@Ipsissimus' ersten Beitrag: Diese "Trivialität", treffender fände ich "Beherrschbarkeit", ist ein wichtiger Aspekt; wie Padreic schon kurz anmerkt, aber kein hinreichendes Kriterium. Erstmal muss man zwischen Härtepotential und tatsächlich erreichter Härte unterscheiden. Fürs Potential ist die Beherrschbarkeit wesentlich, dazu aber auch noch andere Aspekte, etwa die Form der vorliegenden Daten - auch ein noch so chaotisches physikalisches System, z.B. Wetter/Klima, ist mit seinen numerischen Messergebnissen ein dankbareres Thema für eine Härteentwicklung als Literatur. Für den Istzustand sind dann auch teilweise themenunabhängige soziologische und historische Randbedingungen relevant. Z.B. könnte die Medizin heutzutage trotz ihres recht komplexen Untersuchungsgegenstandes deutlich härter sein, als sie ist, wenn sie weniger mit wirtschaftlichen Interessen vermengt und von irrationalen Verhaltensweisen eingeschränkt wäre.
@Padreic:
Das stimmt wohl für Physik. Mir ging es darum, auch für andere Disziplin Einordnungen zu finden. Beispielsweise die klassische Botanik und Zoologie - Theorie und Vorhersage spielt da nur eine untergeordnete Rolle: Es geht erstmal darum, den Ist-Zustand zu erfassen. Gleiches kann man wohl auch für große Teile der klassischen Astronomie mit ihren Sternenkatalogen sagen. Zum Teil ist das natürlich Vorbereitung fürs Theoretisieren oder, in der Biologie, auch für praktische Anwendbarkeit in Medizin oder Landwirtschaft - zu nicht unwesentlichen Teilen wird es aber sicherlich auch einfach als Selbstzweck betrieben.
Auf einer abstrakteren Ebene ist selbst reine Systematik eine Modellierung zur reduzierten Beschreibung von Beobachtungen und zur "Vorhersage". Wenn ich behaupte, einen vollständigen Katalog von Galapagosfinkenarten aufgestellt zu haben, dann habe ich die Beschreibung der Galapagosfauna gegenüber Bennenung jedes Individuums vereinfacht, und dann mache ich damit eine Vorhersage dafür, welches Vogelspektrum die nächste Expedition dort vermutlich vorfinden wird. Deutlicher wird das in der Paläontologie, die ja mit Daten aus der Vergangenheit arbeitet, diese aber öfter als die Gegenwarts-Systematik nur graduell aufdeckt und zwischendurch auf unvollständiger Datenlage Klassifikations-"Modelle" aufstellt, die dann durch neue Daten überprüft werden.
Aber ja, das ist nur eine mögliche Perspektive; man kann Kataloge auch als Kataloge an und für sich betrachten, Änderungen an ihnen nur als Fehlerkorrekturen, nicht als Modellüberprüfungen, und "echte" Vorhersagen (von über den Kataloginhalt hinausgehenden Aspekten der Wirklichkeit) als eigenen, auf ihnen aufbauenden Forschungsbereich. Das ist auch in der Praxis meist nützlicher. Mein "nur sehr begrenzt für die Methodik" war vermutlich zu vorschnell gedacht, beim "nicht fundamental"-Urteil bleibe ich aber.
Präzisierung=Verdunklung ist eine interessante Pathologie, die wohl tatsächlich nicht zu selten auftritt. Das Gegenteil, Unpräzision/Weichheit = Verdunklung, würde ich aber für häufiger halten - viel klassische Philosophie ist doch nur "Verdunklung" durch schwülstige, eben nicht hart-präzise, Umschreibung. Sicher hat die analytische Philosophie keine echte Revolution ihres Fachgebietes erbracht, sonst würde man heutzutage von der Philosophie als Ganzem ganz anders reden. Einen gewissen positiven Einfluss kann man ihr aber wohl kaum abstreiten (siehe deine Anmerkung weiter unten). Und ich nannte auch bewusst "Formalisierungsschübe" im Plural - Aristoteles, Scholastik, Humanismus (nunja, grenzwertig), Kant, Russell waren doch auch welche.
Ich denke, es ist hier hilfreich, einen Blickwinkelwechsel auf das Kriterium für Härte durchzuführen: Eine potentiell harte Wissenschaft hat präzise Fragestellungen, bei deren möglichen Antworten es allgemein anerkannte Kriterium zur Überprüfung ihrer Güte gibt. Eine harte Wissenschaft hat auch Methoden, sie zu beantworten. [Analogie zu P vs. NP]
In gewisser Hinsicht ist das äquivalent zur Vorhersageinterpretation, da man die Ergebnisse einer Überprüfung vorhersagen kann und andererseits bei Vorhersagen prüfen können muss, als wie stichhaltig sie sich erweisen. Bei manchen Wissenschaften finde ich aber diese Sichtweise weniger gekünstelt.
