Harte und weiche Wissenschaften

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Sa 26. Apr 2014, 18:58 - Beitrag #1

Harte und weiche Wissenschaften

Zur Einleitung ein Eintrag aus dem Backreaction-Blog der Physikerin Sabine Hossenfelder: Will the social sciences ever become hard sciences? Wenn auch eher als Aufhänger für eine Tangente denn als Hauptdiskussionsgrundlage.

Die klassische Aufteilung zwischen Naturwissenschaften/Geisteswissenschaften (sciences/humanities) krankt bekantermaßen an vielen Grenzfällen, z.B. Archäologie oder Psychologie, und die Mathematik steht systematisch eigentlich ganz außen vor, obwohl sie sozial klar bei den Naturwissenschaften abhängt.
Eine andere interessante Trennlinie ist dann die "Härte" einer Wissenschaft, wie sie Hossenfelder diskutiert. Intuitiv ist ziemlich klar, was damit gemeint ist; was genau es ist, ist dann aber etwas schwerer zu definieren. Quantitativität, Mathematisiertheit, Rigidität, Objektivierbarkeit, Überprüfbarkeit, Organisiertheit, "Nützlichkeit"...
Klar ist aber auf jeden Fall, dass es keine klare Zuordnung zwischen Härte/Weichheit und Natur-/Geisteswissenschaften gibt, selbst jenseits der Grenzfälle: Teilgebiete mancher eindeutiger Geisteswissenschaften, etwa Linguistik, können durchaus anhand der meisten genannten Kriterien "härter" sein als Teilgebiete mancher Naturwissenschaften (Medizin, Ökologie, ...).

Hossenfelder arbeitet für sich als Hauptkriterium für Härte die Vorhersagekraft (predictive power) heraus. Hat eine Wissenschaft Modelle (qualitativ oder quantitativ) für wiederholbare Beobachtungen, die nach bisheriger Erfahrung mit akzeptabler Genauigkeit die Ergebnisse vorhersagen, so ist sie hart. Das ist dann für mich der Hauptanlass für diesen Thread: ist das ein hinreichendes Kriterium?
Meines Erachtens nicht. Es fehlen zwei eng verwandte, aber nicht automatisch verknüpfte Aspekte: Zurückführung der Modelle auf grundlegende Prinzipien und logische Ableitung ebenfalls vorhersagekräftiger Modelle aus solchen Prinzipien für mehrere Beobachtungsgebiete.
Rein empirisch überprüfte Vorhersagekraft kann immer auch nur ein glücklicher Zufall sein. Hat man ein deskriptives Modell rein heuristisch an vorliegende Daten angepasst, ohne eine grundlegende Erklärung dafür zu haben, so kann es sein, dass man sich auf eine untypische Stichprobe gestützt hat, die vielleicht durchaus noch längere Zeit anhält, aber irgendwann nicht mehr, und dann das Modell nicht mehr passt. Maurice würde da wohl wieder "induktive Fehlschlüsse" anführen.
Tatsächlich kann man sich in empirischen Wissenschaften nie ganz vor solchen Fehleichungen schützen, komplett gesicherte Vorhersagekraft gibt es auch in den härtesten Wissenschaften nicht. Aber die beiden Zusatzkriterien sollten immerhin selbst aus stark skeptischer Haltung heraus noch starke Heuristiken sein, um das Risiko einer Fehlmodellierung nichtfundamentaler Datenaspekte zumindest stark zu senken.
Und das ist es dann eben, was eine "harte" Wissenschaft ausmacht: auch Physiker finden keine absoluten Wahrheiten, aber sie können zumindest deutlich größeres Vertrauen auf ihre Modelle reklamieren als die meisten Psychologen, Mediziner oder "big data"-Analysten, deren Modelle vielleicht empirisch auch Vorhersagekraft zu haben scheinen, bei denen aber niemand wenigstens halbwegs genau weiß, warum sie diese haben sollten.

Der andere fundamentale Diskussionsaspekt wäre natürlich, ob man Härte für grundsätzlich der Weichheit überlegen und eine imperative zeitliche Entwicklung der Einzelwissenschaften Richtung steigender Härte voraussetzen will. Und, falls man das will, der nächste: die Beurteilung der Schwierigkeiten und des Erfolgs der "Härtung" der Geisteswissenschaften, siehe Blog.

Feuerkopf
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Sa 26. Apr 2014, 20:58 - Beitrag #2

Ich kann nach vier Semestern Psychologie in Bochum verlässlich sagen, dass dort knallhart wissenschaftlich gearbeitet wird. Da wird nichts behauptet, was nicht auch bewiesen werden kann. Überwiegend Neuropsychos, halt. ;)
Man kann auch für Verhalten sehr aussagekräftige Versuchsreihen erstellen. Weiß ich, da jeder Grundstudiumsstudent pausenlos Versuchspersonenstunden absitzen musste.
Meine Hirnfunktionen sind bestens dokumentiert und leider auch meine Unfähigkeit, mir Sachen gut zu merken. ;)

Padreic
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So 27. Apr 2014, 00:45 - Beitrag #3

Mir scheint es nicht zweckdienlich, ganze Wissenschaften in das Schema 'hart' oder 'weich' einzuordnen (das gilt genauso für andere Schemata, die vielleicht noch sinnvoller sein mögen). Verschiedene Psychologen oder Soziologen beispielsweise arbeiten da gänzlich unterschiedlich. Schaut man noch genauer hin sieht man, dass diese verschiedenen Aspekte auch in einem einzelnen Wissenschafter zugleich vorkommen können, vielleicht sogar in einem einzigen Gedankengang.

