Trotz, wegen oder was?

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Padreic
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Mi 26. Okt 2011, 21:52 - Beitrag #1

Trotz, wegen oder was?

Ipsissimus dixit:
Du weißt ja, eine meiner Kernthesen lautet, dass Europa nicht wegen des Christentums ein einigermaßen erträglicher Platz, ist sondern trotz des Christentums, was einigermaßen gelang, weil es hier eben das Korrektiv der Aufklärung gegeben hat.
Die Frage, die ich mir hier stelle, ist: ist das so?

Ich schätze nämlich, dass es sowohl 'trotz' als auch 'wegen' ist. Die Gründe des 'trotz' sollten allgemein bekannt sein. Zum 'wegen' will zumindest folgendes sagen:
In der lange Zeit dominanten katholischen Ausprägung hat die Vernunft stets eine wichtige Rolle gespielt. Diese mag nicht immer dieselben Meinungen vertreten haben wie wir und auch nicht immer alle modernen Ansprüche an Rationalität erfüllt haben, aber doch. Das lässt sich schon im viel gescholtenen Inquisitionsverfahren beobachten. Aber auch in Philosophie, Theologie und Wissenschaft im Hoch- und Spätmittelalter. Ich denke dabei beispielsweise an die immer ausgefeilteren Argumentationen von Thomas von Aquin bis Duns Scotus und Ockham. Die Logik und Sprachphilosophie dieser Zeit ist bis heute gerühmt. Ferner kann man (oder Thomas Kuhn) sehen, dass Galileos Analyse des Pendels keinesfalls nicht nur auf Experiment, sondern durch den durch spätmittelalterliche Denker (Buridan, Oresme,...) erfolgten Paradigmenwechsel gegenüber der aristotelischen Physik (inklusive der Einführung des Prinzips des Impulserhalts). Diese Fortschrittte basieren alle letztlich auf dem Gedankenmachen um das Wesen Gottes und der Eucharastie. Das gewinnt angesichts der katholischen Auffassung, dass nicht jede Gotteserkenntnis schon in der heiligen Schrift liegt - anders als bei vielen Spielarten des Protestantismus und dem Islam [wodurch letztlich nur natürlich war, dass der Islam seine aufgeklärte Phase verloren hat].

Maglor
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Mi 26. Okt 2011, 22:10 - Beitrag #2

Das Christentum ist - oder aus abendländischer Sicht besser war - eine Religion. :rolleyes:
Naja, sie ist eine Relgion gewesen, die den Wert des einzelnen Menschen durchaus erkannte. Bestrebungen zur Abschaffung der Sklaverei und zum allgemeinen Landfrieden leiteten sich direkt aus der christlichen, ja biblischen Lehre ab.
So weit wurden schon gewisse Ausprägungen der altertümlichen Barbarei besiegt.

Thomas von Aquin - wohl eher trotz des Christentums eines Philosop - bekehrte den heiligen Aristoteles von Athen zum Katholizismus, aber stand damit im krassen Widerspruch zu seinen Zeitgenossen und zum gelebten Katholizismus mit seinem Glauben an Zeichen und Wunder.
Wie sich Brot in Rosen verwandelt durch die Macht des Herrn, wie sich der Leichnam der Heiligen Elisabeth in heiliges Öl verwandeln, wie Peitschenhiebe Sünde in Seelenheil verwandern ...
Ein Welt voller Geister, Dämonen und Zauberer. Im Zentrum steht die Eucharistie als ein eben nicht symbolisch gemeinter Kannibalismus.
Die geistige Welt des Thomas von Aquin unterschied sich ebenso stark wie das Weltbild des Aristoteles von dem der attischen Männer und Frauen seiner Zeit.
Trotz oder gar wegen der Logik und der Sprachphilosophie ist im Abendlande rein gar nichts geschehen.
Brennpunkt des Christentums - im guten wie im schlechten - ist, dass sie den Anspruch hat die Religion für alle Menschen zu sein. Daraus allein konnte letztlich schon der universelle Wertekanon der Aufklärung entstehen. (Islam kann und will das auch, teilweise auch mit voller Härte.)

