"Warum sollte ein Baby leben?"

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Ipsissimus
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Do 6. Dez 2012, 15:49 - Beitrag #1

"Warum sollte ein Baby leben?"

Abtreibung im dritten oder sechsten Monat - oder viel später? Zwei australische Ethiker fordern in einem Aufsatz, auch die Tötung von Neugeborenen zu erlauben - und provozieren damit heftige Reaktionen. Wie kommt jemand auf die Idee, man dürfte Babys töten?


http://www.sueddeutsche.de/leben/artikel-ueber-kindstoetung-ethiker-fordern-post-natale-abtreibung-1.1300098

Lykurg
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Do 6. Dez 2012, 16:16 - Beitrag #2

Brrr... wozu das, wenn es so viele kinderlose Paare gibt, die auf Adoption warten? Der Moment der Geburt ist doch klar genug als Schritt in die Selbständigkeit erkennbar. Alles Spätere bis zur Mündigkeit und eigenen Familiengründung sind graduelle Prozesse, und allein schon aus diesem formalen Grund - wann sollte eine spätestmögliche Grenze angesetzt werden? - ist die Geburt der Moment, ab dem eine Tötung als solche gesehen werden muß.

Maglor
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Do 6. Dez 2012, 19:48 - Beitrag #3

Dass abgetriebene Babys nicht geboren werden, ist ein großer Irrtum.
Die Föten werden getötet, anschließend wird die Geburt eingeleitet und die Leiche verlässt die Mutter auf natürlichem Wege.

Die Paradoxie ist groß.
Auf der einen Seite müssen kaum überlebensfähige Frühchen gerettet werden, während in der Entwicklung ungefähr gleich oder weiter stehende Föten beseitigt werden dürfen.

Die Notwendigkeit der Legalisierung der Kindstötung ergibt sich schon aus der Legalisierung der Abtreibung.
Wenn ein Homunkulus die Abtreibung überlebt und lebendig statt tot geboren wird, ist der behandelnde Arzt sicher in Erklärungsnot. Ein derart schwer wiegender Kunstfehler ist dennoch leicht zu beheben. Der Griff zur Keule wäre da nur recht und billig, um das begonnene Werk zu vollenden.

Ipsissimus
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Fr 7. Dez 2012, 16:30 - Beitrag #4

http://blogs.bmj.com/medical-ethics/2012/03/02/an-open-letter-from-giubilini-and-minerva/

die Erklärung wirkt unmittelbar einigermaßen beschwichtigend. Mensch lese aber bitte auch die Antwort von David Gillon

e-noon
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Fr 7. Dez 2012, 22:46 - Beitrag #5

Die Idee ist nicht neu, Peter Singer war schon vor 5-10 Jahren, als ich das letzte Mal mit dem Thema in Kontakt kam, für seine radikalen Thesen bezüglich Kindstötung selbst nach der Geburt bekannt. Das Ganze ist Schwachsinn; gefährlicher Schwachsinn.

Padreic
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Sa 8. Dez 2012, 13:29 - Beitrag #6

Die Frage bleibt: Warum sollte die Geburt die Zäsur sein, wo die Kindstötung von einer "lässlichen Sünde" zu einer schweren Straftat wird? Ein Kind im Mutterleib im neunten Monat ist sicherlich weiter entwickelt als ein Frühchen.

Der emotionale Unterschied ist klar: ein Kind im Mutterleib ist viel abstrakter als eines, das man in seinen Armen halten kann. Auch gesetzlich da eine Zäsur zu machen, ist sehr verständlich, weil das eine Grenze ist, über deren genauen Zeitpunkt man nicht debattieren kann. Aber das von allgemeineren ethischen Prinzipien aus zu begründen, ist deutlich schwieriger.

Vom Artikel der Süddeutschen her und auch von dem, an was ich mich von Peter Singer erinnere, ist deren Argumentation etwa wie folgt: Wenn wir kein Leben töten wollen, dürfen nicht abtreiben, nicht kindstöten, kein Fleisch essen (außer Aas), keine Mücken erschlagen etc. -- das wäre ein konsequenter Standpunkt, schmeckt aber vielen Leuten nicht. Also muss man begründen, warum es ethisch weniger verwerflich ist, das eine Leben zu töten als das andere, wobei dieses insbesondere übliches menschliches Leben einschließen sollte. Das kann dazu führen, dass man sagt: Es ist verwerflicher Personen zu töten als nicht personales Leben. Die beiden australischen Ethiker sehen in dieser Hinsicht das wesentliche einer Person darin gegeben, dass sie ihrer eigenen Existenz einen Wert zuschreibt. Bei Peter Singer geht es mehr darum, dass die Person Pläne für die Zukunft hegt, die durch eine Tötung vereitelt werden können. Beide Charakterisierungen haben einen gewissen Sinn; wenn ein Leben stets nur in der Gegenwart lebt, kann man fragen, was denn so schlimm daran ist, wenn ich das eine (schmerzfrei) töte und dafür vielleicht einem anderen zur Geburt verhelfe. Oder wenn es vielleicht gar kein Erleben hat, wie z. B. verbreiteter Ansicht nach ein Baum.

Man kann durchaus davon ausgehen, dass ein gerade Neugeborener (oder vielleicht auch ein extrem geistig behinderter oder seniler Mensch) diese Charakteristika einer Person nicht oder höchstens in äußerst rudimentären Maße besitzt. Zumindest nicht in größerem Maße als Menschenaffen (oder auch andere Tiere). Peter Singer kann uns also zu recht einen Speziesismus vorwerfen, wenn wir es als deutlich lässlichere Sünde betrachten, einen Menschenaffen als einen Säugling oder einen geistig Behinderten zu töten.

Vielleicht sollte man daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass es in Ordnung ist, Säuglinge, geistig Behinderte oder Senile zu töten, sondern den, dass man vorsichtiger sein sollte mit der Tötung von Menschenaffen und anderen Tieren.

Zudem kann man auch einwenden, dass ein gewisser Speziesismus durchaus in Ordnung ist, wenn man seine Ethik nicht zu abstrakt aufbaut. Die meisten Leute würden es für zulässig oder sogar angebracht halten, sich gegenüber seiner eigenen Familie in größerem Maße ethisch verpflichtet zu sehen als gegenüber anderen Leuten. Und gewissermaßen ist doch auch unsere Spezies unsere Familie. Wenn wir uns schon gegenseitig umbringen, wohin soll das führen?

Als dritten Punkt: Wir sehen in einem Menschen nicht nur das, was er ist, sondern auch das, was er war, was er sein wird (werden kann), was er sein könnte. Wir sehen in einem Säugling nicht nur das unterentwickelte Lebewesen, sondern auch die zukünftige Person unseres Zusammenlebens. Wenn wir ihn töten, töten wir in unserem Geiste auch den zukünftige "vollen Menschen". Deswegen ist es eben doch in meinen Augen auch ethisch relevant, dass das Kind im Mutterleibe abstrakter ist, denn das setzt für den Tötenden eine ganz andere Geisteshaltung voraus. Und nicht nur die Tat, sondern auch die dahinter stehende Geisteshaltung sollte bei einer ethischen Beurteilung relevant sein.

--

So, ich hoffe, das wurde jetzt nicht zu lang und unorganisiert. Mir ist es aber wichtig, dass man diese Überlegungen nicht schlicht als Schwachsinn abtut, weil man die möglichen Konsequenzen nicht mag. Die Autoren wollen eine Debatte und ein Nachdenken anstoßen, ein Nachdenken, wo man nochmal in die Grundlagen seiner eigenen ethischen Vorstellungen blicken sollte.

e-noon
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Sa 8. Dez 2012, 14:37 - Beitrag #7

So, ich hoffe, das wurde jetzt nicht zu lang und unorganisiert. Mir ist es aber wichtig, dass man diese Überlegungen nicht schlicht als Schwachsinn abtut, weil man die möglichen Konsequenzen nicht mag. Die Autoren wollen eine Debatte und ein Nachdenken anstoßen, ein Nachdenken, wo man nochmal in die Grundlagen seiner eigenen ethischen Vorstellungen blicken sollte.


Man hat leider das Gefühl, dass die Autoren nicht nur das wollen. Ich weiß nicht, ob du zusätzlich den von David Gillon geschriebenen Kommentar gelesen hat, den Ipsi in seinem Post empfahl - es bietet sich an als Hintergrundwissen hinsichtlich einer Debatte, die weit mehr anstößt als akademische Gedankenexperimente und ethische Reflexionen.