Ich kann Traitor durchaus zustimmen: Vorhersagen treffen ist nicht der einzige Zweck wissenschaftlicher Arbeit. Die String-Theorie will beispielsweise natürlich auch neue Vorhersagen treffen, vor allem will sie aber verschiedenen Theoriebereiche vereinheitlichen. Noch deutlicher bei der Urknalltheorie. Natürlich macht sie auch Vorhersagen - sonst könnte man keinerlei experimentellen Hinweise auf den Urknall finden - aber das ist keinesfalls ihr Zweck.

Vielleicht kann man den Zweck von Wissenschaft in etwa in folgende Klassen einteilen:
1) Den wird-Zustanden herausfinden: klassische Vorhersage.
2) Den ist-Zustand herausfinden: In der Physik ist das vor allem relevant beim Durchführen von Experimenten, vom simplen Amperemeter bis zum Detektor im LHC - wenn man Physiker und nicht Elektrotechniker sein will, normalerweise als Mittel zum Zweck um Theorien zu überprüfen. Von noch größerer Relevanz bei komplexen Systemen. Bekannt z. B. der Mikrozensus oder die Klimadatenerhebung.
3) Den war-Zustand herausfinden: Hier ist die gesamte Geschichtswissenschaft aktiv, samt den Urknallforschern.
4) Dinge Verstehen. Das ist natürlich mit den anderen Punkte verwoben, hat aber IMHO dennoch einen Extrapunkt verdient. Auf eine grundlegendere Theorie zurückführen gehört zu dieser Sparte. Genauso viele Werke theoretischerer Natur aus der Soziologie (wie von Luhmann). Geht man noch weiter: Literaturwissenschaft und Philosophie gehören geradezu gänzlich dieser Sparte an.

Bezüglich der Verwobenheit: Eine reine Rohdatensammlung für den ist- oder war-Zustand anzulegen, wird höchstens dann als eine eigentliche wissenschaftliche Leistung gesehen, wenn diese Daten zu erheben besonders schwierig ist, wie vielleicht in der Archäologie. Dazu gehört immer noch zumindest eine Musterdarstellung, besser noch eine Darlegung möglicher Kausalketten und Gründe. Dies gilt sogar in der Mathematik: Eine Liste von Primzahlen gilt noch nicht als mathematische Leistung. Aber anhand dieser den Primzahlsatz (der die Häufigkeit der Primzahlen angibt) zu vermuten und besser noch zu beweisen natürlich schon.
Auf der anderen Seite mag eine Vorhersage, die nur Rohdaten produziert, trotzdem beeindruckend sein. Hier ist die Verwobenheit wohl andersherum. Verständnis ist toll, aber wir mögen manchmal nur den Eindruck haben, etwas verstanden zu haben, ohne es wirklich verstanden zu haben. Der Begriff des Verstehens ist recht schwer zu fassen. Man kann es nur dadurch messen, inwiefern es neue Erkenntnisse, die letztlich irgendwie überprüfbar sind, hervorbringt. Beispielsweise wie es erlaubt, eine neue Theorie zu bauen, die Dinge vorhersagt.
Zudem muss man natürlich anmerken, dass wirkliche Rohdaten niemals existieren. Jegliche Daten sind schon in irgendeiner Form interpretiert/gefiltert.

Ich kann sicherlich auch Traitor zustimmen, dass Kausalerklärungen reinen Korrelationen vorzuziehen sind. Wenn z. B. jemand herausfindet, dass die Anzahl der Patente in einer Stadt sich in einem gewissen mathematischen Gesetz zu ihrer Größe verhält, was sagt das mir? Ist es gut, größere Städte zu bauen, damit die wissenschaftliche Leistung steigt? Das folgt keineswegs, solange man nicht die Kausalverhältnisse versteht. Es könnte sein, dass die hellen Köpfe gerne in den größten für sie verfügbaren Städten leben - wenn es nur kleinere Städte gäbe, würden sie halt da forschen. Oder es kann sein, dass bei gleicher wissenschaftlicher Leistung in größeren Städten einfach mehr patentiert wird aufgrund des größeren Wettbwerbsdrucks. Etc. Sowohl im politischen als auch im medizinischen Bereich gibt es eine Unzahl solcher Fehlschlüsse.

Bezüglich Verstehens und vorhersagenden Theorien möchte ich auch noch folgendes anmerken: Um eine Theorie zu formulieren, benötigt man erstmal eine geeignete Sprache. Die Physik konnte sich hierbei häufig schon vorhandener Mathematik bedienen, mitunter musste sie sie aber auch erst selbst schaffen. Ohne den Physiker zunahetreten zu wollen, kann man sagen, dass die Physiker sich häufiger zunächst einfach einer Reihe von Rechentricks bedient haben bis die zugrundeliegende Struktur mit Hilfe von Mathematikern klar dargestellt wurde. Gutes Beispiel ist hier sicherlich die Quantenmechanik mit der Hilbertraumbeschreibung durch von Neumann.
In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist kaum ein oder kein allgemein anerkanntes Theoriegebäude vorhanden. Letztlich kann man natürlich jede Weise über Strukturen präzise zu sprechen als Mathematik bezeichnen, aber zumindest die bestehende Mathematik hat sich häufig nur als bedingt hilfreich erwiesen - obgleich dies teilweise an der mangelnden Kenntnis abstrakter Mathematik bei den Sozial- und Geisteswissenschaftler liegen mag.