Die Umformulierung klingt gut, aber bei genauerer Betrachtung würde ich sie nicht als volläquivalent gelten lassen, sogar weder als hinreichendes noch notwendiges Teilkriterium. Mangelnde Datenlage (s.o.) deckt das neue Kriterium zwar ab, denn dann hat man eben keine "Methoden zur Beantwortung" (sofern man die Daten als Teil der Methode auffasst). Aber es gibt ja noch die Möglichkeit, dass nicht alle möglichen Antworten erforscht werden können (z.B. simple numerische Überkomplexität der Modelle) - dann kann man zwar vielleicht zig Modelle auf anerkannte Weisen falsifizieren, hat aber noch lange keine Vorhersagekraft, weil man eben das richtige Modell nicht findet.
Insofern ist aber vielleicht sogar Vorhersagekraft nicht das ideale Kriterium für Härte, sondern eher deines - manche Randbereiche der Physik würde ich methodologisch durchaus als hart ansehen, auch wenn sie eben noch keine Vorhersagekraft erreichen.
Die Germanistik-Programme waren nicht als Kritikerersatz bei ansonsten gleichbleibendem Konsensfindungsmechanismus gedacht, darauf träfen deine Einwände zu, sondern als Konsensfindungsunterstützung für menschliche Kritiker. Das wäre gerade für dein umformuliertes Kriterium ein hilfreicher Schritt. Man könnte zumindest Teilargumente von Interpretationen falsifizieren und der kritisierte Kritiker müsste sich zumindest neue Umwege ausdenken.
Die reinste theoretische Physik steht für mich etwas außerhalb dieses Diskussionsfeldes, wie für Ipsissimus die Mathematik, da es am Datenbezug fehlt. Sobald aber eine gewisse Relevanz der Konstrukte als praktisches Modell postuliert wird, wie dies sicher bei 90% auch der theoretischen Theoretiker noch der Fall ist, kann man Härtekriterien anwenden. Dann landet man bei sehr hohem Formalisierungs- und Objektivierbarkeitsgrad, aber bei mangelnder Vorhersagekraft bzw. Beantwortungsmöglichkeit - also tatsächlich nicht gerade eine harte Wissenschaft par excellence. Hauptvorteil der Physiker gegenüber Geisteswissenschaftlern oder Philosophen in ähnlicher Lage ist (neben der simplen Datengrundlage, die ihre Fachkollegen schon haben und von der sie wissen, dass sie sie selbst zumindest prinzipiell anstreben können) ihre historische Erfahrung und soziologische Einbettung in erfolgreich harte Methoden; die möglichen Wege zur Herstellung von Vorhersagekraft und somit zur Härtung sind deutlich klarer und können daher gezielt angegangen werden und somit als großes Ziel stets vor Augen schweben.
@Ipssisimus2:
Idealistischerweise erwartet man von einer hard science nicht unbedingt Annäherungen unterschiedlicher Güte an einen Sachverhalt, sondern eine definitive Klärung des Sachverhalts.
Das Thema hatte ich schonmal ausführlich mit Maurice ("absolute Wahrheitskriterien") - "idealistischerweise" würde ich hier durch "naiverweise" ersetzen. Ein Härtebegriff, der absolute Klärung voraussetzt, wäre in fast allen Bereichen (auch bei optimistischer Sichtweise inklusive Physik) niemals erfüllbar, somit leer und nutzlos. Für einen nützlichen Härtebegriff kann man allerhöchstens verlangen, dass es ein Metamodell gibt, das für die absehbare Zukunft keine nennenswerten Beiträge zur Erhöhung des Klärungsgrades mehr erwarten lässt.
Bzw. wäre es nicht besser, von der Härte einzelner Theorien zu sprechen statt von der Härte einer ganzen Wissenschaft?
"Theorie" ist ein etwas unterdefinierter Begriff, und wie zuvor aufgeführt, sind Daten unerlässlich für Härte, Beurteilung rein auf der Theorieebene hilft da nicht weiter. Sich auf "Unterwissenschaften" oder "Themengebiete" zu beschränken, haben Padreic und ich ja aber auch schon angeregt.
