Gurdjieff

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janw
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Sa 12. Mai 2012, 23:03 - Beitrag #1

Gurdjieff

Ich bin gestern auf Georges I. Gurdjieff gestoßen, einen Armenier, den es in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bis nach Frankreich verschlagen hat und der durch eine Sammlung armenischer Volksmusik und musiktheoretische Arbeiten sowie eine esoterische Theorie (der sog. Vierte Weg) bekannt geworden ist.

Der Bericht über ihn war ausgesprochen positiv, und so stellt sich mir die Frage, wie sein Schaffen wirklich zu sehen ist. Die Angelegenheit mit dem Vierten Weg erscheint mir als eine Vermischung der verschiedenen ensoterischen Heilslehren von Buddha über christliches Mönchtum bis zur Freimaurerei, oder ist da etwa eigenständiges Neues?

Ipsissimus
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Sa 12. Mai 2012, 23:50 - Beitrag #2

ist schon ewig her, dass ich Beelzebubs Erzählungen das letzte Mal in der Hand hatte, oder über ein Enneagramm nachgedacht habe (gut, das Enneagramm ist erst durch Oscar Ichazo wirklich bekannt geworden, aber Gurdieff hat es als erster wieder verwendet).

Ich weiß noch, dass ich Beelzebub als wirklich überflüssige Lektüre empfand - ich hatte damals schon was gegen die Vermischung ontologischer Ebenen, und für Science Fiction oder Fantasy war es definitiv zu langweilig. Das Enneagramm ist noch mal eine andere Geschichte, aber im Vergleich zum I Ging verhält es sich wie die Weisheit des Urenkels gegen die Weisheit des Urgroßvaters. Und irgendwann ist man eben darüber hinausgewachsen, seine eigene Weisheit den Gedanken anderer zu entnehmen.

Aber das ist nur eine persönliche Wertung aufgrund meiner eigenen Lebensgeschichte. Andere mögen mit dem Enneagramm sich selbst auf die Schliche gekommen sein, es ist dazu in gleicher Weise geeignet wie alle Systeme, die mit sinnstiftenden Koinzidenzien arbeiten, etwa Tarot, Astrologie oder I Ging. Es ist nur wünschenswert, die ontologischen Ebenen niemals durcheinander zu werfen, und dazu enthalten mir persönliche alle diese Systeme zu wenig Kindersicherungen^^

janw
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So 13. Mai 2012, 22:32 - Beitrag #3

Ist er irgendwie mit Castaneda zu vergleichen, hinsichtlich seines Anspruchs, seiner Wirkung, Erkenntnistiefe usw?

Ganz grundlegend war bei Gurdjieff wohl eine Kritik am "modernen Menschen", den er für durch die Rationalität sinngemäß geistig verarmt, von der geistigen Welt abgespalten hielt.

Ipsissimus
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Mo 14. Mai 2012, 00:45 - Beitrag #4

ich würde ihn eher mit Leuten wie Blavatsky oder Steiner vergleichen, zumindest von seinem Anspruch her, und auch bezgl. der Ernsthaftigkeit, mit der er den Vierten Weg etabliert hat. Castaneda oder auch Crowley sind demgegenüber zumindest aus meiner Sicht eher zweite Liga. Aber das eigentliche Problem bei der Sache ist ja ein anderes: halte ich es für möglich, dass die philosophisch-magischen Systeme, für die die genannten Personen stehen, reale Wirklichkeiten beschreiben, oder handelt es sich um eine philosophisierende Form von Fantasy. Aufgeklärt war keine/r der Fünf. Dass heißt nicht, dass sie nicht über psychoaktive Verfahren Bescheid wussten, mit denen sie ihre Anhänger beeindrucken konnten. Ob es notwendig ist, solche Verfahren in die Gewandung von spezifischen Weltinterpretationen zu kleiden, um sich von der Konkurrenz abzuheben, sei allerdings dahingestellt. Irgendwie sind das alles merkwürdige Zwitter aus Philosophie und Pseudoreligion, die genauso sehr auf die Gläubigkeit wie auf die Einsicht ihrer Anhänger abzielen.