Um aufs ursprüngliche Thema zurückzukommen: Letztlich sehe ich es immer noch als das Markenzeichen harter Wissenschaft, präzise und robuste Vorhersagen treffen zu können. Robust hier in dem Sinne, dass wenn die Parameter sich ändern, man weiß wie man die Vorhersage ändern muss, was bei reinen Korrelationsbeziehungen häufig kaum möglich ist.
Was ist nun ein Kennzeichen 'weicher' Wissenschaft? Es kann sein, dass ihre Vorhersagen einfach nicht sehr präzise oder zuverlässig sind. Dann ist es eine möchtegern-harte Wissenschaft, die aber noch weich ist. Es kann aber auch sein, dass sie bewusst von Vorhersagen absieht, was aus mehreren Gründen geschehen kann:
1) Die Systeme, die sie interessiert, sind zu komplex, um momentan auch nur in die Nähe zuverlässiger Vorhersagen zu kommen. Vorhersagen gehen nur unter extremer Komplexitätsreduktion. Beispiel: Soziologie/Psychologie wird reduziert zu Bewegungsmustern von Menschen im Auto- oder Fußgängerverkehr.
2) Man lehnt harte Vorhersagen aus ethischen Gründen ab. Vorhersagewerkzeuge in Soziologie oder Massenpsychologie können zu leicht instrumentalisiert werden. -- Dies ist gewissermaßen ein Grund außerhalb des wissenschaftlichen Argumentationssystems und kann so nur beschränkt Teil der wisssenschaftstheoretischen Klassifizierungsein.
3) Die Gegenstände und Fragestellungen der Wissenschaft haben prinzipiell nichts mit Vorhersagen zu tun. Beispielsweise Literaturwissenschaft.

Bei (1) wäre es so, dass dies potentiell nur eine provisorische Einstellung ist. Wenn erst einmal die Sprache gefunden ist, in der man Theorien ausdrücken kann, die richtigen Ideen für die Theoriebildung da sind und die Computer gut genug für Simulationen sind, mag es sich ändern. Punkt 3 ist prinzipieller Natur. Philosophie und Literaturwissenschaft kann prinzipiellerweise niemals hart werden. [Das gilt bei der Literaturwissenschaft nicht für alle Aspekte. Die Autorschaft eines Textes zu klären ist eine potentiell harte Frage, die man mit statistischen Methoden angehen kann. Beim Beispiel der Literaturwissenschaft ging es mir um die Deutung von Texten.]

Dazu möchte ich noch anmerken, dass man harte Geschichtswissenschaft, beispielsweise die Frage, wann genau ein Vulkan ausgebrochen ist, als Vorhersage gegen Messungen deuten kann, auch wenn das ein wenig gezwungen erscheint.

Ich denke, dass Physik auch durchaus weiche Aspekte hat. Die Suche nach einer möglichst eleganten Formulierung einer Theorie ist erstmal eine 'weiche' Tätigkeit, auch wenn sie zukünftigen Vorhersagen helfen mag.

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So 27. Apr 2014, 11:13 - Beitrag #4

@Feuerkopf: Siehe zum einen Padreic, manche Teilgebiete der Psychologie sind sicher "härter" als andere. Zum anderen ein paar kritische Fragen, um die Stichhaltigkeit deiner Härtezuweisung beurteilen zu können (ohne sie von vornherein energisch abzulehnen, keine Sorge, Psychologie ist so ein Grenzfall, bei dem ich mir selbst nie sehr sicher bin - eigentlich würde ich vom Untersuchungsgegenstand und den mir bekannten Psychologen her eine ganz ordentliche Härte erwarten, höre aus den Medien aber zu oft weiches Geschwätz - und über den ich eh nicht viel weiß):
Was genau zählt dort als "Beweis"?
Wie sieht es mit der Rückführung der empirischen Befunde auf grundlegende Theorien aus? Systematischer und weniger ideologisch als zu Freuds Zeiten, denke ich doch mal, aber hinreichend?
Wie sieht es mit der Reproduzierbarkeit und Übertragbarkeit der Ergebnisse, also der tatsächlichen Vorhersagekraft aus? Die "most published research findings are wrong"-Debatte fokussierte sich, wenn ich mich recht erinnere, neben der Medizin auch stark auf die Psychologie.


@Padreic: Das feste Einordnen ganzer Wissenschaften wollte ich eigentlich schon selbst vermeiden, daher der kurze Bezug auf von der üblichen Kategorisierung abweichende "Teilgebiete"; das hätte ich aber sicher deutlicher ausführen können. Danke für die Betonung.

