Numina nuda tenemus...

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janw
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Sa 24. Mär 2012, 20:46 - Beitrag #1

Numina nuda tenemus...

Als ich kürzlich wieder über den Schlussatz aus dem Namen der Rose - nomina nuda tenemus, wir haben/uns bleiben (nur) nackte Namen - nachdachte, kam mir eine Abwandlung in den Sinn, die vielleicht in der einen oder anderen Weise verstanden werden kann.

Numina nuda tenemus - wir haben/uns bleiben (nur) nackte Götter.
Was fällt Euch dazu ein?

Lykurg
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Sa 24. Mär 2012, 22:26 - Beitrag #2

Mir ziemlich wenig, fürchte ich. Der Originalsatz reflektiert den mittelalterlichen Streit zwischen Realisten und Nominalisten, der in "Der Name der Rose" eine erhebliche Rolle spielt. In dieser Abwandlung fällt das logischerweise raus. Spontan assoziiere ich natürlich des Kaisers neue Kleider. Aber 'Götter' hat im europäisch-christlichen Mittelalter keine Funktion (darüber hätte man auch wohl kaum gescherzt), das wird also auch nicht gemeint sein.

Ipsissimus
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So 25. Mär 2012, 01:59 - Beitrag #3

Numina nuda tenemus - vielleicht: uns aber bleiben die nackten Wirkungen

ist vielleicht nur eine geringfügige perspektivische Verschiebung, aber numen bezeichnet nicht Götter oder Gottheit selbst sondern deren Wirken oder Willensbekundungen. Was kann mensch sich aber unter einem nackten, einem entkleideten Wirken vorstellen? Wovon ist es entkleidet?

Im mittelalterlichen Kontext dürfte die Sache klar sein. Da ist es eine Tragödie. Aber für uns heutige?

Nun, vielleicht liegt das Mittelalter gar nicht soweit hinter uns? Wie viele Menschen mag es geben, die aufgeklärt genug sind, um zu erfassen, dass die alten, Trost und Gewissheit suggerierenden Bilder Trugbilder sind, aber trotzdem Sehnsucht nach ihnen, nach genau diesem Trost empfinden? Sie glauben im Innersten noch an göttliches Wirken, aber sie können nicht mehr guten Gewissens an die Bilder glauben. Gott wirkt, aber er wirkt gestaltlos. Dem Intellekt mag das genügen, das Gefühl fühlt sich verraten. Nackte Wirkung.

Maglor
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Mo 26. Mär 2012, 21:25 - Beitrag #4

Die Götter sind nackt und aus weißen Marmelstein, seit die allmächtige Zeit ihnen die Farbe genommen hat.

Lykurg
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Di 27. Mär 2012, 09:05 - Beitrag #5

Das kann man aber ändern.
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Ipsissimus
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Di 27. Mär 2012, 09:25 - Beitrag #6

vielleicht sind numina nuda doch gar nicht so übel^^

Traitor
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Di 27. Mär 2012, 19:33 - Beitrag #7

@Ipsissimus: "Nacktes göttliches Wirken" würde ich nicht erst nach der Aufklärung als akzeptabel ansetzen, sondern schon nach der Reformation. Ein rein intellektueller Zugang zu Gott, weniger Brimborium und, wie du sagst, weniger gefühlsmäßige Verbindung, als im Katholizismus. Sogesehen wäre es die ultimative religiöse Erfahrung, "nacktes göttliches Wirken" zu erleben, der Schritt zur Transzendenz.

Ipsissimus
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Di 27. Mär 2012, 20:07 - Beitrag #8

ich denke, die Sache ist komplizierter. Mittelalter ist ja nicht nur Scholastik, es ist auch Mystik. Und von christlichen Mystikern gibt es jede Menge Texte, in denen Vorstellungen von einer gestaltlosen Gottheit geweckt werden, am deutlichsten vielleicht in dem englischen Anonymus-Text "Die Wolke des Nichtwissens", aber in vergleichbarer Intensität auch von Eckhardt, Nikolaus von Kues, Bonaventura und vielen mehr.