Natürlich ist es wichtig, dass man diese Überlegungen nicht deswegen als Schwachsinn abtut, weil man die möglichen Konsequenzen nicht mag. Es ist zwar ein gewichtiger Hinweis - die reductio ad absurdum ist immer noch ein nützliches Argument, und die Folgen, dh. die Tötung von Neugeborenen oder gar Kleinkindern, senilen Menschen, Behinderten, in Konsequenz dann auch Depressiven, chronischen Schmerzpatienten und zuletzt auch Schlafenden (im Schlaf kein Bewusstsein, keine Pläne -> keine Person), sind hoffentlich den meisten zuwider. Aber natürlich ist es weit hilfreicher, zu sehen, dass bei aller scheinbaren logischen Notwendigkeit der Folgerungen Peter Singer und seine Anhänger auf Axiomen aufbauen, die in sich schon zu gefährlich und willkürlich sind, um sie zu akzeptieren.

Da wäre zunächst einmal der Utilitarismus - in seiner humanistischen Form noch wohltuend, indem für die Menschheit ein möglichst großes Wohlbefinden angestrebt wird -, der in seiner biologistischen Form absurd wird. Wenn Glück das höchste Gut ist... aber wieso sollte es das sein, und wessen Glück steht im Fokus? Dieses erste WENN gilt es zurückzuweisen, wenn man sich nicht auf eine logische Argumentationskette einlassen will, die zu den oben genannten Konsequenzen führen kann. Glück ist NICHT das höchste Gut; es mag zwar das sein, wonach die Menschheit strebt, und wenn sie ihre sonstigen Werte verwirklicht, hat sie auch gute Chancen, es zu erhalten; aber der Mensch selbst sollte einen Wert zugesprochen bekommen, der höher liegt als das Glück der Massen, da sich meines Erachtens nur auf Grundlage des Respekts vor dem Individuum eine menschenwürdige, freiheitliche und glückliche Gesellschaft aufbauen lässt. Die Würde des Menschen wäre somit ein mindestens ebenso hohes Gut wie sein Glück, und somit wären alle Erwägungen, die den Mord an Individuen ethisch günstig erscheinen lassen, hinfällig - der Respekt vor dem Wert des Menschen verbietet sie. Selbst der Tyrannenmord ist, wiewohl ethisch gerechtfertigt, in diesem Wertesystem niemals die optimale Lösung, mit der alle zufrieden sein sollten, sondern die ultima ratio.

Aber sagen wir einmal, da es ja angeblich um akademische Spielereien geht, der Utilitarismus wäre das Konzept der Wahl, und man sähe sich vor der Aufgabe, ungeachtet jeder individuellen Wünsche und Bedürfnisse das größte Glück für die größte Zahl zu produzieren. Es gäbe keine andere ethische Richtlinie als das, und man würde sich wohl dabei fühlen, die Maßnahmen durchzusetzen, egal, ob sie für Einzelne den Tod, Folter, Verlust von Angehörigen oder ähnliches bedeuten würden. Selbst, wenn dies alles zuträfe, würde sich logisch noch nichts ergeben, sondern man müsste erst zwei Fragen klären, die das gesamte System entscheidend beeinflussen:

1. Für wen möchte ich das größte Glück erreichen, dh. wer ist Ziel der Maßnahme und wer kann beliebig als Mittel eingesetzt werden?

und

2. Was ist Glück? Wer legt fest, ob jemand glücklich ist oder nicht?

Ich werfe den Bioethikern um Singer vor, dass sie die erste Frage in grotesker Weise beantworten und die Klärung der zweiten Frage völlig für sich beanspruchen, obwohl es sich um eine Frage handelt, die höchst individuell beantwortet werden muss und niemals von außen festgelegt werden kann, häufig nicht einmal von innen mit letztlicher Sicherheit. Ganz sicher ist sie nicht in einem biologistischen Sinne an äußere Faktoren geknüpft - im Sinne einer mathematischen Funktion wie gesund -> glücklich, krank -> unglücklich. Hier darf, meines Erachtens, ethische Empörung einsetzen: Die Artikelschreiber gehen selbstverständlich davon aus, dass Behinderte Menschen unglücklicher sind, weniger am Leben teilhaben, weniger wichtig für das Glück der Masse sind. Solches Gedankengut, von akademischen Menschen geäußert, kann nur empören; denn in einem unsicheren Feld wie dem persönlichen Glück, in dem Raten und Menschenkenntnis bisher die einzigen einigermaßen verlässlichen Instrumente sind, einer ohnehin schon durch vieles benachteiligten Gruppe willkürlich weniger Glück zuzusprechen, ist unreflektiert oder bösartig.

Die erste Frage ist auch unbeantwortet, auch dort werden scheinbar logisch zwingend ein paar passende Axiome untergejubelt. Wir sind Menschen. Was für eine Ethik wir uns aussuchen, kann dem Universum erst einmal egal sein. Niemand zwingt uns, irgendwelche Lebewesen als lebenswert anzuerkennen; angesichts unserer Entwicklung und Lebensumstände kann man nicht erwarten, dass wir alle Lebewesen als lebenswert anerkennen, denn wir selbst leben ausschließlich von Lebewesen. Wir müssen töten, um zu überleben; nun stellt sich die Frage, was wir töten. Auf Bakterien und anderes Gewusel haben wir keinen Einfluss. Ameisen und Mücken werden von den wenigsten vermisst. Anthropozentrisch, wie wir sind, nehmen wir also eine Abstufung von Lebenswert gemäß Menschenähnlichkeit vor: Je menschenähnlicher, desto größer die Skrupel, ein Lebewesen zu töten. Wir folgen hierin in erster Linie unserem Instinkt.
Dieser Instinkt sagt aber nicht ausschließlich, dass das, was dem erwachsenen Menschen näher kommt, besser ist. Im Gegenteil: Wir haben auch den gegenteiligen Instinkt. Was klein, süß, harmlos, unschuldig, hilflos ist, das ist ebenfalls besonders schützenswert. Wir schützen unsere Jüngsten, und wir schützen unsere Welpen, Kätzchen, Kaninchen (wenn wir sie nicht gerade essen). Will man sich schon biologistisch orientieren - und letztlich ist ja die Konzentration auf personales Leben als höchsten Wert anthropozentrisch und instinktgesteuert - dann sollte man auch den Beschützerinstinkt mit einbeziehen, der uns sagt, dass zwar Personen den höchsten Wert haben, dass es aber besonders verwerflich ist, ohne Not wehrlose menschenähnliche Wesen zu töten.
Man könnte sich ebenfalls klarmachen, dass Menschen als soziale Wesen agieren und leben müssen. Resultierend aus ihrer graduell unterschiedlichen Hilflosigkeit sind gerade Behinderte und kleine Kinder besonders fest in soziale Netze eingebunden - sie könnten oft ohne diese nicht überleben. Somit würde ihr Schaden oder gar ihre Tötung aufgrund (ich betone es gerne noch einmal: völlig willkürlicher) abstrakter Nutzenüberlegungen wenn nicht bei ihnen, so doch gerade in ihrem Umfeld erheblichen Schaden anrichten.

Auch könnte man sich fragen, was denn den größeren Nutzenzuwachs bringt: Eine Maßnahme, die bei einer ohnehin schon sehr zufriedenen Person eine kleine Freude über einen neuen Flachbildschirm, Nagellack oder den zweiten Porsche auslöst, oder aber eine Maßnahme, die in einem leidenden Menschen eine intensive Linderung auslöst, somit einen intensiven Glückszuwachs. Ich behaupte, letzteres. Wenn es nicht darum geht, eine möglichst große Zahl von Individuen glücklich zu machen, sondern darum, ein abstraktes Glückziel zu erreichen, dann wäre es wohl rational und ethisch vertretbar, die glücklichste Stadt der Welt (z.B. Hamburg?) zu finden, ihr alle Reichtümer und Dienste zu Füßen zu legen und den Rest der Menschheit einem schnellen und schmerzfreien Exitus zuzuführen. Die Glück/Personenanzahl-ratio wäre dann extrem hoch, und man könnte sogar noch einen Bioethiker am Leben lassen, der sich dann dumm und dämlich freuen könnte über die erstaunlichen Resultate seiner rationalen und logisch widerspruchsfreien Ethik.