Deine temporale Unterteilung der drei Zwecke sehe ich nicht als sonderlich fundamental an. Oder besser gesagt, vor allem für soziologische und stilistische Aspekte eines Forschungsfeldes, aber nur sehr begrenzt für die Methodik. Denn was in der wissenschaftlichen Vorgehensweise und aus erkenntnistheoretischer Sicht zählt, ist letztlich ausschließlich die zeitliche Relation von Messung, Auswertung und Interpretation, nicht von Wissenschaftler und Untersuchungsgegenstand. Eine Vorhersage einer kosmologischen Theorie über eine noch nicht gemachte Messung des uralten CMB ist gleichwertig mit einer Vorhersage einer Teilchenphysik-Theorie über ein noch nicht durchgeführtes Experiment. Man kann sogar Daten messen, die komplette Auswertung automatisiert laufen lassen und das Ergebnis versiegelt rumliegen lassen, danach in Ruhe theoretisieren und sich bei Öffnen des Siegels berechtigterweise freuen, eine echte Vorhersage gemacht zu haben.

Punkt 4 halte ich für den wesentlichen aus wissenschaftlicher Eigenperspektive. Vorhersagekraft ist vielleicht das, was die Öffentlichkeit am dringendsten von Wissenschaft erwartet, aber die interne Triebkraft ist meistens das Verstehenwollen (...und das Funding ;)). Der Einteilung deiner Beispiele zwischen 3 und 4 stimme ich aber nicht zu; Literatur- und Geschichtswissenschaftler sehe ich als in vergleichbarem Umfang mit War-Datenermittlung (Was hat X geschrieben? / Was ist passiert?) und Warum-Ermittlung (Was wollte X damit sagen? Was verursachte diese Ereignisse und was bedeuten sie für später und heute?) befasst. Aber dass Reduktion ganzer Wissenschaften auf einheitliche Einzelaspekte nur begrenzt funktioniert, da sind wir uns ja schon einig.

In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist kaum ein oder kein allgemein anerkanntes Theoriegebäude vorhanden. Letztlich kann man natürlich jede Weise über Strukturen präzise zu sprechen als Mathematik bezeichnen, aber zumindest die bestehende Mathematik hat sich häufig nur als bedingt hilfreich erwiesen - obgleich dies teilweise an der mangelnden Kenntnis abstrakter Mathematik bei den Sozial- und Geisteswissenschaftler liegen mag.
Da drängt sich die Parallele zwischen Philosophie und Mathematik auf, mit ähnlichen (wenn auch nicht immer zeitgleichen) historischen Formalisierungsschüben, und natürlich gemeinsamen Ursprüngen. Ansonsten sehe ich als Laie in der Linguistik den höchsten mathematikartigen Formalisierungsgrad einer klassischen Geisteswissenschaft, daher meine häufige "positive" Erwähnung dieses Faches.
Faszinierend ist auch der Fall der Informatik, die trotz eigentlich sehr simplem, hartem Untersuchungsgegenstand ihre Wildwuchsphasen von "Rechentrickserei" und rein heuristischer Vorgehensweise hat, mit mathematischer Rigidität aus eigenen Kreisen oder per Mathematikerhilfe oft erst nachfolgend. Derzeit (und/oder in den letzten Jahrzehnten, ich folge da nur Büchern und Blogs, keinen Frontveröffentlichungen) zum Beispiel sehr spannend zu beobachten im Grenzgebiet von mathematischer Statistik und CS-"data science".

Letztlich sehe ich es immer noch als das Markenzeichen harter Wissenschaft, präzise und robuste Vorhersagen treffen zu können.
Ich denke, mit dem Satz hast du meine geforderten Ergänzungen zum reinen Vorhersagekraftkriterium schön zusammengefasst, Theorierückführung und Verallgemeinerbarkeit sind letztlich Methoden zur Schaffung von Robustheit.

3) Die Gegenstände und Fragestellungen der Wissenschaft haben prinzipiell nichts mit Vorhersagen zu tun. Beispielsweise Literaturwissenschaft.
Ich kenne da einige Autoren, bei denen man ziemlich gut vorhersagen kann, was sie als nächstes schreiben... Allerdings sind das dann auch Autoren, die die Literaturwissenschaft eher meidet. ;)

Philosophie und Literaturwissenschaft kann prinzipiellerweise niemals hart werden.
Handelt es sich bei der (sprach-)analytischen Philosophie nicht um eine deutliche Härtung, ebenso bei der formalen Logik (so man sie als Philosophie und nicht als Mathematik zählen will), die Wissenschaftstheorie... Würdest du sagen, dass sich solche Bereiche aus der Philosophie abspalten, sobald sie "zu hart" werden, so, wie es früher Mathematik und Naturwissenschaften getan haben?

Das gilt bei der Literaturwissenschaft nicht für alle Aspekte. Die Autorschaft eines Textes zu klären ist eine potentiell harte Frage, die man mit statistischen Methoden angehen kann. Beim Beispiel der Literaturwissenschaft ging es mir um die Deutung von Texten.
Da wäre ich mit definitiven Vorhersagen (;)) vorsichtig. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendwann mal ein automatisiertes Computerprogramm (das keine starke KI hat) eine vollwertige literarische Deutung vollbringt. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass statistische Methoden einen gewissen Beitrag zu Deutungsanalysen erbringen könnten. Es gibt da z.B. [url=https://medium.com/the-physics-arxiv-blog/cfaaa96198e2]diesen lustigen Algorithmus[/u], der die "Stimmung" eines Romans analysieren und dazu "passende" Musik komponieren soll. Sehr, sehr primitiv ohne Frage. Aber mit einer Weiterentwicklung könnten vielleicht einmal Analysen der Art "vermutlich ist dieses Kapitel eine Allegorie auf die Weltkriege, denn der Autor benutzt ähnliches Vokabular wie in Y" statistisch untermauert werden. Ob das sehr nützlich wäre, wer weiß. Aber vorstellbar ist es.

