kleine moralphilosophische Fragestellung

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Ipsissimus
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Fr 15. Jun 2012, 14:00 - Beitrag #1

kleine moralphilosophische Fragestellung

in Peine hat gestern ein Vater laut SPON seine 4 Kinder getötet und dann versucht, Selbstmord zu begehen; sein schriftliches Geständnis liegt vor. Der Selbstmord gelang nicht, er wurde rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht, dort liegt er derzeit im künstlichen Koma, nach wie vor in akuter Lebensgefahr. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen vierfachen Mordes. Sobald er aus dem Koma aufwacht und vernehmungsfähig ist, wird ihm die Anklage verlesen.

Frage: sollte alles getan werden, um den Mann am Leben zu halten und zu verurteilen, oder sollte man ihn sterben lassen?

janw
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Fr 15. Jun 2012, 14:37 - Beitrag #2

Nun ja, eine Tat, gleich welcher Art, hat keine Auswirkung auf die Grundrechte des Menschen, ihm nicht zu helfen wäre unterlassene Hilfeleistung.
Davon abgesehen bedeutet eine Anklage nur eine Rechtsäußerung einer staatsanwaltschaft und kein Urteil und hat demnach keine Fakten setzende Wirkung.

Zu der Tat selbst und zu der vorgesehenen Mordanklage denke ich, daß eine solche Handlung in der Regel aus Gründen im psychischen Bereich geschieht oder zumindest dadurch erheblich beeinflusst wird; dies kann auch für ein schriftliches Geständnis gelten, da auch solche Äußerungen Ausdruck der psychischen Konstitution sind, ein Schuldanerkenntnis kann z.B. aus psychischen Verdrängungsmechanismen o.ä. resultieren.
Insofern wäre das Geständnis im Strafprozess nur unter Betrachtung der anderen Umstände unter Vorbehalt als beweiserheblich zu betrachten, eine Verurteilung wegen Mordes damit nicht unmittelbar zu erwarten.

Ipsissimus
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Fr 15. Jun 2012, 14:43 - Beitrag #3

das scheint mir sehr formal gedacht^^ der Mann wollte sterben^^

Lykurg
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Fr 15. Jun 2012, 18:10 - Beitrag #4

Der Mann wollte sterben, ja - aber bei derzeitiger Rechtslage der Sterbehilfe muß man ihn nach aller medizinischer Möglichkeit retten und ihm den Prozeß machen. Der Fall zeigt auch, wie absurd das völlige Verbot der Sterbehilfe ist, wird doch mutmaßlich sein Weiterleben sowohl für ihn als auch für alle Beteiligten und Unbeteiligten zur Qual (von der Belastung für Ärzte, Krankenkassen und Steuerzahler gar nicht erst zu reden). Aber die Allgemeingültigkeit des Gesetzes läßt auch hier keine Ausnahmen zu, ohne es insgesamt infragezustellen.

janw
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Fr 15. Jun 2012, 20:38 - Beitrag #5

Ipsi, der schmale Grat zwischen wollen und meinen, nicht anders zu können...^^
Ich denke, daß man bei dem Hintergrund, einer Ehekrise, davon ausgehen kann, daß das sterben wollen Ausdruck von Hilflosigkeit ist, nicht Ausdruck freier Selbstbestimmung; ihn sterben zu lassen, hieße, die wirkende Gewalt zu legitimieren.
Allerdings führt die Hilfe dazu, daß er durch sein Überleben hinfort damit wird leben müssen, seine Kinder getötet zu haben. C'est une tragedie...

Maglor
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Sa 16. Jun 2012, 13:10 - Beitrag #6

Der Abschiedsbrief müsste eigentlich als Patientenverfügung gelten.

Lykurg
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Sa 16. Jun 2012, 15:58 - Beitrag #7

Formal nicht, einerseits weil die sich nicht auf unmittelbar bevorstehende Behandlungen beziehen soll, andererseits, weil/wenn er nicht explizit medizinische Behandlung im Sinne von lebensverlängernden Maßnahmen ablehnt. Daß er intentional in die Richtung geht, sehe ich ähnlich; aber ob man ihn einfach so interpretieren kann, weil es einem in diesem Fall geboten scheint, finde ich schwierig.