Das heißt, es scheint schon immer so gewesen zu sein, dass manche Menschen das Göttliche im Gestaltlosen, Vorstellungsfreien suchen, ohne dabei aber die Dimension des Heiligen zu übergehen, während anderen das Göttliche in Bildern stärker entgegentritt, z.B. vom heiligen Herzen Jesu, Maria Himmelkönigin und was es da nicht alles gibt. Für Menschen aus der ersten Gruppe dürfte die Reformation und auch die Aufklärung keine allzu große Geschichte gewesen sein, die Logik wurde ein bisschen geschärft, das Realitätsempfinden vom Kopf auf die Füße gestellt, aber das war´s schon - das gestaltlos Heilige ist kompatibel zur Aufklärung^^ ganz anders bei denen, die zur zweiten Gruppe gehören. Nimm ihnen die Herz Jesu Bilder und die Madonnen weg, nimm ihnen vor allem die damit verbundenen Vorstellungen weg, und du verarmst ihr religiöses Leben bis zur Hölle innerer Zerrissenheit^^ wer außer den Fundamentalisten steht denn heute noch dazu, den ganzen Scheiß ernst zu nehmen? Der Intellekt macht nicht mehr mit. Aber die Bilder, ja die Bilder, die locken aus vergangener Ferne. Eigentlich tragisch^^

Traitor
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Di 27. Mär 2012, 20:43 - Beitrag #9

Die Reformation kam natürlich nicht aus dem Nichts, baute auf vorhergegangenen katholischen Strömungen auf. (Auch, wenn ich mich da nicht im Geringsten auskenne.) Dein vorheriger Beitrag schien mir aber eher auf die Rezeption in der Bevölkerung (oder zumindest der halbwegs gebildeten Schicht) bezogen, und ich denke, da wird ein abstrakter Gotteszugang erst nach der Reformation Einzug gehalten haben. Oder gab es auch zuvor schonmal (zeitlich begrenzt) auch in der Breite durchschlagende Anti-Mystik-Bewegungen, eventuell in Korrelation zur Hochphase der Gotik?

Ipsissimus
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Di 27. Mär 2012, 21:17 - Beitrag #10

nun ja, die Mystiker wurden immer recht skeptisch beäugt, der Häresie-Prozess gegen Eckehardt ist da nur einer der prominentesten Fälle. Die meisten Mystiker haben ihre Visionen wohl absichtlich so verklausuliert, dass sie in den Augen der Inquisition kompatibel zum Dogma blieben. Es war damals auch kein Widerspruch, Scholastiker und Mystiker gleichzeitig zu sein.

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Fr 30. Mär 2012, 11:20 - Beitrag #11

et tu, mi frater Jan? ^^

janw
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Fr 30. Mär 2012, 13:04 - Beitrag #12

Ich hab es erstmal auf mich wirken lassen. :-)

Zuerst mal hatte ich den Begriff des Numens mehr im Sinne einer Sammelbezeichnung für transzendente Wesenheiten verstanden, denn als deren Wirken oder Willensbekundung.
Von daher kamen mir zwei Assoziationen, zum einen "des Kaisers neue Kleider", zum anderen die Reduktion des "göttlichen Wirkraumes" durch Aufklärung und wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt.
Wir haben durch die Aufklärung und unsere Forschungen Gott/die Götter ihres Wirkbereiches "beraubt", ihnen zugesprochenes Wirken ist erklärbar geworden, in mancher Augen sind sie dadurch selbst genichtet.

Diese beiden Bilder haben aber zumindest auf den ersten Blick eine etwas gegenläufige Bedeutung - beim Kaiser geht es darum, daß er zwar objektiv nackt ist, dem Volk aber suggeriert wird, es glauben gemacht wird, er sei es nicht, im anderen Falle geht es darum, ob die "Entkleidung" Gottes/der Götter ihre Existenz selbst in Frage stellt bzw. wie angesichts ihrer "Entkleidung" doch noch an sie geglaubt werden kann von einem menschlichen Geist, der sich selbst ernst nimmt.

Dazwischen eine Art Synthese zu finden...

Fängt da vielleicht wahrer Glaube an...?