Dazu möchte ich noch anmerken, dass man harte Geschichtswissenschaft, beispielsweise die Frage, wann genau ein Vulkan ausgebrochen ist, als Vorhersage gegen Messungen deuten kann, auch wenn das ein wenig gezwungen erscheint.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Satz richtig verstehe - "Vorhersage gegen Messungen" als "Vorhersage einer Messung" oder als "Vorhersage statt Messung"? - aber in Fall A klingt mir das nach dem Argument, das ich am Anfang bezüglich temporaler Anordnung machte? Dann hielte ich das eben nicht für gezwungen, sondern für die der Struktur wissenschaftlichen Arbeitens angemessenere Deutung.

Ich denke, dass Physik auch durchaus weiche Aspekte hat. Die Suche nach einer möglichst eleganten Formulierung einer Theorie ist erstmal eine 'weiche' Tätigkeit, auch wenn sie zukünftigen Vorhersagen helfen mag.
Möchte ich gar nicht abstreiten. Einer der Gründe dafür, dass ich meine Nebenfrage (ist so weit wie möglich gehende Härtung grundsätzlich immer wünschenswert) selbst nicht uneingeschränkt bejahen würde.

Völliger Nebenaspekt:
Gutes Beispiel ist hier sicherlich die Quantenmechanik mit der Hilbertraumbeschreibung durch von Neumann.
Oh, ich wusste gar nicht, dass er da seine Finger drin hatte. Ich sehe wieder mal, dass er definitiv mehr war als der "Computer-Typ", als den man ihn üblicherweise so kennt...

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Mo 28. Apr 2014, 11:50 - Beitrag #5

Die Fähigkeit einer Wissenschaft zur Härte hängt meines Erachtens von der Trivialität ihres Forschungsgegenstandes ab, "Trivialität" definiert als die Konstanz der Phänomene. Je chaotischer die Eigendynamik der beobachteten Phänomene ist, desto schneller erschöpfen sich harte Forschungsprinzipien an der Renitenz des Themas. Härte ist m.E. dort möglich, wo die Dinge sich eindeutig verhalten. Dort, wo sie unsystematisch spontane Verhaltensänderungen an den Tag legen, werden die Dinge statistisch, und dort, wo diese Änderungen nicht nur spontan, sondern auch willkürlich werden, scheitern harte Verfahren.

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Mo 28. Apr 2014, 23:57 - Beitrag #6

@Traitor:
Deine temporale Unterteilung der drei Zwecke sehe ich nicht als sonderlich fundamental an. Oder besser gesagt, vor allem für soziologische und stilistische Aspekte eines Forschungsfeldes, aber nur sehr begrenzt für die Methodik.

Das stimmt wohl für Physik. Mir ging es darum, auch für andere Disziplin Einordnungen zu finden. Beispielsweise die klassische Botanik und Zoologie - Theorie und Vorhersage spielt da nur eine untergeordnete Rolle: Es geht erstmal darum, den Ist-Zustand zu erfassen. Gleiches kann man wohl auch für große Teile der klassischen Astronomie mit ihren Sternenkatalogen sagen. Zum Teil ist das natürlich Vorbereitung fürs Theoretisieren oder, in der Biologie, auch für praktische Anwendbarkeit in Medizin oder Landwirtschaft - zu nicht unwesentlichen Teilen wird es aber sicherlich auch einfach als Selbstzweck betrieben.

Da drängt sich die Parallele zwischen Philosophie und Mathematik auf, mit ähnlichen (wenn auch nicht immer zeitgleichen) historischen Formalisierungsschüben, und natürlich gemeinsamen Ursprüngen.

Inwiefern die Formalisierung samt Nutzung logischer Symbolik in der analytischen Philosophie wirklich inhaltlich etwas gebracht hat, sei mal dahin gestellt. Allzu oft ist es nur eine unnötige "Präzisierung" (oder vielmehr Verdunklung?) eigentlich nicht sehr schwieriger Gedankengänge. Neben Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik in der Wissenschaftsphilosophie, warte ich noch darauf, eine fruchtbare Anwendung von mathematischer Sprache in der Philosophie zu sehen.
Eben diese Gefahr besteht natürlich in allen Geisteswissenschaften. Einfach nur zu formalisieren kann den zugrundeliegenden Inhalt genauso gut verdunkeln wie klären.

Bezüglich der Härtung von Philosophie und deutender Literaturwissenschaft:
Ich denke, es ist hier hilfreich, einen Blickwinkelwechsel auf das Kriterium für Härte durchzuführen: Eine potentiell harte Wissenschaft hat präzise Fragestellungen, bei deren möglichen Antworten es allgemein anerkannte Kriterium zur Überprüfung ihrer Güte gibt. Eine harte Wissenschaft hat auch Methoden, sie zu beantworten. [Analogie zu P vs. NP]
In gewisser Hinsicht ist das äquivalent zur Vorhersageinterpretation, da man die Ergebnisse einer Überprüfung vorhersagen kann und andererseits bei Vorhersagen prüfen können muss, als wie stichhaltig sie sich erweisen. Bei manchen Wissenschaften finde ich aber diese Sichtweise weniger gekünstelt.