Was aus katholisch geprägten Hemisphären für aufgeklärte Gesellschaften werden können, sieht man am besten auf Sizilien - bis heute Vorort abendländischer Hochkultur.

Anaeyon
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Mi 26. Okt 2011, 22:22 - Beitrag #3

Ich denke nicht, dass ein paar Denker von großer Bedeutung sind, wenn man Ipsis Aussage betrachtet. Das tatsächliche Leben wird doch idR. von den Leuten in meiner Umgebung geprägt. Und diese unmenschlichen Auswüchse dessen, was das Volk (und auch der ein oder andere VIP-Mensch, zu allen Zeiten) unter Christentum verstand, sind es wohl, die das Leben hier unerträglich statt erträglicher machten und ab und an noch machen.

Ich sehe keinen gesellschaftlichen Gewinn durch das Christentum im Sinne von: Durch das, was der Mensch daraus macht. Denn das ist beim Monotheismus meistens Murks, wenns gut läuft, und tödlich, wenn nicht. Im persönlichen Bereich, also für ein Individuum, mag das ganz anders sein. Generell halte ich Religionen nur für Individuen nützlich, für große Gruppen von Menschen immer schädlich. Es gibt gesündere Alternativen.

Lykurg
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Mi 26. Okt 2011, 23:45 - Beitrag #4

Anaeyon, auch ein oder ein paar Denker können eine Zeit prägen, und langfristig fundamentalen Einfluß auf die Lebensverhältnisse ausüben. Ein Beispiel wäre der Wandel des Umgangs mit Geld und zunehmende Legalisierung des Geldverleihens im Laufe des Mittelalters - und dessen wirtschaftliche Konsequenzen. Der von Padreic in einem anderen Zusammenhang erwähnte Nicolas von Oresme spielte dafür eine wichtige Rolle. - Sicher dauerte es Jahrzehnte bis Jahrhunderte, bis manche Ideen sich durchsetzten (heute geht es meistens schneller^^), das bedeutet aber nicht, daß nur die lokalen Vertreter für den Zustand verantwortlich wären.

Ich würde aber auch abgesehen von diesen Kulminationspunkten der geistigen Entwicklung die Breitenwirkung lokaler Institutionen im Früh- und Hochmittelalter nicht vernachlässigt sehen wollen. Die Klöster vor allem der Benediktiner spielten eine eminent wichtige Rolle zur Konservierung und Verbreitung des Wissens der Antike, zur Aufrechterhaltung von Schriftkultur und geistiger Tradition, die Grundlage späterer Entwicklung werden konnten. Klöster waren zugleich lokale Anlaufstellen für alles, wofür man Schriftkundige brauchte, aber auch Stätte sozialer und medizinischer Fürsorge, Ort der Rechtspflege und der technischen und kulturellen Innovation. Klöster wurden zur Keimzelle von Städten und als solche ein wesentlicher Trittstein von der Völkerwanderungszeit in die Moderne.

Ipsissimus
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Do 27. Okt 2011, 12:19 - Beitrag #5

zunächst mal, ich bitte darum, meinen von Padreic zitierten Gedankengang nicht so aufzufassen, als spräche ich dem Christentum seinen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Gesellschaften ab; dieser Einfluss war/ist gegeben und war/ist immens und gar nicht zu unterschätzen. "Einfluss" ist jedoch zunächst mal wertneutral, und der intendierte inhaltliche Fokus des Zitats liegt daher nicht auf einem zugestandenen allgemeinen Einfluss, sondern auf dem Teilsätzchen "ein einigermaßen erträglicher Platz".

Oder anders formuliert: wofür hat die Kirche ihren Einfluss benutzt?

Du, Padreic, führst die Logik und Sprachphilosophie der Scholastiker ins Feld. Ich bewundere - ohne jede Ironie und zunächst mal ohne jede Einschränkung - die Scholastiker aus eben diesem Grund. Weswegen sie scheiterten, hat nichts mit fehlerhafter Logik zu tun sondern mit Prämissen. Sie waren aufgespannt in einem weltanschaulichen Kraftfeld, in dem es noch um die Frage der Priorität und oder Vereinbarkeit von Offenbarung und Vernunft ging; und für die Scholatiker darf, bei aller philosophischen Aufweichung der Priorität der Offenbarung vorausgesetzt werden, dass sie diese Priorität nach wie vor als gegeben sahen, dass es also nicht um die Widerlegung der Offenbarung als gültiger Quelle von Wissen ging, sondern um die Anhebung des aus der Anwendung von Vernunft gewonnenen Wissens auf die Stufe der axiomatischen Sicherheit, wie sie beim Offenbarungswissen ex cathedra gegeben war.