Padreic
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So 9. Dez 2012, 02:02 - Beitrag #8

@e-noon:
Es mag durchaus sein, dass das Schreiben des Artikels letztlich unethisch war, weil sie ein solch großes Echo ausgelöst haben und manche Leute in ihren (verabscheuungswürdigen) Ansichten und Taten bestärkt haben. Tatsächlich hat mich die Schilderung David Gillons der Lage in England durchaus bestürzt. Ich hoffe, ich handle selbst nicht unethisch, wenn ich aber betonen will, dass der eigentliche Gehalt der Argumentation erstmal davon losgelöst zu betrachten ist.

Ich verlinke hier nochmal den Artikel direkt, was manche Fragen bereits klären sollte. Insbesondere, dass die Artikelschreiber keineswegs behaupten, dass behindertes Leben unwert oder per se unglücklich sei. Sie nennen nur Beispiele für Gründe, warum eine Mutter ihr Kind töten wollen könnte und nehmen dies Gründe aus der Praxis der Abtreibung. Insbesondere gibt es nirgendwo im Artikel auch nur der Ansatz einer Rechtfertigung einfach jemanden zu töten, nur weil er behindert ist!

Auch wenn sie es nicht explizit machen, liegen natürlich irgendwo utilitaristische Gedanken hinter ihrer Argumentation - dies aber letztlich nur in einer milden Form. Keineswegs beruhen sie auf einer kompletten präzisen Theorie des Utilitarismus, wogegen sich deine Argumente richten. Es ist mehr: es ist besser, wenn jemand glücklicher ist.
Dass eine nicht-Person keine moralischen Rechte hat, ist eine eher von utilitaristischer Sicht abgelöste Behauptung, die aber natürlich gut in den Kontext passt. Es ist eben das Argument der "Austauschbarkeit", das ich in meinem letzten Post schon skizzierte und auch in dem Artikel vorkommt. Es gibt natürlich Ethiken, z. B. auf Basis einer unsterblichen Seele und ähnlichem, die mit solchen Behauptungen nicht kompatibel sind.

Und ich stimme dir zu, dass jede Ethik und jede Anschauung, die wir vorbringen, eine anthropozentrische Komponente hat. Doch muss man schon sagen, dass das Personen-Argument recht abstrakt funktioniert und insbesondere nicht nur Menschen und nicht alle Menschen einschließt und deshalb weniger anthropozentrisch ist als viele andere Ethiken. Die Argumentation der Artikelschreiber ist ja gerade nicht biologistisch. Warum Menschen per se mehr Wert sein sollten als andere Lebewesen, leuchtet mir nicht ein; unsere Instinkte sind dafür keine Rechtfertigung. Das ist nur eine idealisierte Beschreibung des ethischen Ist-Zustands. Das Personen-Argument könnte zumindest potentiell nicht-menschlichen Kreaturen plausibel sein, das Menscheähnlichkeitsargument wohl kaum.

Als letztes möchte ich aber auch anmerken, dass mir der "kalte" Ton, in dem der Artikel über Kindstötung schreibt, auch übel aufstößt. Wenn er bloß akademisch gemeint ist oder gar nur anderer Leute Argument ad absurdum führen will, sollte das stärker durch den Text durchscheinen.

e-noon
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So 9. Dez 2012, 12:35 - Beitrag #9

Zitat von Padreic:Insbesondere, dass die Artikelschreiber keineswegs behaupten, dass behindertes Leben unwert oder per se unglücklich sei.


Zitat von Guibilini & Minerva:Euthanasia in infants has been proposed by philosophers (3) for children with severe abnormalities whose lives can be expected to be not worth living and who are experiencing unbearable suffering.


Zitat von Guibilini & Minerva:it is reasonable to predict that living with a very severe condition is against the best interest of the newborn


Zitat von Guibilini & Minerva: It might be maintained that ‘even allowing for the more optimistic assessments of the potential of Down’s syndrome children, this potential cannot be said to be equal to that of a normal child’. (3)


Vielleicht interpretiere ich vorschnell, aber es will mir doch scheinen, als würde pauschal Babies mit schweren Behinderungen das Potential zu einem guten Leben abgesprochen. Ich könnte es verstehen, wenn sie es explizit auf die wenigen Behinderungen bezögen, in denen das Kind nach wenigen Tagen unweigerlich stirbt und vorher nur unter Schmerzen leidet, da es nicht schlucken oder seine Körpertemperaturen nicht regulieren kann. Aber pauschal alle schweren Behinderungen abzukanzeln als nicht lebenswert...

Fußnote 3 bezieht sich direkt auf Peter Singer]Accordingly, a second terminological specification is that we call such a practice ‘after-birth abortion’ rather than ‘euthanasia’ because the best interest of the one who dies is not necessarily the primary criterion for the choice, contrary to what happens in the case of euthanasia.[/QUOTE]

Die ganze Gefühlskälte, wie du sagst, aber auch das völlig unreflektierte Behaupten höchst anzweifelbarer Thesen mit logisch/mathematischem Vokabular ("By showing that (1) both fetuses and newborns do not have the same moral status as actual persons"), trägt nicht dazu bei, den Artikel erträglicher zu machen... und beißt sich auf merkwürdige Weise mit der bewussten Verwendung von "she" statt "he" an einigen Stellen, die sich auf das Neugeborene beziehen.


Inhaltlich zweifelhaft finde ich auch folgende Behauptung, auf der ja der gesamte Artikel aufbaut:
Zitat von Guibilini & Minerva:It [the newborn] might start having expectations and develop a minimum level of self-awareness at a very early stage, but not in the first days or few weeks after birth.

Was sind denn diese Erwartungen, die das Kind nach mehreren Wochen entwickelt, aber zum Zeitpunkt der Geburt nicht hat? Meines Erachtens ist, bedingt durch die Rückmeldungen des Kleinen, sehr klar, dass auch ein Neugeborenes schon Erwartungen hat: Körperkontakt mit der Mutter]In these cases, since non-persons have no moral rights to life[/QUOTE] Hier wird vielleicht am deutlichsten, wie unreflektiert und gleichzeitig gefährlich die Thesen sind. Für "non-persons" lässt sich im Grunde alles einsetzen; stark Demenzkranke sicherlich, stark geistig Behinderte, Komapatienten... aber auch beliebigen Minderheiten (oder sogar Mehrheiten) hat man schon den Personenstatus abgesprochen...

Und natürlich führt diese Argumentation dazu, dass jegliches Interesse von Außenstehenden höher bewertet wird als das Leben von "Nicht-Personen". Die einfachste und meines Erachtens auch respektvollste Alternative wäre, dem Leben an sich einen Wert zuzusprechen, ebenso, wie man der Schmerzfreiheit in der Regel einen Wert zuspricht; somit müsste man begründen, warum man jemanden tötet, und nicht begründen, warum man jemanden nicht tötet. Und es müsste schon eine sehr gute Begründung sein, wenn man den Wert des Lebens hoch genug ansetzt.

Lykurg
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So 9. Dez 2012, 12:53 - Beitrag #10

Sehr schöne Darlegung, e-noon - danke!

Padreic
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So 9. Dez 2012, 14:11 - Beitrag #11

@e-noon:
Ich stimme dir zu, dass die Autoren einen Ton anschlagen, der naheliegt, dass sie behindertes Leben tendentiell für weniger lebenswert halten als nicht-behindertes. Um die gute Diskussionskultur zu wahren, möchte ich dich aber bitten, nicht aus dem Zusammenhang zu zitieren. Ein größerer Abschnitt, aus dem die Zitate genommen wurden:

Euthanasia in infants has been proposed by philosophers 3 for children with severe abnormalities whose lives can be expected to be not worth living and who are experiencing unbearable suffering.