Ipsissimus
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Fr 30. Mär 2012, 13:47 - Beitrag #13

Traitor, ich bin dir noch eine Antwort schuldig geblieben, bzw. die Antwort war so verklausuliert, dass ich sie selbst nicht mehr verstehe^^

ja, es gab breite antimystische Bewegungen, die Kreuzzüge gegen die Albigenser und Katharer zum Beispiel, die Kämpfe ums Dogma während der Entstehungszeit der Bettelorden - bei weitem nicht alle hatten das Glück, anerkannt zu werden - aber auch die Hexenverbrennungen, wenn man ein bisschen unter deren Oberfläche schaut, lassen sich als solche verstehen. Wobei es in allen diesen Fällen kaum einmal einheitliche Motive gab, Auseinandersetzungen um die wahre Lehre spielten genauso ihre Rolle wie ökonomische Fragen (vor allem das Katharergebiet entlang der Pyrenäen weckte massive Begehrlichkeiten) und auch schlicht Machtaspekte. Vieles, was kirchlicherseits als Abrechnung mit einem mystischen Gottesbild à la Gnosis begründet wurde, war tatsächlich schlichte Privilegiensicherung.


Jan, ich denke noch nach^^

Traitor
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Fr 30. Mär 2012, 15:36 - Beitrag #14

Vermutlich ist "Mystik" ein zu starkes Wort, da kanonisch auf eine bestimmte theologische Tradition bezogen, die, wenn ich es richtig überblicke, fast immer außerhalb des Mainstreams stand (?). Im von mir angedachten Sinne sind aber schon Weihrauch und Heilige Mystik. ;) Der kanonische Katholizismus dürfte da eine Mittelstellung zwischen Mystik im engeren Sinne und aufgeklärtem (puritanischem?) Protestantismus einnehmen. (Mit den äußerst wunderfokussierten Spielarten des evangelikalen Protestantismus schließt sich dann quasi der Kreis.)

Mit dem frühreformatorischen Protestantismus kenne ich mich aber auch kaum aus, und was sich z.B. heutzutage "lutherisch" nennt, hat ja durchaus einige in meinem Sinne "mystische" Aspekte des Katholizismus beibehalten. Es mag also durchaus sein, dass meine unscharfe Vorstellung vom "rationalen Protestantismus" doch eher eine Rückprojektion aufklärerischer Konzepte ist und meine Anfangsthese, schon die Reformation hätte die "Entkleidung" weitgehend vollendet, recht wacklig.

@Jan: Der Gott ohne Wirken, das wäre dann im Extrem Deismus. Oder eine der vielen Spielarten reduzierter Gottesbilder, wie sie in der (primär angelsächsischen) Science-Religion-Debatte gerne gebastelt werden.

Ipsissimus
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Di 3. Apr 2012, 13:12 - Beitrag #15

Weihrauch und Kerzenlicht gehören zum Ritus^^ "Mystik" im gemeinten Sinne ist in der Tat eine explizite theologische Strömung, die von Anfang an aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zur Gnosis unter Häresieverdacht stand; viele ihrer Vertreter wurden tatsächlich in Häresieprozessen als Häretiker verurteilt und bei unterbleibendem Widerruf auch als Ketzer verbrannt. Eckhardt ist diesem Schicksal nur durch seinen natürlichen Tod entgangen.

ich würde sagen, der kanonische Katholizismus (KK) nutzt die suggestive Kraft von Bildern; in diesem Sinne hat er eher etwas mit Magie zu tun als mit Mystik. Auch steht die Mystik in vielen Details der Aufklärung deutlich näher als der KK, wenngleich ihre Grundlagen natürlich genauso unaufgeklärt sind wie die des KK. Der frühe Protestantismus unterscheidet sich äußerlich kaum vom Katholizismus seiner Zeit, und auch sein Denken war diesem noch weitgehend verhaftet. Bei den Lutheranern ist dies bis heute so.


Jan, diese Synthese ist m.E. überall dort gefunden, wo Gläubigkeit aufgrund von Glauben ans Dogma durch Gläubigkeit aufgrund persönlicher Beziehung zu Gott ersetzt oder zumindest ergänzt wurde. Diese persönliche Beziehung besagt ja, dass der Gläubige die Existenz Gottes will UND auch wahrnehmen will, mithin Gotteserweise in natürliches Geschehen bis in seine Gedanken und Gefühle hinein interpretiert. An diesem Punkt ist dann auch der Intellekt bestenfalls noch ein schwaches Gegengewicht, dient meist aber nur noch der Unterstützung der Interpretation. Nein, der wirklich Gläubige ist immun und damit im Narrenparadies der Selbstbezüglichkeit. Leid tun können einem nur diejenigen, die wirklich dazwischen gehängt sind, deren Intellekt die Willigkeit zu glauben wirklich überschreibt, aber nicht nichten kann.


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