Das ist aus meiner Sicht nicht nur nebensächlicher Einwand, weil die Geschichte dann darüber hinweg ging, das ist vielmehr der zentrale Punkt, der die Scholastik zumindest im Sinne ihrer Eigenabsichten letztlich scheitern ließ. Die Tür wurde durch die Wiederentdeckung Aristoteles´ aufgestoßen, dann aber nur zum Teil durchschritten. Wen wundert es, das andere danach viel, viel weiter gingen?

Also, nicht die philosophische Leistung der Scholastiker ist das Problem, sondern die Verankerung dieser Leistung in das etablierte Bezugssystem, das nicht aufgegeben werden sollte. Und damit bereitete die Scholastik einen Weg vor, den sie selbst gar nicht wollte. In der Bereitstellung gedanklicher Werkzeuge ermöglichte sie anderen, eigene Wege zu gehen, aber es war nie die Absicht der Scholastik, dass diese anderen eigene Wege gehen sollten, und schon gar nicht die Wege, die dann letztlich gegangen wurden.

Aus meiner Sicht ist somit völlig klar, dass die Scholastik kein gewollter Beitrag zum Aufbruch in eine neue Zeit mit geänderten philosophischen Grundlagen und somit Zielen war, sondern der Versuch, einen Anspruch mit neuartigen Methoden für die Zukunft zu retten. Und insofern ist die Scholastik auch gescheitert, denn sie destabilisierten, wo sie stabilisieren wollten.


Lykurg, hinsichtlich der Bedeutung von Klöstern, Abteien, großen Kathedralen als Keimzellen teile ich weitgehend deine Ansichten. Aber auch da ist das Problem ja nicht die Infragestellung des Einflusses, sondern die intendierte Richtung dieses Einflusses. Und da sehe ich trotz aller dieser durchaus wünschenswerten Effekte nicht, dass in den kirchlichen Zielvorstellungen für gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit je Aspekte wie Demokratisierung, Menschenrechte, Gleichstellung von Frauen uvm. relevant gewesen wären. Erst als mit der Aufklärung das Kind praktisch in den Brunnen gefallen war, besann man sich darauf, dass in den eigenen Grundlagentexten ja auch Passagen zu finden waren, die in diesem Sinne gedeutet werden konnten und beeilte sich plötzlich mit der Versicherung, dass man all das, was die Aufklärung forderte und verwirklichte, ja auch schon immer gewollt habe, und dass die Aufklärung "eigentlich" christliche Wurzeln habe. Ich sehe darin eine - psychologisch durchaus geschickte - Vereinnahmung, mehr nicht.

Padreic
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Do 27. Okt 2011, 22:52 - Beitrag #6

aufgrund Müdigkeit nur kurz: dass sich viele der Einflüsse verselbstständigt haben und weit über das intendierte hinaus (und teilweise auch in ganz andere Richtungen) gegangen sind, will ich gar nicht bezweifeln.

Lykurg
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Fr 28. Okt 2011, 07:34 - Beitrag #7

Stimmt zwar, Ipsissimus, Demokratie haben die Kleriker nie gefordert, aber in dem Zeitraum, auf den ich mich beziehe, tat das auch sonst keiner, das wäre eine anachronistische Erwartung. In ihrer Selbstverwaltung waren sie allerdings durchaus progressiv - sowohl, was klösterliche Hierarchien, die freie und gleiche Wahl von Oberen und teilweise auch befristete Amtszeiten angeht, besonders aber auch die Möglichkeiten und der soziale Absicherungsgrad, der Frauen durch den Eintritt in Nonnenklöster möglich wurden. Hier gab es eine Gegenwelt, in der Frauen ihre eigene, weitestgehend männerfreie Welt und Organisationsstruktur entwickeln konnten, mehr Rechte genossen als irgendwo sonst und eine Bildung erwerben konnten, die ihren nichtmonastischen Geschlechtsgenossinnen noch auf Jahrhunderte verschlossen blieb. Dies allerdings natürlich unter Ver.zicht auf ihre Freiheit.

