben, und inzwischen, infolge des Urteils, sei die Zahl derartiger Mißhandlungen geringer als zuvor, als Abschreckungswirkung. Ob das wirklich funktioniert, finde ich interessant und fraglich. Darüber hinaus: Im Artikel heißt es, ihr sei zunächst nur die Zerstörung eines Auges als Rache zugesprochen worden, weil sie als Frau nur halb so viel wert sei wie ein Mann; sie habe aber das andere dazugekauft.
Sehr merkwürdige Rechtsvorstellungen, die Ungleichbehandlung war ja zu erwarten, aber die Kaufmöglichkeit auch in dieser Richtung... Bild

janw
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Mo 16. Mai 2011, 18:24 - Beitrag #5

Nun ja, dafür bleibt dem Kerl ja der Rest des Gesichtes zur haarigen Alterung erhalten [/zynical]


Ich könnte mir vorstellen, daß der Fall eine ziemliche Sprengkraft entfaltet, die sowohl die Frage der Gleichberechtigung wie der körperlichen Rache erfasst, wichtige Grundlagen der Scharia.
Es könnte zur Infragestellung der Scharia kommen, und damit der Staatsdoktrin - zumindest könnte diese Besorgnis wachsen.

Lykurg
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Mo 16. Mai 2011, 18:33 - Beitrag #6

Die naheliegendere Konsequenz wäre doch, Frauen die Ausübung der Sharia zu verbieten - wenn sie es wagen, die gegen Männer einzusetzen... Gegebenenfalls eben nur mit väterlicher Genehmigung oder par ordre du mufti.^^

janw
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Mo 16. Mai 2011, 20:51 - Beitrag #7

Das müsste dann aber erstmal am Koran belegt werden, und an allen nachfolgenden Gerichtssprüchen aller Kalifen. Natürlich nur der schiitischen.

Maglor
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Mo 16. Mai 2011, 22:02 - Beitrag #8

Zitat von 009:Und ich frage mich, wie genau der Aufschub bei der Vollstreckung entstand.

Damit ist klar: Der Iran ist kein Rechtsstreit.
Die scheinbar politisch unabhängigen Scharia-Gerichte werden doch politisch ausgehöhlt. Um bei ausländischen Mächten beliebter zu werden untergräbt das Regime in Teheran die Scharia-Justiz. Der Parlamentpräsident setzt die Vollstreckung einfach aus.
Hier muss vielleicht noch beachtet werden, dass die Rache eben die weniger gottgefälligere Alternative zur Zahlung eines Blutgeldes ist. Dass das Opfer zumindest rechtlich die Wahl hat, ist schon erstaunlich.

Er eigentliche Skandal ist doch der, dass das Strafrecht im Iran 1-zu-1 den abendländischen Stammtischparolen entspricht, diese aber aus Gründen der politischen Korrektheit nicht umzusetzen wagt.

Eine Rache kann bei einem Opfer vielleicht Traumata und Angststörungen lösen, vielleicht ... Dauerhafte und vollständige Heilung wird dadurch sicher nicht erreicht. Sie wird eine blinde und entstellte Frau bleiben.

Ansonsten, fällt mir dazu die Kafkaeske Vor dem Gesetz ein.
„Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ sagte der Türhüter und verschloss die Tür.
Der Eingang war nur für sie bestimmt.
Dass Kafkas Türhüter einen langen, tatarischen Bart trägt, sollte natürlich beachtet werden. :rolleyes:

Traitor
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Di 17. Mai 2011, 23:55 - Beitrag #9

Ein weiterer für mich sehr fragwürdiger ethisch-juristischer Aspekt:
Zitat von Spiegel Online:Nach Teheran fliegt sie nur für diesen Tag, dann kehrt sie nach Spanien zurück, ihre neue Heimat.
Müsste Spanien als westlicher Rechtsstaat ihr nicht die Ausreise verweigern, sie gegebenenfalls sogar festsetzen, wenn sie so offen eine Gewalttat als Zweck ihrer Reise angibt?

janw
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Mi 18. Mai 2011, 00:44 - Beitrag #10

Traitor, etwas ähnliches wurde iirc mal im Zusammenhang mit afrikanischen Einwanderern in Frankreich diskutiert, die ihre Töchter zur Beschneidung in die Heimat schickten. Meines Wissens war es so ausgegangen, daß man nichts tun könne, daß letztlich Aufklärung der einzig wirksame Weg sei. Der mittlerweile auch Früchte trägt.

Letztlich steht solchen Ansätzen entgegen, daß nicht die Staatsangehörigkeit eines Menschen darüber entscheidet, was dieser Mensch tun oder nicht tun darf, sondern die rechtliche Situation am Ort und zur Zeit der Tat.
Auch die Belangung von Pädophilen, die ihrer Neigung in Südostasien nachgehen, war so lange schwierig, wie die entsprechenden Handlungen in den Ländern geduldet waren.

009
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Mi 18. Mai 2011, 01:55 - Beitrag #11

Ein paar Gedankensplitter von mir dazu:

Eine Gewalttat als Reiseanlaß anzugeben bedeutet noch nicht, das diese auch tatsächlich verwirklicht werden wird. Außer bei schon einschlägig aufgefallenen (im konkreten Fall nicht gegeben, anders zB bei Hooligans) scheint es mir gerade rechtsstaatlich eher diffizil zu sein, nur aufgrund von Plänen freiheitsentziehende Maßnahmen umzusetzen. Gefordert wäre da wohl eher der (bestenfalls rechtsstaatliche) Staat, in den die Reise gehen soll.

Sieht man Spanien als Rechtsstaat und unterstellt denen, das sie Menschenrechte als Menschenrechte und nicht Spanierrechte ansehen sowie die Gleichheit der Menschen ernst nehmen, müßte Spanien nicht nur ein Problem mit der Ausreise bei dem gegebeben Reisegrund haben, sondern vielmehr mit dem Iran an sich und darum auch mit Embargos usw. reagieren.

Maglor
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Mi 18. Mai 2011, 21:32 - Beitrag #12

Das Problem der spanischen Gesetze ist, dass sie nur in Spanien gelten. Im Iran gelten die iranischen Gesetze.
Ansonsten es ist dies ein Form der Wehrzersetzung. Ein kriegstauglicher Iraner wird zum Blinden, also durchaus im Sinne des Westens - mal ganz davon abgesehen, dass Amene Bahramis Beharren auf der Blutrache als Widerstand gegen die Ajatollah-Kratie und feministischer Akt zu werten ist. :rolleyes:

Traitor
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Mi 18. Mai 2011, 22:21 - Beitrag #13

Das Tatlandprinzip gehört für mich zu jenen Grundsätzen unseres Rechtssystems, die in einer globalisierten Welt dringend aussortiert gehören, da sie einer wirksamen Durchsetzung der als global deklarierten Menschenrechte explizit entgegenstehen. Aber ja, in der Praxis hat Spanien daher keine Rückhalteverpflichtung oder -befugnis.

Jan, bei deinem Fall dürfte die Sache aber nochmal anders liegen, wenn Minderjährige (oder allgemein nicht widerstandsfähige Dritte) beteiligt sind, sollte sich doch ein Nötigungstatbestand im Binnenland konstruieren lassen?


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