Also medical professionals have recognised the need for guidelines about cases in which death seems to be in the best interest of the child. In The Netherlands, for instance, the Groningen Protocol (2002) allows to actively terminate the life of ‘infants with a hopeless prognosis who experience what parents and medical experts deem to be unbearable suffering’. 4

Although it is reasonable to predict that living with a very severe condition is against the best interest of the newborn, it is hard to find definitive arguments to the effect that life with certain pathologies is not worth living, even when those pathologies would constitute acceptable reasons for abortion. It might be maintained that ‘even allowing for the more optimistic assessments of the potential of Down’s syndrome children, this potential cannot be said to be equal to that of a normal child’. 3 But, in fact, people with Down’s syndrome, as well as people affected by many other severe disabilities, are often reported to be happy. 5

Nonetheless, to bring up such children might be an unbearable
burden on the family and on society as a whole, when the state
economically provides for their care. On these grounds, the fact
that a fetus has the potential to become a person who will have
an (at least) acceptable life is no reason for prohibiting abortion.
Therefore, we argue that, when circumstances occur after birth
such that they would have justified abortion, what we call
after-birth abortion should be permissible.

Der Satz "But, in fact, people with Down's syndrome, as well as people affected by many other severe disabilities, are often reported to be happy." sagt doch, dass sie keinesfalls sagen, dass Behinderte unglücklich sein müssen. "It might be maintained..." ist was anderes als zu sagen "Das ist so.". Der letzte Absatz macht dann noch einmal klar, dass ihr Punkt ein ganz anderer ist. Nicht das zukünftige Wohl dieses konkreten Kindes ist für sie entscheidend (da es noch keine Person ist), sondern nur das Wohl von schon aktuellen Personen.

Nebenbei halte ich es keineswegs für eine abstruse These, dass das Leben eines Behinderten tendentiell weniger lebenswert ist als das eines nicht-Behinderten. Genauso wie das eines chronischen Schmerzpatienten, eines einsamen Menschen etc. Man kann einfach mal sich selber oder andere fragen, ob sie das für genauso lebenswert und gut hielten wir ihr jetziges Leben. Das heißt nicht im geringsten, dass es einfach ok ist, diese Leute zu töten oder dass es nur zu ihrem besten ist. Wenn das Leben ein bisschen weniger lebenswert ist, heißt es ja nicht, dass es überhaupt nicht lebenswert ist. Und für einen konkreten Fall kann man von diesen allgemeinen Tendenzen sowieso nicht urteilen.

Was sind denn diese Erwartungen, die das Kind nach mehreren Wochen entwickelt, aber zum Zeitpunkt der Geburt nicht hat? Meines Erachtens ist, bedingt durch die Rückmeldungen des Kleinen, sehr klar, dass auch ein Neugeborenes schon Erwartungen hat: Körperkontakt mit der Mutter; Wärme; eine freundliche Umgebung, Streicheleinheiten, Zuwendung; und natürlich Nahrungsaufnahme.
Ich bin sicherlich kein Experte für Babypsychologie, aber möchte das folgende bemerken: Es ist etwas anderes, Erwartungen, dass X, zu haben oder beim Fehlen von X zu leiden. Letzteres gilt für eine sehr große Klasse von Tieren auch (extrem interpretiert sogar für Pflanzen). Ersteres erfordert eine gewisse Abstraktionsleistung, insbesondere einen expliziten Zukunftsbezug. Und um diesen expliziten Zukunftsbezug geht es den Autoren ja gerade.

Hier wird vielleicht am deutlichsten, wie unreflektiert und gleichzeitig gefährlich die Thesen sind. Für "non-persons" lässt sich im Grunde alles einsetzen; stark Demenzkranke sicherlich, stark geistig Behinderte, Komapatienten... aber auch beliebigen Minderheiten (oder sogar Mehrheiten) hat man schon den Personenstatus abgesprochen...
Das Argument kannst du immer bringen, wenn ich bestimmten Klassen von Lebewesen das moralische Recht zu leben abspreche. Der Personenbegriff der Autoren ist aber relativ bestimmt; stark Demenzkranken, stark geistig Behinderten und Komapatienten kann man vielleicht den Personenstatus absprechen, nicht aber einfach irgendeiner Minderheit. "Kann" im Sinne eines sachlichen Arguments. Dass ein Argument unsachlich angewendet werden könnte, ist zwar ein Grund zur Vorsicht, aber kein Argument gegen dieses Argument.

Und natürlich führt diese Argumentation dazu, dass jegliches Interesse von Außenstehenden höher bewertet wird als das Leben von "Nicht-Personen". Die einfachste und meines Erachtens auch respektvollste Alternative wäre, dem Leben an sich einen Wert zuzusprechen, ebenso, wie man der Schmerzfreiheit in der Regel einen Wert zuspricht; somit müsste man begründen, warum man jemanden tötet, und nicht begründen, warum man jemanden nicht tötet. Und es müsste schon eine sehr gute Begründung sein, wenn man den Wert des Lebens hoch genug ansetzt.
Wir töten aber dauernd Leben. Es ist gut, wenn man begründen muss, warum man tötet, aber irgendwo muss man eine Grenze ziehen, was man töten darf (oder wo es zumindest eine lässliche Sünde) und wo es eine schwere Sünde/eine schwere Straftat ist. Selbst wenn man pflanzliches und tierisches Leben für den Moment ausklammern, sind doch viele Leute dafür (vielleicht sogar die meisten Deutschen), dass man unter Umständen auch menschliches Leben töten darf: ich rede von Embryonen und Föten, mithin von Abtreibung. Bist du generell und strikt gegen Abtreibung (außer vielleicht im Falle, dass die Gesundheit der Mutter stark gefährdet ist)? Die Frage ist hier wesentlich.

Ich denke, egal, was man von verschiedenen Details, Tönen, Hintergründen etc. des Artikels hält, stellt er zumindest die folgende Frage: Wenn man Abtreibung für eine lässliche Sünde hält, wo zieht man dann die Grenze? Warum gerade die 14. Woche und dann nochmal die Geburt? Warum nicht genauso gut drei Tage oder wieviel auch immer nach der Geburt?
Wenn man Kindstötung so grausig findet wie ich, muss man sich fragen, ob es nicht geboten ist, Spätabtreibungen auch unter wesentliche Strafe zu stellen, selbst wenn die Mutter bescheinigt bekommt, dass sie sonst seelische Schäden bekommt.

Traitor
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So 9. Dez 2012, 14:15 - Beitrag #12

Prinzipiell sehe ich das wie Padreic, mit "Brrr..." oder "gefährlicher Schwachsinn" macht man es sich viel zu leicht. Inhaltlich stehe ich dem natürlich genauso ablehnend gegenüber, aber argumentativ muss man das schon sehr viel genauer angehen. Mindestens so sehr, wie e-noon es zuletzt versuchte, lieber aber noch deutlich genauer.

e-noon, vor allem halte ich aus hoffentlich offensichtlichen Gründen sehr wenig von deinem Ansatz "wenn es möglich ist, aus einem Axiomensystem, das ein Axiom A enthält, mit einer langen Argumentationskette und zusätzlichem nichtaxiomatischem Input Folgerung B zu erhalten, und B falsch (oder auch nur absurd) ist, dann ist A abzulehnen".

Die ersten drei von dir zitierten Sätze werden übrigens direkt danach mit einem "but" ausgehebelt, an sich akzeptieren sie vollauf, dass auch behinderte Kinder wertvolle Leben führen können. Die auf diesen Aspekt fokussierte öffentliche Debatte ist also am Artikel vorbei.

Entscheidend wird es eher kurz danach:
Nonetheless, to bring up such children might be an unbearable burden on the family and on society as a whole, when the state economically provides for their care. On these grounds, the fact that a fetus has the potential to become a person who will have an (at least) acceptable life is no reason for prohibiting abortion.
Das Wohl des einzelnen Kindes ist ihnen also ziemlich egal, es geht nur um die Familien- und Gesellschafts-utilitaristische Perspektive. Da greift deine Kritik dann durchaus, aber siehe obige Fundamentalkritik, so einfach geht es nicht.

Der Blogeintrag erscheint mir als ziemlich billige Ausflucht, wie Gillon korrekt antwortet, müssten zu einem so kontroversen Thema selbst in einem Fachartikel zumindest ein paar mehr einschränkende Kommentare von vornherein eingebaut sein. Ansonsten fand ich seinen Kommentar zu Alltagserlebnissen Behinderter aber "Thema verfehlt".

PS @ e-noon: Du scheint Utilitarismus mit Hedonismus gleichzusetzen, Utilitarismus kann aber durchaus auch andere Krtierien als (nur) Glück verwenden.

Maglor
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So 9. Dez 2012, 15:03 - Beitrag #13

Die Sache ist gefährlich, da sie die zentrale Dogmen des Humanismus angreift. Die Argumente hinterfragen die Gleichwertigkeit der Menschen.