Das paßt möglicherweise sogar recht gut zu den geistesgeschichtlichen Entwicklungen - ein statisches Wissens- und Gesellschaftsmodell zugrundelegend war Entwicklung eher unerwünscht, zumindest nicht systematisch verankert, was zu erheblichem Nutzen in der Zeit selbst führte, aber die Institutionen zunehmend obsolet werden ließ bzw. durch weltliche Alternativen ablöste, zunächst auf dem Gebiet des Bildungswesens, später auch in der Kranken- und Armenfürsorge. Dennoch hatte die Konstruktion Modellcharakter und war als solches durchaus prägend für ethische Konzepte, die uns in ihren Reststufen heute noch wiederbegegnen.

Ipsissimus
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Fr 28. Okt 2011, 10:17 - Beitrag #8

Lykurg, du lieferst das Stichwort für einen gewichtigen Einwand gleich mit, die Klöster waren eine Gegenwelt, und als solche zugleich Zuflucht wie auch goldener Käfig. Eben etwas, das aus dem freien Fluss der Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklungen herausgenommen war und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte.

Was freie und gleiche Wahl von Oberen angeht, so gab es das wohl gelegentlich, ich erlaube mir allerdings, den Fall adliger Hauptsponsoren, die in Folge des Sponsorings ihre Familienmitglieder auf die strategisch relevanten Positionen hieven konnten, als Normalfall aufzufassen. Das aber nur als marginaler Einwand, der Haupteinwand besteht darin, dass diese Klöster und Enklaven zwar teilweise von immenser kultureller Bedeutung für ihre Umgebung waren, ihre vornehmste Funktion aber die der Kontrolle und Stabilisierung der sozialen und politischen Situation war, so dass sie in diesem Sinne als Ver-, zumindest Behinderer sozialen Wandels fungierten.

Nach wie vor, ich bestreite nicht den Einfluss, auch Behinderung ist ja ein Einfluss. Ich bestreite nur, dass Europa es der Christianisierung und dem daraus folgenden Einfluss der christlichen Kirchen zu verdanken hat, ein einigermaßen erträglicher Ort zu sein.

Traitor
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Sa 29. Okt 2011, 14:45 - Beitrag #9

Die spannende Frage ist erstmal die, welche Frage wir hier diskutieren, welche Alternativhistorie: Atheismus statt Christentum, oder eine andere Religion statt Christentum? Letztere wurde hier (Dank für's Auffinden an e-noon) schon diskutiert und ist historisch betrachtet sicher die spannendere, da realistischere. Erstere scheint unbearbeitet zu sein, ist natürlich grob unrealistisch, philosophietheoretisch aber mindestens so spannend. Die Diskussion bisher geht auch eher in diese Richtung, wollen wir uns also auf sie festlegen? Was war deine Hauptintention, Padreic?

Dann würde ich in drei Haupteinflusswege des Christentums teilen: die philosophisch-wissenschaftshistorischen Einflüsse der Scholastiker und anderer theologischer Richtungen, die weltliche Einflussname der Kirche als Machtinstanz, und schließlich den Einfluss des allgemeinen Volksglaubens auf Politik, Wirtschaft, Technik.

Punkt 1 kann man als sehr facettenreiche Mischung aus "trotz" und "wegen" betrachten, das überlasse ich mangels Detaileinsichten aber eher Padreic und Ipsi.

In Punkt 2 würde ich die christliche (mittelalterlich-katholische) Kirche negativ, aber nicht negativer als ihre Mitwelt betrachten. Es gab positive Einzelaspekte, etwa in der Klosterkultur, aber hauptsächlich Brutalität, Machtmissbrauch und Selbstbereicherung. Aber nicht in für mich erkennbar signifikant höherem Ausmaß als in weltlichen Machtinstitutionen, und auch nicht wesentlich anders, als ich es bei anderen religiösen Strömungen in gleicher Machtposition zu erwarten gewesen wäre.

