Naikan

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
janw
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Mo 28. Mai 2012, 21:46 - Beitrag #1

Naikan

Vor einiger Zeit habe ich erfahren, daß in Justizvollzugsanstalten in Niedersachsen als therapeutisches Angebot eine Technik namens Naikan angeboten wird. Sie soll Gefangenen helfen, ihre Taten und deren Auswirkungen zu begreifen und den Weg zu verstehen, durch den sie in ihrem Leben dazu gekommen sind.
Naikan soll dies erreichen, indem der Betreffende bestimmte Fragen über sein Verhältnis zu verschiedenen Bezugspersonen im Laufe seines Lebens reflektiert und beantwortet.

Ich frage mich nun, ob diese Methode erreicht, was sie verspricht, Grundlagen schafft für ein straffreies Leben, oder ob nicht irgendwelche Gründe gegen das Konzept sprechen.
Zum anderen interessiert mich natürlich^^ ein möglicher Bezug zu Zen, gibt es den, und wie steht die Methode im Vergleich da?

Ipsissimus
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Mo 28. Mai 2012, 22:16 - Beitrag #2

ich kenne Naikan nicht, hab nur gerade ein paar Texte dazu gelesen. Die Internetseite vo Neue Welt Institut - na ja, nicht berauschend, typisches New Age, aber egal

Wenn auf der Wikipedia-Seite die Quintessenz von Naikan dargestellt ist, dann fehlt etwas Essentielles. Drei Fragen, was hat er/sie für mich gemacht, was habe ich für ihn/sie gemacht, was habe ich ihm/ihr angetan. Wo ist die vierte Frage? Was hat er/sie mir angetan? Ohne diese vierte Frage läuft es auf eine Art Familienaufstellung auf Japanisch hinaus, und dabei kann eine ohnehin aus dem Gleichgewicht gebrachte Psyche nur verlieren, da werden Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle verfestigt statt gelöst.

janw
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Di 29. Mai 2012, 00:10 - Beitrag #3

Die vierte Frage fehlte mir auch, aber vielleicht lässt das die Methode für den Vollzug gerade so geeignet erscheinen - der Schuldige soll gefälligst sehen, wieviel Schuld er noch mit sich herum trägt.
Daß praktisch alles im Leben auf kommunikativen Prozessen beruht, an denen zumindest ein anderes beteiligt ist, wird lieber verdrängt.

Oder besteht der Sinn darin, daß die vierte Frage vielfach die eigene Sichtweise bestimmt und dadurch der Erkenntnis des eigenen Verantwortungsanteils im Wege steht?

e-noon
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Di 29. Mai 2012, 07:42 - Beitrag #4

Es handelt sich offenbar um eine Art kognitive Verhaltenstheorie mit emotionalen Komponenten ^^

3. Frage um die soziale Verantwortung: Dies ist meist schmerzhaft und spricht das Ehr- und Schamgefühl an. Oft kommt es bei dieser Frage zu Tränen. Sie führt dazu, aktiv die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Hierbei soll gelernt werden, sich selbst von außen zu sehen und diese Sichtweise auch auf andere Menschen zu beziehen. So soll es dem Praktizierenden möglich sein, sich besser in andere Menschen hineinzuversetzen. Eine Stärkung der sozialen Kompetenz ist die Folge.

Kein Wunder, dass Naikan aus Japan kommt. Es geht nicht darum, persönliche Traumata aufzuarbeiten, sondern darum, sozialverträglicher zu werden. Auch geht es nicht darum, konkrete Schwierigkeiten zu verändern, die einem mitunter auch von außen in den Weg gelegt werden, sondern rein darum, die eigene Haltung zu verändern und selber mehr Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, offenbar auch für die Teile, die eigentlich nicht im eigenen Handlungsspielraum liegen. Immerhin steht hier noch einschränkend:

Gibt es Hinweise auf stärkere familiäre Probleme, insbesondere eine Verstrickung des Teilnehmers mit den Schicksalen von Familienangehörigen, sollte dies zuvor mit einem Familientherapeuten geklärt werden. Oft ist eine Familienaufstellung sinnvoll, bevor mit Naikan begonnen wird.
Ist zwar etwas lapidar und wird in der Praxis sicherlich häufig wegfallen, aber das wäre immerhin ein Auffangbecken für die fehlende Frage vier: Was haben andere mir angetan?

janw
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Di 29. Mai 2012, 13:26 - Beitrag #5

Zitat von e-noon:Ist zwar etwas lapidar und wird in der Praxis sicherlich häufig wegfallen, aber das wäre immerhin ein Auffangbecken für die fehlende Frage vier: Was haben andere mir angetan?

Im Rahmen des konkreten Anwendungsraumes JVA fällt die familiäre Konfliktbearbeitung auf jeden Fall weg, und das ist IMHO ein zentraler Fehler. Denn die Fragen fangen bei der Mutter an, und bei einer unfreiwilligen Kommunikation mit Wegnahme geschätzten Gutes ist in meinen Augen beim Wegnehmer immer ein familiärer Konflikt in der Kindheit in Betracht zu ziehen.

Ipsissimus
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Di 29. Mai 2012, 14:41 - Beitrag #6

Es ist im Prinzip eine Art Familienaufstellung à la Bert Hellinger, vielleicht mit anderer Methodik, aber genauso darauf hinauslaufend, jemandem Alleinschuld aufzuerlegen. In komplexen psychischen Situationen, z.B. bei Vorliegen kindlicher Traumatisierungen, werden damit Traumen verfestigt und können sich u.U. kritisch aufladen. So züchtet man Amokläufer, zumindest aber Menschen, die unter ihrer eigenen Last kollabieren. Im Grunde gibt es nur sehr wenige Situationen, in denen ein problembewusster Mensch das freiwillig machen würde, z.B. weil ihm die Pistole auf die Brust gesetzt wird.

janw
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So 3. Jun 2012, 00:21 - Beitrag #7

Also wie geschaffen für solche Einrichtungen^^

Hellinger scheint recht beliebt zu sein für familiäre Konflikttherapien, Erzeugung einer Verletzung, um die eigentliche zu überdecken?

Ipsissimus
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So 3. Jun 2012, 15:53 - Beitrag #8

ja, wie dafür geschaffen

Hellinger war eine Zeitlang der Überguru im einschlägigen Teil der Esoterikszene, es gibt heute noch genügend Anhänger, die nichts über ihn kommen lassen. Du kennst ja Credo no. 1 der Esoterik: wenn es schief geht, ist nie der "Meister" dran schuld, sondern der Schüler trägt ohnehin die volle Verantwirtung für sich und war eben noch nicht so weit. Die Frage, warum der ach so meisterliche Meister das nicht vorher gesehen hat, wird nie gestellt, nie. Nur so ist es möglich, dass ein verkrachter Priester trotz für die Patienten kritische und gefährliche Verläufen seiner Therapie zu einem Therapeuten-Star aufsteigen konnte.

Zu den drei Fragen oben und der fehlende vierten wäre auch noch zu fragen: Wie kann denn ein Kind im Sinne dieser Frage etwas für seine Eltern tun? Indem es lieb, brav und folgsam ist und nur mit den aus Sicht seiner Eltern richtigen Kindern spielt? Ich denke, es wird ersichtlich, aus welcher pädagogischen Ecke das kommt. Das ist schwarze Pädagogik in Reinkultur.


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