Ansonsten ist keine Debatte um Euthanasie sondern eine um Eugenik, aber Euthanasie ist ja ohnehin ein altbekannter Euhpemismus für Eugenik.

Die Provakateure habe eine für bequeme Position gewählt. Sie postulieren die moralische Gleichwertigkeit der Neuegeborenentötung mit der Spätabtreibung. Eine moralische Begründung oder Ablehnung der Abtreibung, die darüber hinaus geht, dass sie eben juristisch erlaubt ist, liefern sich. Es ist daher eine Position, die keine ist

e-noon
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So 9. Dez 2012, 15:20 - Beitrag #14

Inhaltlich stehe ich dem natürlich genauso ablehnend gegenüber, aber argumentativ muss man das schon sehr viel genauer angehen.

Ich denke nicht, dass man auf jeden Quatsch argumentativ penibel eingehen muss, aber in diesem Fall tue ich das ja.

Es geht mir nicht um Fundamentalkritik, sondern darum, dass in einem utilitaristischen Gefüge, wie es von Singer und meines Erachtens den Artikelschreibern offenbar vertreten wird, Axiome aufgestellt werden, aus denen dann gefolgert wird, und die Folgerungen werden als logisch dargestellt, sodass die Schreiber sich hinter ein "tut mir leid, aber wenn man das ganze emotionslos betrachtet, stellt sich diese Frage eben" zurückziehen, ohne einzugestehen, dass ihre Axiome schon eine starke Wertung enthalten, die keineswegs emotionslos oder logisch gewählt wurde, sondern aus einem spezifischen Wertesystem erfolgt.

vor allem halte ich aus hoffentlich offensichtlichen Gründen sehr wenig von deinem Ansatz "wenn es möglich ist, aus einem Axiomensystem, das ein Axiom A enthält, mit einer langen Argumentationskette und zusätzlichem nichtaxiomatischem Input Folgerung B zu erhalten, und B falsch (oder auch nur absurd) ist, dann ist A abzulehnen".

Lass den zusätzlichen nichtaxiomatischen Input weg, und ich finde, man erhält ein sehr vernünftiges Kriterium für die Bewertung von Axiomen. Wenn aus mehreren Prämissen, die ich aufstelle, logisch gültig folgt, dass ich meine Oma umbringen muss, dann muss mindestens eine der Prämissen falsch sein. Ich könnte das noch näher ausführen, aber ich denke, das liefe auf Wortklauberei hinaus.

Das "But", das du offenbar als Negation des Vorhergesagten siehst, leitet für mich einen Einwand ganz anderer Art ein. Singer sagt, dass Kinder mit Behinderungen per se ein geringeres Potential haben; hier ist, denke ich, der Nutzen für die Gesellschaft gemeint. Aber, so die Artikelschreiber, wenn die Kinder auch unnützer sind als wir Normalen, so sind sie zumindest für sich selbst glücklich; trotzdem sind sie aber eine Bürde für ihre Eltern und die Gesellschaft, und man sollte sich gut überlegen, ob man sie nicht nach der Geburt tötet.

Welche der darin dargestellten Haltungen findest du harmlos, oder besonders erwägenswert? Und über welchen dieser Sätze würdest du dich als Behinderter besonders freuen?

Ansonsten fand ich seinen Kommentar zu Alltagserlebnissen Behinderter aber "Thema verfehlt".

Wenn es sich um einen Schulaufsatz handelte, vielleicht, aber es geht um das konkrete Leben in einer konkreten Gesellschaft, das durch solche akademischen Experimente, die auf eine breite Resonanz in einigen Gesellschaftsteilen treffen, wesentlich beeinträchtigt wird.

Es ist ein kleiner Schritt von "Normale kosten weniger" zu "Behinderte werden abgetrieben". Es ist sogar ein kleiner Schritt von "Jungen kosten weniger" zu "Mädchen werden abgetrieben", wie dies in China und Indien geschieht. Von dort ist es ein kleiner Schritt von "Mädchen werden abgetrieben" zu "Mädchen werden nach der Geburt getötet", wie dies ebenfalls tausendfach geschieht. Dieser Einstellung unter Berufung auf "nicht zumutbare Belastungen" der Gesellschaft Vorschub zu leisten, finde ich, so akademisch ansprechend es für manche Leute sein mag, gefährlich und unverantwortlich.

Nebenbei halte ich es keineswegs für eine abstruse These, dass das Leben eines Behinderten tendentiell weniger lebenswert ist als das eines nicht-Behinderten. Genauso wie das eines chronischen Schmerzpatienten, eines einsamen Menschen etc. Man kann einfach mal sich selber oder andere fragen, ob sie das für genauso lebenswert und gut hielten wir ihr jetziges Leben.

Das ist eben nicht per se so, sondern kommt auf das Axiomensystem des/derjenigen an, was auch der Grund ist, warum ich wiederholt darauf zurückkomme. Es ist NICHT gegeben, plausibel, oder zwingend, dass mein Leben weniger lebenswert ist, weil ich traurig bin oder krank. Es mag die Lebensqualität beeinträchtigen, es mag bewirken, dass ich weniger häufig glücksstrahlend durch die Gegend laufe... aber wieso sollte daraus folgen, dass mein Leben weniger wert ist als das anderer? Es geht nicht einmal darum, dass auch Leute im Rollstuhl noch mehr Einfluß auf die Gesellschaft haben können als zehn gesunde Menschen (man denke an Stephen Hawking, Christopher Reeve und viele andere) - sondern darum, ob man gewillt ist, den grundsätzlichen Wert des Menschen in eine Kosten-Nutzen-Rechnung zu stellen, ohne zu wissen, ob man nicht selbst einmal auf der Kostenseite stehen wird, und ohne zu sehen, welche Folgen eine solche Einstellung gegenüber ungeborenem Leben für bereits real existierende Personen hat.

Zitat von Padreic:Wir töten aber dauernd Leben. Es ist gut, wenn man begründen muss, warum man tötet, aber irgendwo muss man eine Grenze ziehen, was man töten darf (oder wo es zumindest eine lässliche Sünde) und wo es eine schwere Sünde/eine schwere Straftat ist.


Kommt mir bekannt vor:

Zitat von e-noon:Niemand zwingt uns, irgendwelche Lebewesen als lebenswert anzuerkennen]

Zitat von Padreic:Selbst wenn man pflanzliches und tierisches Leben für den Moment ausklammern, sind doch viele Leute dafür (vielleicht sogar die meisten Deutschen), dass man unter Umständen auch menschliches Leben töten darf: ich rede von Embryonen und Föten, mithin von Abtreibung. Bist du generell und strikt gegen Abtreibung (außer vielleicht im Falle, dass die Gesundheit der Mutter stark gefährdet ist)? Die Frage ist hier wesentlich.

Es geht aber in der Debatte nicht darum, welches Leben man töten darf, sondern darum, welchem Leben man Wert zuschreibt. Ich finde, ein ungeborenes Kind hat ebenfalls einen hohen Wert]dürfen[/I] beziehe ich persönlich nicht aus der Abwägung des Eigeninteresses gegenüber dem des Kindes (man darf ja auch nicht fremde Babies einfach so abtreiben, wenn absehbar ist, dass sie einen stören werden), sondern aus der Selbstbestimmung eines Menschen über seinen eigenen Körper. Da Babies nun einmal im Bauch der Mutter wachsen, sind sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Gnade oder Ungnade ausgeliefert. Die Natur hat es so eingerichtet, man muss sich arrangieren, und meines Erachtens darf jeder Mensch ablehnen, was in seinem Körper wächst. Selbst wenn eine erwachsene Person, der klügste und beste Mensch auf Erden, nur überleben könnte, wenn er sich an meinen Körper anschlösse, hätte er darauf keinen Anspruch. Man hat also nicht die Berechtigung, das Kind zu töten, sondern nur die Berechtigung, es aus seinem Körper zu entfernen; unter einem gewissen Alter stirbt es dabei aber notwendig. Das ist leider so. Dieses Alter ist daher für mich die natürliche Grenze; sobald ein Kind außerhalb des Mutterleibs lebensfähig ist, hat die Mutter immer noch das Recht zu sagen "mir reicht's, holt es raus", aber sie müsste sich dann auf Kaiserschnitt oder künstliche Wehen einlassen und hätte kein Recht, das Kind während dieses Vorgang oder danach töten zu lassen. Es würde dann eben zur Adoption freigegeben. Niemand hat in meinen Augen das Recht, ein Baby aus eigennützigen Motiven zu töten.