In Punkt 3 muss ich das Christentum aber recht negativ betrachten. Insbesondere die "der Mensch sollte nicht versuchen, größer zu werden, als er von Gott aus zu sein hat"-Ideologie hat den Fortschritt der Menschheit lange behindert und wirkt noch heute in manchem negativ nach. Aber auch hier ist die Frage, was die Alternativen gewesen wäre. Andere heutige Hochreligionen wären wohl nicht besser gewesen (Islam weitgehend äquivalent, asiatische Religionen eher noch stagnationsfördernder), andere monotheistische Strömungen des Orients, wie im anderen Thread diskutiert, wohl auch äquivalent, ein Verbleib in antiken polytheistischen Traditionen hätte vielleicht mehr Experimentierfreude zugelassen, aber Europa wohl eher noch mehr zersplittert, und Atheismus ist für frühere Zeiten halt kaum realistisch vorstellbar.

Zu den Wahlen im Kloster sei noch anzumerken, dass die meisten Kloster auch weltliche Landbesitzer und quasi-Feudalherren waren, diese Wahlen eines Herrschers durch seinen engeren Umkreis unter Ausschluss der Untertanen also als weitgehend äquivalent zur Ratswahl nur durch Reiche in den Städten oder zur Kaiserwahl durch die Kurfürsten gewertet werden können.

Maglor
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So 30. Okt 2011, 23:14 - Beitrag #10

Zu den zivilisatorischen Leistungen des Christentums in Nord-, Mittel- und Osteuropa gehört die Ausbreitung bzw. Einführung einer Schriftkultur und eines Bildungswesen sowie die Ausbildung feudaler Herrschaften nach römisch-fränkischem Vorbild als Vorstufe moderner Staatswesen.
Östlich des Rheins bis zum Ural war vor der Christianisierung lediglich eine ungezähmte (aus Mangel an schriftlicher Überlieferung auch unbekannte) Wildnis.

In West- und Südeuropa hat das Christentum als solches nicht zu einem Quantensprung geführt. Zu den wesentlichen Veränderungen gehört die weitgehende Abschaffung der Sklaverei, das Verbot der Gladiatorenspiele sowie der Olympiade.

Ipsissimus
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Mo 31. Okt 2011, 12:43 - Beitrag #11

Östlich des Rheins bis zum Ural war vor der Christianisierung lediglich eine ungezähmte (aus Mangel an schriftlicher Überlieferung auch unbekannte) Wildnis.

na ja, "Wildnis" wohl hauptsächlich aus Sicht der sich für relevant einstufenden "Kulturvölker", eine Sicht, die sich hauptsächlich aus Unkenntnis aufbaute, der noch die Hybris der Ignoranz aufgesetzt wurde: was wir nicht kennen, kann nicht wichtig sein^^

Lykurg
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Mo 31. Okt 2011, 19:10 - Beitrag #12

Ja und nein. Schriftlosigkeit kann hohe Permanenz aufweisen. Das Saarland war schon vor dem Aufkommen der Kirche in (wenn auch geringem) Maße alphabetisiert, aber ohne Mission hätte man in meiner Gegend noch einige Jahrhunderte länger ohne Schrift bleiben können, und wer weiß, wie es dann hier aussähe... da mag man naturverbundenes Leben und Schamanismus bei anderen noch so sehr befürworten, ich schätze für mich selbst neuzeitlichen Komfort doch höher.

(Allerdings sehe ich das "die sind bestimmt sehr glücklich mit ihren primitiven Lebensverhältnissen" etwa so kritisch wie den Wunsch, unter allen Umständen zu zivilisieren. Nur: Nichteinmischung ist sehr schwierig, wo schon Beobachtung Beeinflussung bedeutet.^^)

Ipsissimus
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Fr 4. Nov 2011, 11:16 - Beitrag #13

Die spannende Frage ist erstmal die, welche Frage wir hier diskutieren, welche Alternativhistorie: Atheismus statt Christentum, oder eine andere Religion statt Christentum?
eine Kritik der Geschichte und des Einflusses des Christentums auf die europäische Geschichte ist doch aber auch möglich, ohne über eine Alternativhistorie nachzudenken, oder?