Ich sehe Gurdieff im Kontext der großen Missionsbewegung asiatischer Religionen und Philosophien, die seit dem späten 19ten Jahrhundert aus Asien in Richtung Europa und weiter nach Amerika überschwappte. In diesem Kontext ist er sicher nicht fragwürdiger als viele andere.

janw
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Di 15. Mai 2012, 10:08 - Beitrag #5

Mit der "Missionsbewegung asiatischer Religionen" habe ich meine Probleme - sind die kaukasischen und altaischen Schamanen und die buddhistischen und hinduistischen Lehrer und Meister aufgebrochen, den Westlern ihre Wege zur Glückseligkeit nahezubringen?^^
Ich denke eher, daß es im Westen ein sich ausbreitendes Gefühl von...geistiger Leere, Bedürfnis nach einer Form von Spiritualität gab, das seitens der durch die Aufklärung und ihr eigenes Auftreten desavouirten Kirchen nicht mehr befriedigt wurde, und daß da die Fünf passende Zubereitungen angeboten haben, synkretistischen Brei, westlich abgeschmeckt.

Was, wenn Aufgeklärtheit nicht für alle Menschen etwas ist?

Ipsissimus
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Di 15. Mai 2012, 10:33 - Beitrag #6

"Halb zog sie ihn, halb sank er hin". Natürlich sind nicht alle aufgebrochen, aber - ja, natürlich, viele sind aufgebrochen oder haben ihre Schüler geschickt, sei es aus Indien, aus Tibet oder aus Japan, und genau so aus dem kaukasisch-altaisch-persischen Umfeld. Und teilweise kamen sie von selbst, teilweise wurden sie gerufen, von europäischen Reisenden in Sachen Esoterik "entdeckt" und gebeten nach Europa zu kommen. Gegen die großen esoterischen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19ten und ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts ist das, was sich heute in der Szene abspielt, bestenfalls als Kindergartenkram einzustufen, und zwar sowohl nach Quantität wie nach Qualität, Ausnahmen - etwa Ken Wilber - bestätigen die Regel.

Die Fünf sind natürlich keine Einheit, speziell Castaneda passt da gar nicht rein, er kam ja erst viel später. Aber Blavatsky und Steiner waren in der Tat davon motiviert, das Christentum durch synkretistische Erweiterungen auf eine neue Stufe zu heben, auch Gurdieff zielt auf eine Erneuerung spiritueller Kraft, ist dabei aber weniger auf das Christentum fixiert. Crowley ist einfach nur ein einflussreicher Magier - manche sagen auch, ein einflussreicher Spinner^^ - sein Thelema ist jedenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die gesamte westliche magische Tradition. Eliphas Lévy wäre in letzterem Kontext auch noch zu nennen.

Was, wenn Wirklichkeit ein überflüssiges Konzept ist? Was, wenn es nur darum geht, möglichst innig zu empfinden, ohne sich je um eine wie auch immer geartete Faktizität scheren zu müssen? Dann haben wir genau den Konflikt, den wir haben^^

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Di 15. Mai 2012, 11:36 - Beitrag #7

Aber läuft diese Entwicklung nicht darauf hinaus, daß die Geschichte von den aufgeklärten Westlern nicht einfach nur eine Geschichte ist? Wären sie aufgeklärt, würden sie nicht dem Kapital huldigen und Cola saufen^^
Sondern sich vielleicht etwas antun, weil die Leere in ihnen für die meisten von ihnen unaushaltbar ist?

Mensch, empfinde, der Du bist?^^

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Di 15. Mai 2012, 11:49 - Beitrag #8

Aus meiner Sicht müssen sich Aufklärung und Spiritualität nicht widersprechen. Nur bedarf es der Anstrengung, sie in Einklang zu bringen, das ist kein Selbstläufer. Da sehe ich die Crux des aufgeklärten Menschen, dass er diese Anstrengung nicht mehr aufbringt.

janw
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Di 15. Mai 2012, 13:09 - Beitrag #9

Könnte es sein, daß es für den unhinterfragt Glaubenden leichter ist, Glaubensinhalt mit der erlebten Gesetzmäßigkeit vieler Vorgänge überein zu bringen, als umgekehrt - weil Spiritualität ein Stück Rücknahme der Ratio bedeutet?

Aufklärung an sich eine Überforderung für viele, oder ist mit den Westlern nichts mehr anzufangen?

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Di 15. Mai 2012, 13:31 - Beitrag #10

ich denke eher, im kulturellen Erbe Europas ist Spiritualität wie selbstverständlich als Teil der Religion verankert. Dass Spiritualität eine eigene Wertigkeit zukommt, wissen die wenigsten, bzw. haben die wenigsten je erfahren. Und diejenigen, die es ahnen, hängen oft erstmal jahre- oder jahrzehntelang in esoterischem Nebel rum, ehe sie eine Ahnung bekommen, um was es wirklich geht.

Aufklärung dürfte für viele eine Überforderung sein, das ist nur eine Tünche. Aber ein paar wenige Werte hat sie doch gebracht, die bedenkenswert sind, und die wären mit ihr verloren


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