Eher schon: Jeder Abschiedsbrief bei Suizidversuch kann als Patientenverfügung gelten. Aber inwieweit ist das wünschenswert?

Ipsissimus
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Sa 16. Jun 2012, 17:01 - Beitrag #8

es geht mir bei meiner Frage eher um das Verhältnis zwischen Mitleid und Strafanspruch. Sollte man ihn aus Mitleid sterben lassen, aus dem Wissen heraus, dass er seinem Leben ein Ende setzen wollte, um sich den Konsequenzen seines Tuns nicht stellen zu müssen, oder sollte man ihn, wenn möglich, zwingen, sich den Konsequenzen seines Tuns zu stellen. Das wäre vielleicht gleich eine bessere Formulierung gewesen.

Lykurg
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Sa 16. Jun 2012, 17:09 - Beitrag #9

Ah! Aus dieser Sicht ist mir die Rechtslage gleich viel sympathischer... In diesem Sinnne könnte man ihn wohl nur im Vertrauen auf eine höhere Gerechtigkeit sterben lassen, und würde damit denen ein Unrecht tun, die dieses Vertrauen nicht teilen.

Ipsissimus
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So 17. Jun 2012, 00:09 - Beitrag #10

also nicht Mitleid über Gerechtigkeit? Strafe muss sein?

Lykurg
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So 17. Jun 2012, 08:39 - Beitrag #11

Nicht als Einzelfallentscheidung, zumindest nicht, wenn eine solche Entscheidungsfreiheit nicht vorgesehen ist. Und gäbe es die, wäre diese Entscheidung für die Ärzte eine zusätzliche Belastung, die ich nicht angemessen finde, und für die sie so nicht ausgebildet sind. Noch nicht einmal Richter treffen solche Entscheidungen.

Bei einer allgemeinen, offeneren Regelung der Sterbehilfe (die ich befürworte) sollte man sich über vergleichbare Fälle Gedanken machen. Grundsätzlich hat aber niemand das Recht, anderen (und gerade seinen Schutzbefohlenen) das Leben zu nehmen, weil es ihm selbst schlecht geht. Mein Mitleid ist in diesem Bereich gering, unabhängig von seinen persönlichen Motiven.

Maglor
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So 17. Jun 2012, 10:48 - Beitrag #12

Ggf. werden sich behandelnde Ärzte an die Angehörigen - hier natürlich die Ehefrau - wenden.

Ipsissimus
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Mo 18. Jun 2012, 12:49 - Beitrag #13

Ich weiß nicht, ob ich die Ehefrau hier entscheiden lassen wollte. Wenn sie derzeit nicht vor abgrundtiefer Trauer halb irre ist, dürfte sie vor Rachephantasien toben, beides nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine angemessene Abwägung.

Ich sehe das so: der Selbstmordversuch des Mannes ist in diesem Kontext das Eingeständnis, absolute und irreversible Scheiße gebaut zu haben, für die es im Grunde keine Entschuldigung geben kann. Er versucht, diesem Urteil zuvor zu kommen, scheitert bislang aber damit. Was würde es also bringen, ihn zurück zu holen, wenn das medizinisch noch möglich ist? Denkbare Gründe wären, dass der Wert abstrakter Gerechtigkeit so hoch angesetzt wird, dass die Selbstbestrafung des Mannes ausschließlich als illegitime Flucht aufgefasst wird, desweiteren ein sehr realer Strafgedanke an der Grenze zur Rache.

Aber vielleicht die wichtigste Frage: Er wollte sich nicht stellen, aber vielleicht hat die Frau ein Recht darauf, dass er sich ihr stellt, sehr viel später, dass er sich, abgesehen vom gerichtlichen Verfahren, vor allem vor ihr, der Mutter zu rechtfertigen hat. Das ist zweifellos eine begründete Forderung, aber gerade deswegen ist die Abwägung zwischen diesem Recht der Frau, und dem einfachen Mitleid mit einem verpfuschten Leben, das seine Konsequenzen flieht, aus meinen Augen so schwierig.