Weder in deutender Literaturwissenschaft noch in der Philosophie gibt es allgemein anerkannte (vollständige) Kriterien zur Überprüfung der Güte einer Darlegung, auch wenn es doch teilweise gibt. Ich denke, hier hat die analytische Philosophie einen Schritt in Richtung (potentieller) Härte getan, da sie sich um eine Klarheit bemüht, die zumindest möglich macht, Leute überzeugend zu widerlegen. Es gibt innerhalb dieser Community zumindest eine teilweise Einigkeit darüber, was ein gutes Argument ausmacht. [Man beachte, dass diese Sichtweise auf Härte eine gewichtige soziologische Komponente hat.]
In dieser Hinsicht mag auch die deutende Literaturwissenschaft sich potentiell in Richtung Härte entwickeln. Computerprogramme zu entwickeln, die Texte genauso gut deuten können, wie mancher Literaturkritiker, muss aber nicht zwangsläufig Härte in diesem Sinne bedeuten, da andere immer noch gegen diese Deutungen Sturm laufen können, und es nicht unbedingt einen Konsenssicherungsmechanismus gibt.

Den Goldstandard in Sachen Härte setzen aus dieser Sicht natürlich Mathematik und experimentelle Naturwissenschaft (nahe den "Rohdaten"). Aber auch hier ist die Härte in der Praxis natürlich nicht 100%. Wenn Argumente in der Mathematik nicht im Detail aufgeschrieben werden (und welche werden schon in jedem Detail aufgeschrieben?), kann eine Überprüfung des Arguments nicht absolut sein und es kann sich mitunter schonmal ein Disput über die Korrektheit eines Arguments entspannen, der Monate bis zur Auflösung braucht (von Fehlern, die niemandem auffallen mal ganz abgesehen). Auch bzgl. der korrekten Durchführung und Deutung eines Experiments kann es Kontroversen geben.
Ein interessanter Fall ist, finde ich, die theoretische Physik, jenseits der direkten experimentellen Überprüfbarkeit. Was ist ein korrektes Argument in der theoretischen Physik? Bestenfalls vielleicht eine mathematisch rigorose und physikalisch plausible Ableitung aus einer allgemein anerkannten Theorie. Das dürfte aber selten der Fall sein. Selbst wenn eine allgemein anerkannte Theorie als Basis gesetzt wird, wird doch üblicherweise eine Mischung aus Mathematik und physikalischer Intuition eingesetzt. Ist hier wirklich so klar, was ein korrektes und was ein falsches Argument ist?

Oh, ich wusste gar nicht, dass er da seine Finger drin hatte. Ich sehe wieder mal, dass er definitiv mehr war als der "Computer-Typ", als den man ihn üblicherweise so kennt...

Ich kann seinen wikipedia-Artikel empfehlen. Man kommt aus dem Staunen kaum noch raus ;).

@Ipsissimus:
Das ist sicher in gewisser Hinsicht wahr. Das berücksichtigt aber nicht den von mir obig erwähnten Unterschied zwischen den Disziplinen: In der Meteorologie sind genaue Vorhersagen schwierig; es besteht aber weitgehende Einigkeit darüber, wie man ihre Güte überprüfen kann. Dass Komplexität und Chaos Hindernisse zur Vorhersagbarkeit sind, steht aber außer Frage - bei Chaos gehört es geradezu zur Definition.

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Di 29. Apr 2014, 11:25 - Beitrag #7

Eine potentiell harte Wissenschaft hat präzise Fragestellungen, bei deren möglichen Antworten es allgemein anerkannte Kriterium zur Überprüfung ihrer Güte gibt.


Mit dieser Aussage ist aus meiner Sicht eine prinzipielle Frage verbunden, nämlich das Verhältnis der Antworten einer Wissenschaft zu ihrem Sujet und der Wirklichkeit dieses Sujets. Idealistischerweise erwartet man von einer hard science nicht unbedingt Annäherungen unterschiedlicher Güte an einen Sachverhalt, sondern eine definitive Klärung des Sachverhalts. Sollte man daher nicht besser nur dann von "Härte" sprechen, wenn das "vorläufig" und das "vorbehaltlich verbesserter Datenlage" endgültig aus den Theorien einer solchen Science verschwunden sind. Bzw. wäre es nicht besser, von der Härte einzelner Theorien zu sprechen statt von der Härte einer ganzen Wissenschaft? Einige Bereiche der klassischen Mechanik z.B. dürften ziemlich abgeschlossen sein, ich glaube kaum, dass es noch erhebliche oder überhaupt Modifikationen am Hebelgesetz u.dgl. geben wird. Die gleiche Härte könnte ich der theoretischen Physik nicht zubilligen.

Zustimmung zu deinen Bemerkungen über Formalisierung und vor allem Philosophie. Die diesbezüglichen Schlachten liegen irgendwo tief im Forum begraben, das scheint ein Thema zu sein, das immer wieder mal hoch kocht.