Zitat von Padreic:Es ist etwas anderes, Erwartungen, dass X, zu haben oder beim Fehlen von X zu leiden.

Natürlich, aber Babies haben ja Erwartungen. Sie schreien nicht nur, weil sie auf einen biologischen Reflex reagieren (auch wenn man dies lange Zeit dachte und Kindern jegliches Schmerzempfinden absprach, wie auch Tieren, mit den entsprechenden Folgen), sondern sie spitzen auch die Lippen, wenn man diese berührt, und suchen mit ihren Händen nach der mütterlichen Brust, eindeutig in der Erwartung, zu trinken. Ich bin auch kein Babypsychologe, aber ich würde sagen, es gilt in dubio pro reo.

Wenn es um die Grenzen der Abtreibung gehen würde, hätte man dies völlig anders diskutiert. Dass man sich an dem Begriff der Person entlanghangelt und allem anderen den Lebenswert abspricht, zeigt, dass es in eine ganz andere Richtung geht.

Edit @Traitor: Das möchte ich doch bezweifeln. Wenn man "Utilitarismus" in einer ethischen Debatte benutzt, sollte recht eindeutig sein, dass man sich auf die Strömungen bezieht, die von Bentham und Mill und dem Begriff des größten Nutzens, Glücks, Wohlbefindens für eine möglichst große Anzahl Individuen geprägt sind. Hedonismus strebt auch nach Glück, aber es handelt sich dabei weniger um eine Handlungstheorie und Ethik; der Hedonismus ist in den Utilitarismus eingebunden als Prinzip, aber Utilitarismus postuliert darüber hinaus, dass das ethisch sei (oder nur das ethisch sei), was dem größten Glück der größten Zahl gelte. Natürlich gibt es auch Wirtschaftsutilitarismus, aber wenn man sich in einer ethischen Debatte explizit auf diesen bezieht, wird man das wohl deutlich machen.

Edit @Maglor: Dein erster Satz fasst meine Position sehr schön zusammen.

Traitor
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So 9. Dez 2012, 15:51 - Beitrag #15

Ich denke nicht, dass man auf jeden Quatsch argumentativ penibel eingehen muss, aber in diesem Fall tue ich das ja.
Nich auf jeden Quatsch, aber das hier ist zumindest nach Padreics und meiner Meinung kein Quatsch. Gefährlich, falsch, nicht hinreichend durchdacht - aber durchdacht genug, um kein Quatsch zu sein.

Ah, das eine Zitat kam von Singer, die Referenz hatte ich überlesen (pro Autor-Jahr-Zitationen!); damit wird mir auch seine Relevanz hier klar. Seine weiteren Ansichten kenne ich aber nicht, enthalte mich da erstmal eines Urteils.

Du scheinst einen sehr viel weiteren Begriff von "Axiom" zu haben als ich, darin auch Aussagen einzuschließen, die für mich nur mittelbare Folgerungen sind. Ein Wertesystem folgt aus Axiomen, nicht andersherum. (Logisch gesehen. Chronologisch-psychologisch kann es natürlich durchaus in deiner Reihenfolge passieren, und wird es (leider) auch meistens.)

"tut mir leid, aber wenn man das ganze emotionslos betrachtet, stellt sich diese Frage eben"
Finde ich völlig korrekt und publizierenswert. Fragwürdig wird es für mich erst bei "tut mir leid, aber wenn man das ganze emotionslos betrachtet, ergibt sich diese Folgerung" - und das scheinen die Autoren nach flüchtigem Lesen zu behaupten, sowohl auf fragwürdiger Basis (weder sind sie garantiert "emotionslos", noch ist klar, dass "Emotionslosigkeit" ein angemessener Modus für diese Frage ist) als auch auf fragwürdige Weise (sie präsentieren ganz sicher kein logisch einwandfreies "ergibt").

Lass den zusätzlichen nichtaxiomatischen Input weg, und ich finde, man erhält ein sehr vernünftiges Kriterium für die Bewertung von Axiomen. Wenn aus mehreren Prämissen, die ich aufstelle, logisch gültig folgt, dass ich meine Oma umbringen muss, dann muss mindestens eine der Prämissen falsch sein. Ich könnte das noch näher ausführen, aber ich denke, das liefe auf Wortklauberei hinaus.
Erstens kann ich den nur in der Mathematik weglassen, nicht in moralischen Fragen, bei denen aufgrund der Unterdeterminiertheit der Problemstellungen "Beobachtungsdaten" (bzw. eine sehr unscharfe Form davon) notwendige Zutaten sind, um zu nichttrivialen Folgerungen zu kommen. Zweitens: mindestens eine der Prämissen. Nicht notwendigerweise die, auf die du es abgesehen hast.

Das "But", das du offenbar als Negation des Vorhergesagten siehst, leitet für mich einen Einwand ganz anderer Art ein. Singer sagt, dass Kinder mit Behinderungen per se ein geringeres Potential haben; hier ist, denke ich, der Nutzen für die Gesellschaft gemeint. Aber, so die Artikelschreiber, wenn die Kinder auch unnützer sind als wir Normalen, so sind sie zumindest für sich selbst glücklich; trotzdem sind sie aber eine Bürde für ihre Eltern und die Gesellschaft, und man sollte sich gut überlegen, ob man sie nicht nach der Geburt tötet.
Das "but" ist ein direkter, "Beobachtungsdaten" zitierender Einwand gegen die vorherige Behauptung interner Lebensunwertheit. Den Sprung zum anderen Aspekt der externen Wertheit leitet erst das "nonetheless" auf der nächsten Seite ein.

Welche der darin dargestellten Haltungen findest du harmlos, oder besonders erwägenswert? Und über welchen dieser Sätze würdest du dich als Behinderter besonders freuen?
Harmlos: nichts. Erwägenswert: Fragen nach der Hinreichendheit und Notwendigkeit eindeutiger Grenzziehungen, Frage nach der Gewichtung interner vs. externer Lebenswertheit, Frage nach der Relevanz von aktuellem Empfinden vs. Potential. Erfreulich: nichts.

Wenn es sich um einen Schulaufsatz handelte, vielleicht, aber es geht um das konkrete Leben in einer konkreten Gesellschaft, das durch solche akademischen Experimente, die auf eine breite Resonanz in einigen Gesellschaftsteilen treffen, wesentlich beeinträchtigt wird.
Den Autoren ging es (zumindest nach eigener wiederholter Aussage) nicht darum. Zu glauben, dass es allen Lesern auch nicht darum ginge, war natürlich dumm.

Es ist ein kleiner Schritt von "Normale kosten weniger" zu "Behinderte werden abgetrieben". [...] Dieser Einstellung unter Berufung auf "nicht zumutbare Belastungen" der Gesellschaft Vorschub zu leisten, finde ich, so akademisch ansprechend es für manche Leute sein mag, gefährlich und unverantwortlich.
Ja, es ist ein erschreckend kleiner Schritt, und darauf weist der Artikel hin - wenn auch mit der mir nicht genehmen Tendenz von "dann kann man ihn ja auch ohne jede Bedenken gehen". Die "nicht zumutbaren Belastungen" sind dann z.B. so ein "nichtaxiomatischer Input", den die Autoren nicht ansatzweise hinreichend quali- und quantifizieren.
(zu [...] siehe den Thread).)

Ipsissimus
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So 9. Dez 2012, 20:01 - Beitrag #16

allen Gedanken über den Wert menschlicher Wesen wohnt Willkür inne. Es zwingt uns nichts und niemand, Axiome oder Prämissen in einer bestimmten Weise zu setzen, nichts und niemand außer den damit verbundenen Absichten. Absichten! Das ist der springende Punkt. Niemand denkt über den Wert von Babys, beeinträchtigter Babys und später erwachsener Menschen in der Art dieser Autoren nach, ohne die Absicht, diesen Wert in Frage zu stellen. Und hinter dieser Absicht lauern andere Absichten. Und das scheint mir die entscheidende Frage zu sein: wir erweisen uns in unseren Absichten. Aus meiner Sicht steht hinter den Gedanken der beiden Autoren eine zentrale Absicht: den Weg vorzubereiten, um Menschen in einem noch sehr viel weitergehenden Ausmaß als bisher zum Gegenstand von Kostenersparnis zu degradieren.