Eine atheistische Alternative ist eigentlich erst für die Zukunft eine mögliche Option; für wahrscheinlich halte ich das nicht. In der Vergangenheit war es schlicht unmöglich. Und plausible religiöse Alternativen sehe ich auch nur im Weiterbestand des griechisch/römischen Pantheons und/oder eines alternativen Pantheons eines der Völkerwanderungs-Völker, wenn sich da eines deutlich durchgesetzt hätte. Ist natürlich eine spannende Frage, wie sich so ein Pantheon weiterentwickelt hätte.

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Do 24. Nov 2011, 21:46 - Beitrag #14

@Maglor: Schriftkultur und Bildungswesen hätten sich wohl auch mit alternativen orientalischen Monotheismen oder einem römisch-griechischen Pantheon analog ausbreiten können. Auf den ersten Blick scheint ein zentralistischer Monotheismus einem Polytheismus in dieser Hinsicht überlegen, die Griechen und Römer haben es aber ja doch recht weit gebracht und widerlegen dies somit weitgehend.
Wie groß ist letztlich der Unterschied zwischen heidnischer Sklaverei und christlichem Leibeigentum?

@Ipsissimus: Möglich, ja, aber ungleich schwieriger. Man kann eben schlecht zwischen "trotz, wegen oder was?" unterscheiden, wenn man nur historische Korrelationen betrachtet, ohne diese durch das Aufzeigen von Verzweigungspunkten und Alternativpfaden in Kausalitäten aufzubrechen zu versuchen.

In der näheren, nachaufklärerischen Vergangenheit könnte ich mir eine Alternativentwicklung mit deutlich stärkerem Atheismus oder zumindest stark zurückgefahrener, rationalisierter Religiösität vielleicht noch vorstellen, wenn zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Herrscher "bekehrt" worden wären. Das ist dann aber auch schon die Phase, als Religion meist nur noch Ausrede und höchstens willkommene Schützenhilfe war, nicht mehr Triebfeder. Fürs Mittelalter wäre ein "Sieg" der Scholastiker gegen die Mystiker vielleicht vorzustellen, der die Reformation verhindert und die Opposition zu Naturwissenschaften und Humanismus gesenkt hätte. Aber ich weiß nicht mal, ob ich die beiden Strömungen so korrekt einander entgegen setze, geschweige denn, wie realistisch so eine Entwicklung gewesen wäre. ;)

Sind zeitgenössische Konkurrenten des Christentums, z.B. Zoroastrismus und Mithras-Kult, für dich keine Alternative nur im Sinne von "genauso unter anderem Namen", oder im Sinne von "nicht plausibel"?

Maglor
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Do 24. Nov 2011, 22:58 - Beitrag #15

Die Griechen haben zu keinem Zeitpunkt Rhetoriker in die Wildnis geschickt. Wanderende durchstreiften die wildesten Gegenden, durchwanderten die Steppen und fuhren weit ins Nordmeer hinaus um aller Welt das Evangelium zu verkünden.
In den dunklen Jahren der Spätantike und des frühen Mittelalters erreichten christliche Mönche die von den Römern unbeindruckten Iren, Goten und Vandalen in den östlichen Steppen ... Jene Barbaren nahmen erstaunlich schnell die Religion und als die Westgoten die Hügel Roms erreichten und die ewige Stadt plünderten, schonten sie die Kirchen und die letzten Heiden Roms wussten, dass das heidnische Rom für immer fallen würde.
Die Seidenstraße ostwärts reisten christliche Mönche bis ins ferne China, wo sie nur vergleichsweise geringe Spuren hinterließen.
Vergleicht man dies nun mit der Ausbreitung griechischer Denke, wird man den Unterschied feststellen. Der Hellenismus streichte auch mal Indien, aber das war bekanntermaßen anders. Einen Missionsgedanken hat es nie gegeben.