In dieser Hinsicht mag auch die deutende Literaturwissenschaft sich potentiell in Richtung Härte entwickeln. Computerprogramme zu entwickeln, die Texte genauso gut deuten können, wie mancher Literaturkritiker,


Wäre das nicht schon massive "AI", artificial intelligence? Erst "Bedeutung" zu formalisieren, dann noch "Klugheit" (wie in "klug" nachdenken) - oder einfach Intelligenz - zu formalisieren, dann noch "Ästhetik" und "Geschmack", damit der Prozessor klug über Bedeutung nachdenken und die Ergebnisse seines Nachdenkens dann in korrekten deutschen Sätzen wiedergeben kann - ein Problem, an dem die Computerlinguistik sang- und klanglos gescheitert ist -: ist das nicht ein bisschen viel der Voraussetzungen, ehe man da auch nur andeutungsweise in Richtung "Härte" nachdenken könnte? Geschweige das Problem der Gültigkeit verschiedener Perspektiven, Positionen, literarischer Schulen, Auslegungstraditionen uvm., mit deren angemessener Berücksichtigung selbst Spezialisten gelegentlich überfordert zu sein scheinen. Ich sehe das noch nicht andeutungsweise im Bereich des Möglichen.

Den Goldstandard in Sachen Härte setzen aus dieser Sicht natürlich Mathematik und experimentelle Naturwissenschaft


Ich habe schon Schwierigkeiten, Mathematik als Wissenschaft aufzufassen. Ist Logik eine Wissenschaft? Philosophie? Auch da tue ich mir schwer. Alle drei kommen mir zumindest teilweise als Metawissenschaften vor, ihre Gegenstände scheinen in erheblichem Umfang Themen anderer Wissenschaften statt ihrer eigenen zu sein. Experimentelle Naturwissenschaft sehe ich weniger als Goldstandard denn als Demonstrator, an dem - neben Chemie - das Konzept der Härte am ehesten verdeutlicht werden kann.

Wobei grundsätzlich zu fragen wäre, ob "Härte" in allen Wissenschaften dasselbe bedeuten muss. Kriterien, die in der einen stimmig sind, müssen in einer anderen nicht notwendig angebracht sein. Aber jede Wissenschaft hat einen Methodenkatalog, der sich im Laufe der Zeit in Abhängigleit von den Forschungssujets als praktikabel und zielführend erwiesen hat. Härte, definiert als Vorliegen eines Methodenkatalogs nebst Kriterien seiner Anwendung, scheint mir in diesem Sinne weniger Wissenschaften voneinander abzugrenzen, als vielmehr das Distinktionskriterium von Wissenschaft überhaupt zu sein, z.B. gegen Gläubigkeit oder Ideologie.

Das würde auch erklären, warum Prognostizierbarkeit und andere oben genannte Aspekte als Kriterien von Härte auftreten. Es sind die Kriterien, die in der Wissenschaftstheorie als Charakteristika und Notwendigkeiten für wissenschaftliches Arbeiten überhaupt eingeführt sind.

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Sa 3. Mai 2014, 11:25 - Beitrag #8

@Ipsissimus' ersten Beitrag: Diese "Trivialität", treffender fände ich "Beherrschbarkeit", ist ein wichtiger Aspekt; wie Padreic schon kurz anmerkt, aber kein hinreichendes Kriterium. Erstmal muss man zwischen Härtepotential und tatsächlich erreichter Härte unterscheiden. Fürs Potential ist die Beherrschbarkeit wesentlich, dazu aber auch noch andere Aspekte, etwa die Form der vorliegenden Daten - auch ein noch so chaotisches physikalisches System, z.B. Wetter/Klima, ist mit seinen numerischen Messergebnissen ein dankbareres Thema für eine Härteentwicklung als Literatur. Für den Istzustand sind dann auch teilweise themenunabhängige soziologische und historische Randbedingungen relevant. Z.B. könnte die Medizin heutzutage trotz ihres recht komplexen Untersuchungsgegenstandes deutlich härter sein, als sie ist, wenn sie weniger mit wirtschaftlichen Interessen vermengt und von irrationalen Verhaltensweisen eingeschränkt wäre.

@Padreic:
Das stimmt wohl für Physik. Mir ging es darum, auch für andere Disziplin Einordnungen zu finden. Beispielsweise die klassische Botanik und Zoologie - Theorie und Vorhersage spielt da nur eine untergeordnete Rolle: Es geht erstmal darum, den Ist-Zustand zu erfassen. Gleiches kann man wohl auch für große Teile der klassischen Astronomie mit ihren Sternenkatalogen sagen. Zum Teil ist das natürlich Vorbereitung fürs Theoretisieren oder, in der Biologie, auch für praktische Anwendbarkeit in Medizin oder Landwirtschaft - zu nicht unwesentlichen Teilen wird es aber sicherlich auch einfach als Selbstzweck betrieben.
Auf einer abstrakteren Ebene ist selbst reine Systematik eine Modellierung zur reduzierten Beschreibung von Beobachtungen und zur "Vorhersage". Wenn ich behaupte, einen vollständigen Katalog von Galapagosfinkenarten aufgestellt zu haben, dann habe ich die Beschreibung der Galapagosfauna gegenüber Bennenung jedes Individuums vereinfacht, und dann mache ich damit eine Vorhersage dafür, welches Vogelspektrum die nächste Expedition dort vermutlich vorfinden wird. Deutlicher wird das in der Paläontologie, die ja mit Daten aus der Vergangenheit arbeitet, diese aber öfter als die Gegenwarts-Systematik nur graduell aufdeckt und zwischendurch auf unvollständiger Datenlage Klassifikations-"Modelle" aufstellt, die dann durch neue Daten überprüft werden.
Aber ja, das ist nur eine mögliche Perspektive; man kann Kataloge auch als Kataloge an und für sich betrachten, Änderungen an ihnen nur als Fehlerkorrekturen, nicht als Modellüberprüfungen, und "echte" Vorhersagen (von über den Kataloginhalt hinausgehenden Aspekten der Wirklichkeit) als eigenen, auf ihnen aufbauenden Forschungsbereich. Das ist auch in der Praxis meist nützlicher. Mein "nur sehr begrenzt für die Methodik" war vermutlich zu vorschnell gedacht, beim "nicht fundamental"-Urteil bleibe ich aber.