Es ist nicht möglich, da gebe ich Padreic und Traitor recht, auf rein logischem Weg bei Ausschluss überpositiver Werte und Rechte einen Entscheid zwischen den Positionen herbei zu führen.

Da es aber keine Werte und Rechte ohne eine Macht gibt, die jene Werte und Rechte garantiert, ist das äußerste, das versucht werden kann, diese Macht darin zu bestärken, ihre Garantie zu stärken und wachsam zu sein. Menschen, die entgegengesetze Absichten vertreten, werden versuchen, diese Garantie zu schwächen bis zur Aufgabe, und letztlich erweisen wir uns alle in unserer diesbezüglichen Positionierung, ob wir eher auf Seite der Babymörder stehen oder nicht.

Noch eine persönliche Anmerkung: eine Cousine von mir hatte ein Kind mit spina buffida. Es lebte nur vier Jahre, aber in dieser Zeit hat es alle, die ein Stück weit mit ihm gehen durften, verzaubert. Es ist einfach nur intellektuelle Blödheit und kaltherzige emotionale Trägheit, diesen Kindern ihren Wert abzusprechen. Die Logik ist eine Hure.

Übrigens, e-noon, du erstaunst mich. Du hast seit Maurice einiges dazu gelernt, was damals nicht so zu erwarten war.

Traitor
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So 9. Dez 2012, 21:09 - Beitrag #17

@e-noon, dein PS hatte ich nicht mehr gesehen:
Wenn du "Glück"="Wohlbefinden" setzt, erklärt das vermutlich schon einen Teil unserer Begriffsdifferenz, ersteres ist für mich deutlich eingeschränkter und subjektiver. Wikipedia redet von "Wohlergehen", was ich für einen allgemeinen Utilitarismus nochmals deutlich treffender finde. Bentham scheint im Original "happiness" und "utility" mehr oder weniger gleichbedeutend benutzt zu haben (grobe Wiki-Annäherung, stimmt das so?), vielleicht war "happiness" damals anders konnotiert als heute bzw. als heute "Glück". Die tatsächliche Nutzenfunktion, auf die sich ein ernsthafter Utilitarismus bezieht, ist in jedem Fall eine komplex gewichtete Kombination von Wohlergehensaspekten, von denen subjektives "Glück" nur einer ist.
Auf den konkreten Fall bezogen, könnte ein reiner Glücks-Utilitarismus beispielsweise leicht dahin abgleiten, die Lust einer jungen Mutter am ungehinderten Discobesuch als wichtiger einzuschätzen als jedwede Belange eins neugeborenen oder ungeborenen Kindes, während bei Verwendung von "Wohlergehen" als Kriterium deutlich offenkundiger wird, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes ein mindestens vergleichbar wichtiges Gut ist.

@Ipsissimus: Dein "niemand denkt..." ist ein sehr absolutes Urteil, das meinetwegen durch langjährige Erfahrungen mit der Schlechtheit der Menschheit gestützt sein mag, aber in dieser Absolutheit dennoch fast nur falsch sein kann. Ohne den Hintergrund der Autoren zu kennen, vermute ich ebenfalls durchaus niedere Absichten dahinter; dies alternativlos anzunehmen, ist aber eine sehr böse Unterstellung.
Auch selbst habe ich schon über viele "verwerfliche" Lösungen moralischer Probleme nachgedacht, ohne eine Agenda zu haben, diese durchzusetzen. Sicher ist es davon noch ein gewisser Weg bis dahin, solche Lösungen so offensiv formuliert zu publizieren, aber kein so fundamentaler Sprung, dass sich umgekehrt die Agenda zwangsläufig ergibt.

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So 9. Dez 2012, 21:59 - Beitrag #18

Traitor, da hast du Recht, "happiness" mit "Glück" gleichzusetzen, war natürlich stark vereinfacht. "Positive Befindlichkeitszustände" oder "Wohlergehen" passt wohl besser.

Ipsi, danke :) Meine ethischen Ansichten haben sich dabei wohl weniger geändert als meine Einsicht in Zusammenhänge, die man vielleicht erst in der Rückschau entwickeln kann - ich lese mich gerade intensiv ein in Debatten um Frauenrecht in England, und was da von antifeministischer Seite oder einfach konservativer Seite kam, klingt auf den ersten Blick so logisch und einsichtig, dass es erschreckend ist, was für barbarische Ansichten damit begründet werden. Da wird auf zweihundert Seiten ein Rechtsfall nach dem anderen aufgeführt, es wird argumentiert, dass der Mann weiterhin für die Frau verantwortlich ist und auch zahlungsverantwortlich, die Frau dies aber umgekehrt nicht sei, obwohl sie in allen anderen Belangen rechtlich gleichgestellt sei... und als Schlusssatz liest man dann, dass es bei der schiefen Rechtslage ja völlig verständlich und verdient sei, wenn einzelne Frauen den gerechten Zorn ihrer Ehemänner zu spüren bekämen und misshandelt oder umgebracht würden. :|

Du scheinst einen sehr viel weiteren Begriff von "Axiom" zu haben als ich, darin auch Aussagen einzuschließen, die für mich nur mittelbare Folgerungen sind. Ein Wertesystem folgt aus Axiomen, nicht andersherum. (Logisch gesehen. Chronologisch-psychologisch kann es natürlich durchaus in deiner Reihenfolge passieren, und wird es (leider) auch meistens.)

Ja und nein. Ein Wertesystem folgt aus Axiomen, aber auch die kommen irgendwoher und sind anthropozentrisch. In der Logik folgen sie beispielsweise aus Plausibilität; in der Ethik wird nichts aus dem Nichts geschaffen, sondern meist entsteht ein ungefähres Wertesystem schon durch die Erziehung und Ausbildung und wird dann formalisiert. Axiome sind insofern nicht mittelbar, als sie nicht durch logische Folgerung entstehen, sondern Setzungen sind; aber da sie Setzungen von Menschen sind, folgen sie aus menschlichem Denken und Fühlen.
Zitat von Wikipedia:This philosophy of utilitarianism took for its "fundamental axiom, it is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong"

Daraus folgt aber bei Bentham, zumindest in seinen eigenen politischen Bestrebungen, kein unterordnen des Individuums unter die Masse, sondern ganz im Gegenteil:
He advocated individual and economic freedom, the separation of church and state, freedom of expression, equal rights for women, the right to divorce, and the decriminalising of homosexual acts.[1] He called for the abolition of slavery and the death penalty, and for the abolition of physical punishment, including that of children.



Was den Satz von Singer angeht: Ich denke doch, dass es da um physische und mentale Begabung ging und eben NICHT um die happiness, die nach dem BUT thematisiert wird.
“To have a child with Down syndrome is to have a very different experience from having a normal child. It can still be a warm and loving experience, but we must have lowered expectations of our child’s ability. We cannot expect a child with Down syndrome to play the guitar, to develop an appreciation of science fiction, to learn a foreign language, to chat with us about the latest Woody Allen movie, or to be a respectable athlete, basketballer or tennis player.”

Quelle. Der Link lohnt sich übrigens.

Den Autoren ging es (zumindest nach eigener wiederholter Aussage) nicht darum. Zu glauben, dass es allen Lesern auch nicht darum ginge, war natürlich dumm.
Die Frage ist natürlich, worum es ihnen dann geht, und ob das interessieren sollte. Wer sich öffentlich zu gesellschaftlich relevanten Fragen äußert, darf wohl mit Feedback rechnen. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht den Eindruck, dass es hier (wie einst in der Matrix) um reine Gedankenexperimente und Radikalität um der Freiheit des Geistes Willen geht, sondern, wie Ipsi, dass entweder völlig unreflektiert oder aber überzeugt und aus wirtschaftlichen oder ähnlichen Überlegungen gegen einen Wert des Lebens an sich argumentiert wird. Natürlich sind wir alle intellektuell in der Lage, uns diesen Spielereien anzuschließen und sie ganz nach Belieben auf einer rein intellektuellen Ebene zu untermauern oder anzugreifen... aber das Spiel ist für zu viele Menschen eine Frage von Leben oder Tod, als dass mir das Spielen Spaß machen würde.