Diese merkwürdige Opferbereitschaft ist die Stärke des Christentums.
Karitative Einrichtungen gab es vor dem Christentum in Europa nicht. Die alten Griechen setzten ungewollte Kinder im Wald aus oder verkauften Waisenkinder auf dem Sklavenmarkt. Platon empfiehlt gar behinderte Kinder zu töten. Erst die Christen erfanden Waisenhäuser.
Auf die Krankenpflege und Armenfürsorge erlebte im Christentum erst ihre Blüte. Interessanterweise entstanden solche karitativen Einrichtungen und Orden in der Regel aus der radikalen Pilger- und Kreuzfahrer-Bewegung. Johanniter, Malteser ...
Kein Zufall: Die Humanität war als Nächstenliebe Iventar der Ideologie.

Religöser Eifer hat viele Gesichter. Die Priester der Kybele entmannten sich selbst und warfen ihre blutenden Hoden in die jubelnde Menge. Die edelsten Mayas durchbohrten ihren Penis und ihre Untertanen um den Göttern Blut anzubieten. Klischeehafte Brahmanen bringen Rindern und Elefanten mehr Wertschätzungen entgegen als angeblich Unberührbaren. Die leopardengleiche Sitte der Poro-Gesellschaft gebietet es Kinder zu fressen.
Sicher ist eine Menschenfreundlichkeit auch ohne Christentum denkbar - denkbar an konkreten Beispielen fehlt es. Am ehesten ist da noch der Islam zu nennen, die Gebote Mahomets sind verglichen mit Buddha und Meister Kong erstaunlich menschenfreundlich.

Sklaverei:
Der Unterschied zwischen Sklaven und Leibeigenen ist, dass Sklaven wie ein Stück Vieh verkauft werden können. Leibeigene konnte man nicht einfach von ihrer Familie trennen und ins nächste Bergwerk verschleppen. Leibeigene unterscheiden sich von anderen Hörigen durch besondere Abgaben und Dienstpflichten. Es gibt viele Spielarten der Erbuntertänigkeit.
Im übrigen war die Sklaverei im christlichen Abendland nicht generell verboten, lediglich das Versklaven von Christen war verboten. Ungläubige (genau wie in der islamischen Welt) versklavt werden. In Nordeuropa endete die Sklaverei, als die letzten Slawen und Balten Christen wurden. In Südeuropa, wo an heidnischen Mauren und Sarazenen keine Mangel bestand die Sklaverei teilweise ununterbrochen bis in die Neuzeit.
Mit Erschließung neue Märkte blühte die abendländische Sklaverei für 3 Jahrhunderte neu auf.

Ipsissimus
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Do 1. Dez 2011, 12:48 - Beitrag #16

Sind zeitgenössische Konkurrenten des Christentums, z.B. Zoroastrismus und Mithras-Kult, für dich keine Alternative nur im Sinne von "genauso unter anderem Namen", oder im Sinne von "nicht plausibel"?
das Christentum erhielt durch den Einfluss von Paulus eine Färbung, durch die die Religion Macht-kompatibel wurde. Prinzipiell ginge das mit jeder Religion, und insofern ist jede Religion eine mögliche Alternative. Nur dass in der Zeit der großen römischen Krise bei den von dir genannten Religionen diese Einfärbung nicht gegeben war und sie deswegen beide nicht verwendet werden konnten.

Maglor
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Do 1. Dez 2011, 20:37 - Beitrag #17

Paulus hat aus der weltfremden jüdischen Weltuntergangssekte eine panromanisch missoinierende Untergrundssekte gemacht. Der nächste Schritt zur Weltherrschaft war dann die Absorbierung hellenistisches Gedankengutes, die von den Kirchenvätern abgeschlossen wurde.

Zwischen früher Kirche und heidnischem Mysterienkult kann ich keinen machtpolitischen Unterschied erkennen. Der Unterschied ist der Alleinvertretungsanspruch des Christentum. Ein einzelner Rom konnte gleichzeitig Kultist von Isis, Attis, Elagabal, Mithras oder gleich Sol invictus sein. Die Zugehörigkeit zum Christentum schloss aber andere Klubmitgliedschaften und Mysterien aus.