Milena
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Mo 18. Jun 2012, 18:53 - Beitrag #14

..vielleicht sollte man ihn seiner selbst wegen wieder zurückholen?
vielleicht sollte ihm selbst klar gemacht werden, was er eigentlich da getan hat und ihm die chance geben, dass ihm verziehen wird?!
und wenn ihm (von einem pfarrer oä) die sünden vergeben wurden, dann ist ihm auch leichter wirklich aus dem leben zu scheiden, oder etwa nicht?

Ipsissimus
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Mo 18. Jun 2012, 20:20 - Beitrag #15

ich weiß nicht, ob ich in der Lage wäre, mir vier Morde zu verzeihen, Schatz, oder auch nur, Angehörigen der Opfer ins Angesicht zu sehen, und sei es nur, um Entschuldigung zu sagen. Aber natürlich, das wäre eine weitere Variante, die erwogen werden muss

Lykurg
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Mo 18. Jun 2012, 21:00 - Beitrag #16

Ja, das sind gute Gründe, Milena, die Möglichkeit sollte jedenfalls erwogen werden. In jedem Fall hat er dasselbe Recht darauf, gerettet zu werden, wie jeder andere Selbstmörder, egal ob er es möchte oder nicht - die Gesellschaft ist für jeden Menschen dazu verpflichtet, gleich wie 'gut' er ist. Eine Abwägung darüber darf es nicht geben.

Die Entscheidung der Ehefrau scheidet aus, das sehe ich ähnlich.
Aber das mit dem "Eingeständnis, irreversible Scheiße gebaut zu haben", sehe ich anders. In solchen Fällen dürfte fast grundsätzlich der Suizid von Anfang an geplant sein, die Kinder werden nur 'mitgenommen'. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von "erweitertem Suizid", also klar mit Schwerpunkt auf den Täter gesehen (dessen Motive sich von Fall zu Fall unterscheiden mögen); jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß die Selbsttötung als Eingeständnis einer Schuld oder eines Fehlers im Sinne einer Reaktion auf die Kindstötung erfolgt. Die geplante Selbsttötung wird zum Anlaß der Tötung der Kinder, nicht umgekehrt.

Ipsissimus
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Mo 18. Jun 2012, 21:09 - Beitrag #17

mag sein, aber was bedeutet sein "Recht darauf, gerettet zu werden" angesichts des Umstands, dass er sterben wollte, dass er seine Rettung als Zwang erleben wird und dass dieser Zwang dazu führen wird, dass er sich für eine Tat verantworten muss, für die zu verantworten er nie die Absicht hatte?

Milena
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Mo 18. Jun 2012, 21:17 - Beitrag #18

für die zu verantworten er nie die Absicht hatte?

..und die kinder nie die absicht hatten so früh aus dem leben gerissen zu werden?!
ich finde, es ist das mindeste, was er den kindern schuldig ist...sich noch zu guter letzt zu verantworten...
auch, so wie du sagstest schnuffi, es nur ein entschuldigung wäre....

die ehefrau sollte aussen vor bleiben...
ich an ihrer stelle, wäre ausserstande noch irgendwie geistig normal denken und handeln zu können...

Ipsissimus
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Mo 18. Jun 2012, 21:41 - Beitrag #19

Er wird sich aber vor den Kindern nicht mehr verantworten können, also bleibt nur noch die Frau, die im aller weitesten Sinne noch etwas "davon haben" könnte

Milena
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Mo 18. Jun 2012, 21:46 - Beitrag #20

...mann^^,
klar nicht vor den kindern,
aber gegenüber seiner tat, gegenüber sich selbst...
ein mensch steht einer verantwortung gegenüber...und wenn, nur sich selbst...
so war das gemeint....
und auch er soll selbst etwas davon haben...
er selbst soll sich verzeihen können....

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