Einige Bereiche der klassischen Mechanik z.B. dürften ziemlich abgeschlossen sein, ich glaube kaum, dass es noch erhebliche oder überhaupt Modifikationen am Hebelgesetz u.dgl. geben wird. Die gleiche Härte könnte ich der theoretischen Physik nicht zubilligen.
Auch die Hebelgesetze sind nicht fundamentaler "abgeschlossen" als etwa die ART: bei beiden glaubt niemand ernsthaft an Änderungen innerhalb eines gewissen Gültigkeitsbereiches, bei beiden sind diese aber aus hyperskeptischer Sicht ("vielleicht waren alle unsere bisherigen Messungen ja nur ein unwahrscheinlicher Ausreißer") nicht absolut unmöglich. Es gibt graduelle Unterschiede in der Signifikanz (wobei "graduell" hier durchaus mehrere Größenordnungen umfasst
), und bei der ART ist der Gültigkeitsbereich weniger klar umrissen. Aber prinzipiell ist der erkenntnistheoretische Status derselbe.
Zudem sei nochmal angemerkt, dass "theoretische Physik" eben kein Themengebiet ist, sondern eine Methodik, soziologische Gruppe oder Denkweise. Um besonders dieses Begriffspaar zu dekonstruieren: an der Uni lernt man "klassische Mechanik" in der Vorlesung "Theoretische Physik".
Die Härte eines Untergebietes der Physik kann man nur beurteilen, wenn man seine theoretischen wie experimentellen/beobachtenden Aspekte miteinbezieht. Fehlen letztere, was vermutlich der Fall ist, auf den du dich beziehst, ist das dann natürlich schon ein massiver Mangel, siehe obigen mit Padreic diskutierten Fall.
Computerprogramme zu entwickeln, die Texte genauso gut deuten können, wie mancher Literaturkritiker,
Wäre das nicht schon massive "AI", artificial intelligence?
Vermutlich ja - und eben deshalb nicht der Fall, den ich diskutieren wollte, siehe Richtigstellung weiter oben.
Die Computerlinguistik ist aber eben nicht mehr sang- und klanglos gescheitert - die klassischen, KI-nahen Ansätze weitgehend, aber die eigentlich primitiven statistischen funktionieren doch bemerkenswert gut. Google Translate produziert oft Brei, aber bemerkenswert oft halbwegs verständlichen und die meisten Informationen wiedergebenden Brei. Und die Aufgaben, an die ich dachte, sind ja eher einfacher.
Experimentelle Naturwissenschaft sehe ich weniger als Goldstandard denn als Demonstrator, an dem - neben Chemie - das Konzept der Härte am ehesten verdeutlicht werden kann.
Inwiefern ist Chemie keine "experimentelle Naturwissenschaft"?
Und gemäß deinem (meines Erachtens) übertriebenen Klärungskriterium gibt es dann halt gar keinen Goldstandard und wird ihn auch nie geben...?
Wobei grundsätzlich zu fragen wäre, ob "Härte" in allen Wissenschaften dasselbe bedeuten muss. Kriterien, die in der einen stimmig sind, müssen in einer anderen nicht notwendig angebracht sein.
Ich denke, gerade deshalb haben wir die "Härte"-Diskussion: wir suchen nach einem gemeinsamen Aspekt, der die jeder Einzelwissenschaft angemessenen Kriterien zusammenführen kann. Die Kriterien für Härte mögen überall anders sein, eine numerische Gesamtskala wird sich kaum aufstellen lassen, aber man hat eben doch das Gefühl, dass es da eine gemeinsame Frage gibt, die man allen Gebieten stellen kann.
Härte mit Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen, finde ich dann entweder eine Entwertung oder übertriebene Aufwertung des einen oder anderen Begriffes - wir haben ja schon nicht ganz deckungsgleiche, aber doch halbwegs intuitiv-naheliegende Vorstellungen von Härte herausgearbeitet, selbiges könnten wir für Wissenschaftlichkeit (oder haben das bestimmt schonmal irgendwo gemacht), und wenn man jetzt alles, was nicht hart ist, unwissenschaftlich nennt, wäre das ebenso unfair wie alles, was wissenschaftlich ist, automatisch hart zu nennen. Wissenschaftlichkeit ist für mich eine Grundvoraussetzung für Härte, aber man kann auch wissenschaftlich sein, ohne hart zu sein. Provokanter Teil: nur nicht so gut... "Wissenschaftlichkeit" und "Härte" als zwei Stufen auf einer gemeinsamen Skala...? Das ist dann gerade die Frage, an der sich totalitäre Naturwissenschaftler und Weichheitsapologeten zoffen.