Lykurg
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Do 1. Dez 2011, 21:24 - Beitrag #18

- oder allgemeiner gefaßt: eine Stärke insbesondere des römischen Polytheismus bestand darin, fremde Gottheiten bruchlos zu integrieren - man verstand sie entweder als Äquivalent bzw. Ergänzung bereits vorhandener Gottheiten oder nahm sie auf. Der Mithraskult war da wohl noch relativ eigenständig und universalanspruchsvoll, wobei wir leider keine Texte des Kultes und nur indirekte Beschreibungen christlicher Autoren haben. In manchen Details haben sich die Freimaurer später an den Mithraskult angelehnt, insofern kann man von einem gewissen Fortleben sprechen, das dann direkt auch für das Zeitalter der Aufklärung relevant gewesen wäre.

Ipsissimus
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So 4. Dez 2011, 12:06 - Beitrag #19

Zwischen früher Kirche und heidnischem Mysterienkult kann ich keinen machtpolitischen Unterschied erkennen.
wenn sich diese Aussage auf die Zeit zwischen ~33 und 313 (Mailänder Vereinbarung, sog. "Toleranzedikt") bezieht, kann ich sie nachvollziehen, der Machtanspruch ist insofern identisch, als an Macht für einzelne Religionen außerhalb des römischen Pantheons bzw. Sol Invictus nicht zu denken war, ein Anspruch also aufgrund Klugheit nicht erhoben wurde. Ab 313 verdrängte das Christentum aufgrund des Vorteils seiner Duldung sehr schnell alle anderen Religionen im Einflussbereich des römischen Imperiums, bis es 380 Staatsreligion wurde. Das war Macht in action, und nicht etwa der Einfluss religiöser Eiferer

Maglor
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So 4. Dez 2011, 21:59 - Beitrag #20

Einzelne Politiker entdeckten orientalische Religionen als politischens Instrument für sich. Den frühsten Fall bilden Marcus Antonius und Kleopatra, die sich als Dionysos und Aphrodite inszenierten. Der Kaiser Elagabal setzte auf einen syrischen Kult um einen Gott gleichen Namens. All diese Gottheiten standen eigentlich außerhalb des römischen Pantheons und wurden von konservativen Kräften entsprechend kritisiert.

Teilweise wurden diese fremden Kulte oder bestimmte Kulthandlungen auch verboten. So war zeitweise der Isis-Kult in Rom verboten. Das orientalische Gehabe einzelner Kaiser von der Nachwelt geschmäht.

Ein interessanter Punkt ist, dass die Kulte teilweise aus der gleichen Region stammen und deutliche Anklänge an die jüdische Tradition haben. So verbietet der Elagabalkult Schweinefleisch und fordert die Beschneidung.

Zwischen der Zulassung des Christentum als in aller Öffentlichkeit ausführbarer Kult und der Ernennung zur Staatsreligion und dem Verbot der heidnischen Kulte liegen gerade einmal 50 Jahre.
Interessant ist natürlich, dass die religiösen Konflikte nicht zwischen Heiden und Christen stattfinden, sondern zwischen christlichen Richtungen. Schwerwiegender als das Verbot der heidnischen Kultwar wahrscheinlich das Konzil von Nicäa. Die christliche Lehre wurden quasi im Auftrag des Kaisers geordnet und eine Art Amtskirche mit einheitlicher Lehre wurde geschaffen. Im westlichen Europa konnte sie sich die Römische Kirche relativ schnell durchsetzen und alle anderen Christentümer in Gänze zurückdrängen und vernichten. In Osteuropa und dem Nahen Osten und Afrika blieb es jedoch bei einem Flickwerk unterschiedlicher Kirche, Bekenntnisse und Theologien. Am ausgeprägtesten ist diese christliche Vielfalt in jenen Ländern unter islamischer Herrschaft, in denen das reinste Durcheinander herrscht. Nestorianer, Melkiten, Armenier, Kopten, die Kirche gibt es dort nicht.
Es scheint ab dem vierten Jahrhundert keine heidnische Partei gegeben zu haben. Die Verfolgung von Sektierern und Ketzern war ja auch viel dringender als harmloser Römer, die noch heimlich dem Jupiter opferten.

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