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Mo 10. Dez 2012, 00:28 - Beitrag #19

@e-noon: Erstmal danke, dass du deine Ansichten so ausführlich erklärt hast; jetzt sehe ich manches darüber klarer. Dein Ansatz zur Ethik schein ein konkreter, handfester und naturnaher zu sein, besonders verglichen mit dem Artikel, der hier einen solchen Wirbel erzeugt hat. Unsere moralischen Instinkte wie Ähnliches zu uns besser zu behandeln sind wichtig, die Integrität meiner eigenen Körperlichkeit ist unantastbar etc. Eine Ethik mit menschlichem Antlitz.
Deiner Abneigung gegen lange (abstrakte)Argumentationsketten in der Philosophie, wo am Ende eine Conclusio herauskommt, die einem absurd erscheint, teile ich übrigens. Es mag an mir liegen, aber so ziemlich alle philosophischen Gedanken, die mir bisher einleuchtend erschienen, waren einfach in dem Sinne, dass sie nicht aus vielen einzelnen Argumentationsschritten zusammengesetzt waren, sondern als ganzes einleuchtend waren.

Wenn man die Abtreibungsdebatte aus Sicht der körperlichen Selbstbestimmung sieht, muss man dann aber sie nicht auch nach Motivationen klassifizieren? Wenn jemand sagt: "Ich hätte keine (wenige?) Probleme mit den 9 Monaten Schwangerschaft, aber ich will aus ökonomischen/Lifestyle/XYZ-Gründen kein Kind. Deswegen lasse ich es abtreiben." - wäre das noch ein "legitimer" Grund? Und vermutlich haben die Autoren tatsächlich recht, dass so mancher Mutter es leichter fällt, ihr Kind abtreiben/töten zu lassen als es zur Adoption freizugeben.

Zur Lebenswertdebatte: Da muss man sicherlich feiner argumentieren als ich es getan habe, das stimmt. Insbesondere muss man zwischen internem und externem Lebenswert (gesellschaftlicher Dienlichkeit) unterscheiden. Ersteren würde ich bei mir recht hoch einschätzen, letzteren eher im unteren Mittelfeld. Man muss dabei natürlich sagen, dass der externe Lebenswert keineswegs nur nach ökonomischen Maßstäben bewertet werden darf (wenn man ihn denn überhaupt bewerten wollte), sondern viel wichtiger beispielsweise eine familiäre Bindung ist.
Einen internen Lebenswert kann vielleicht ganz gut am Wunsch zu leben und dem Wunsch zu sterben ablesen. Wenn jemand kaum noch den Wunsch hat zu leben und deutlich den Wunsch zu sterben, das vielleicht über Jahre, finde ich es keineswegs abstrus zu sagen, dass sein Lebenswert geringer ist als der von anderen. Wir kennen es selbst: Wenn jemand lange krank oder anderweitig leidend und alt war, nimmt man mitunter dessen Tod weniger schwer. Nicht nur weil er erwartet war, sondern weil man auch dachte: Ist das noch ein echtes Leben, die Jahre dahinbringend, auf den Tod zu warten? Natürlich kann man das nicht nur an "äußeren" Umständen wie einer Krankheit festmachen, das ist klar; aber Menschen schreiben ihrem eigenen Leben (und damit mittelbar auch andere Leute diesem Leben) einfach unterschiedlichen Wert zu und das hat häufig auch mit solchen "äußeren" Umständen zu tun.
Das mag jetzt alles abstrakt und ein wenig menschenverachtend anmuten, aber natürlich werden solche Debatten bei schwer-kranken Menschen dauernd geführt...

Natürlich, aber Babies haben ja Erwartungen. Sie schreien nicht nur, weil sie auf einen biologischen Reflex reagieren (auch wenn man dies lange Zeit dachte und Kindern jegliches Schmerzempfinden absprach, wie auch Tieren, mit den entsprechenden Folgen), sondern sie spitzen auch die Lippen, wenn man diese berührt, und suchen mit ihren Händen nach der mütterlichen Brust, eindeutig in der Erwartung, zu trinken. Ich bin auch kein Babypsychologe, aber ich würde sagen, es gilt in dubio pro reo.
Wenn ich die Autoren richtig verstehe, geht es hier eben nicht um instinktive Handlungen, sondern um Reflexion. Den Begriff 'Erwartungen' kann man sehr verschieden interpretieren, aber den Autoren sollte es hier um die bewusste Abschätzung zukünftiger Ereignisse gehen und letztlich auch besonders um das Bewusstsein und die Wertschätzung gegenüber dem eigenen Selbst. Im engeren Sinne ist das wohl bei einem eintägigen (und vielleicht auch einem mehrmonatigen) Baby nicht gegeben. Und es macht auch kein Pläne für die Zukunft.

Es ist wohl eine anti-humanistische Frage und mir graust es auch vor ihr, aber kann sich durchaus fragen, was so schlimm daran ist, ein Kind zu töten und dafür halt zwei neue zu zeugen/auszutragen. Ist es nicht vielleicht am Ende nur mein gesellschaftlicher Hintergrund, der dagegen spricht? Ich will nicht so handeln, das weiß ich, aber kann ich jemandem berechtigte Vorwürfe machen, wenn er so handelt? Mit welchem Recht (außer seiner eigenen Machtherrlichkeit) verbietet der Staat so etwas?
Ich will nicht darüber debattieren, ob man da hier die Gesetze ändern sollte (obwohl der Paragraph über Kindstötung vor gerade mal 14 Jahren abgeschafft wurde). Es geht hier auch darum, wie man vielleicht andere Kulturen bewerten will. "Wir" machen anderen Kulturen moralische Vorwürfe, sie würden die Menschenrechte nicht achten, Frauen verstümmeln etc. und insbesondere auch Mädchen abtreiben/nach der Geburt töten etc. Können wir denn wirklich von unseren Instikten her dafür argumentieren, dass das nicht gut ist, wenn das ganze Kulturen machen? Wenn wir dagegen reden wollen, brauchen wir gute Gründe.

Ipsissimus
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Mo 10. Dez 2012, 11:07 - Beitrag #20

Insbesondere muss man zwischen internem und externem Lebenswert (gesellschaftlicher Dienlichkeit) unterscheiden.
Schon da spiele ich nicht mehr mit. Diese Unterscheidung wird faktisch viel zu oft getroffen; dass aber mensch oder Gesellschaft sie treffen muss, davon kann keine Rede sein. Und da, wo sie getroffen wird - also wo sie Teil der Grundüberzeugungen ist, nicht da, wo sie nur zur Kenntnis genommen wird - vermute ich Bösartigkeit der Motivlage.

Und vermutlich haben die Autoren tatsächlich recht, dass so mancher Mutter es leichter fällt, ihr Kind abtreiben/töten zu lassen als es zur Adoption freizugeben.
Vermutlich ignorieren die Autoren dabei konsequent, dass sich im Laufe einer Schwangerschaft das hormonelle Gefüge einer Frau massiv verschiebt und eine Schwangerschaft in vielen Fällen zu Erschöpfung führt, so dass die Motive und Gründe, die zu Beginn einer Schwangerschaft vorliegen, nicht notwendigerweise die sind, die gegen Ende vorherrschen. An der Stelle müsste eine Gesellschaft stützend unter die Arme greifen.

Dem Ganzen haftet auf beiden Seiten Willkür "irrationaler" Absichten an, inklusive des Trennstriches, zumindest solange nicht auf Überpositivität zurückgegriffen werden soll. Aber wenn je ein slipery slope-Argument berechtigt war, dann in diesem Fall. Wir fangen bei Babies an und enden bei allen, die wir los werden wollen. Die Gründe werden uns ethische Positivisten schon liefern, wenn - da - wir es bevorzugen, unserer eigenen Bösartigkeit nichts ins Auge zu sehen.

Mit welchem Recht (außer seiner eigenen Machtherrlichkeit) verbietet der Staat so etwas?
Welchen Vorwurf könnten wir schon den Nazis machen? Sie sind legitim zur Macht gekommen, sie haben mit legitimen Mitteln die Gesetze durchgebracht, die ihnen später alles erlaubten, sie waren formal auf der sicheren Seite.

Es gibt keine überpositiven Werte. Aber es gibt so etwas wie Grundkonventionen, die historisch erwachsen sind. Als Leonidas "Dies ist Sparta" rief, gehörten Kinderschutz und Verbot von Sklaverei noch nicht zum Konsens. Wollen wir wirklich dahin zurück?

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