Präzisierung=Verdunklung ist eine interessante Pathologie, die wohl tatsächlich nicht zu selten auftritt. Das Gegenteil, Unpräzision/Weichheit = Verdunklung, würde ich aber für häufiger halten - viel klassische Philosophie ist doch nur "Verdunklung" durch schwülstige, eben nicht hart-präzise, Umschreibung. Sicher hat die analytische Philosophie keine echte Revolution ihres Fachgebietes erbracht, sonst würde man heutzutage von der Philosophie als Ganzem ganz anders reden. Einen gewissen positiven Einfluss kann man ihr aber wohl kaum abstreiten (siehe deine Anmerkung weiter unten). Und ich nannte auch bewusst "Formalisierungsschübe" im Plural - Aristoteles, Scholastik, Humanismus (nunja, grenzwertig), Kant, Russell waren doch auch welche.

Ich denke, es ist hier hilfreich, einen Blickwinkelwechsel auf das Kriterium für Härte durchzuführen: Eine potentiell harte Wissenschaft hat präzise Fragestellungen, bei deren möglichen Antworten es allgemein anerkannte Kriterium zur Überprüfung ihrer Güte gibt. Eine harte Wissenschaft hat auch Methoden, sie zu beantworten. [Analogie zu P vs. NP]
In gewisser Hinsicht ist das äquivalent zur Vorhersageinterpretation, da man die Ergebnisse einer Überprüfung vorhersagen kann und andererseits bei Vorhersagen prüfen können muss, als wie stichhaltig sie sich erweisen. Bei manchen Wissenschaften finde ich aber diese Sichtweise weniger gekünstelt.
Die Umformulierung klingt gut, aber bei genauerer Betrachtung würde ich sie nicht als volläquivalent gelten lassen, sogar weder als hinreichendes noch notwendiges Teilkriterium. Mangelnde Datenlage (s.o.) deckt das neue Kriterium zwar ab, denn dann hat man eben keine "Methoden zur Beantwortung" (sofern man die Daten als Teil der Methode auffasst). Aber es gibt ja noch die Möglichkeit, dass nicht alle möglichen Antworten erforscht werden können (z.B. simple numerische Überkomplexität der Modelle) - dann kann man zwar vielleicht zig Modelle auf anerkannte Weisen falsifizieren, hat aber noch lange keine Vorhersagekraft, weil man eben das richtige Modell nicht findet.
Insofern ist aber vielleicht sogar Vorhersagekraft nicht das ideale Kriterium für Härte, sondern eher deines - manche Randbereiche der Physik würde ich methodologisch durchaus als hart ansehen, auch wenn sie eben noch keine Vorhersagekraft erreichen.

Die Germanistik-Programme waren nicht als Kritikerersatz bei ansonsten gleichbleibendem Konsensfindungsmechanismus gedacht, darauf träfen deine Einwände zu, sondern als Konsensfindungsunterstützung für menschliche Kritiker. Das wäre gerade für dein umformuliertes Kriterium ein hilfreicher Schritt. Man könnte zumindest Teilargumente von Interpretationen falsifizieren und der kritisierte Kritiker müsste sich zumindest neue Umwege ausdenken.

Die reinste theoretische Physik steht für mich etwas außerhalb dieses Diskussionsfeldes, wie für Ipsissimus die Mathematik, da es am Datenbezug fehlt. Sobald aber eine gewisse Relevanz der Konstrukte als praktisches Modell postuliert wird, wie dies sicher bei 90% auch der theoretischen Theoretiker noch der Fall ist, kann man Härtekriterien anwenden. Dann landet man bei sehr hohem Formalisierungs- und Objektivierbarkeitsgrad, aber bei mangelnder Vorhersagekraft bzw. Beantwortungsmöglichkeit - also tatsächlich nicht gerade eine harte Wissenschaft par excellence. Hauptvorteil der Physiker gegenüber Geisteswissenschaftlern oder Philosophen in ähnlicher Lage ist (neben der simplen Datengrundlage, die ihre Fachkollegen schon haben und von der sie wissen, dass sie sie selbst zumindest prinzipiell anstreben können) ihre historische Erfahrung und soziologische Einbettung in erfolgreich harte Methoden; die möglichen Wege zur Herstellung von Vorhersagekraft und somit zur Härtung sind deutlich klarer und können daher gezielt angegangen werden und somit als großes Ziel stets vor Augen schweben.

@Ipssisimus2:
Idealistischerweise erwartet man von einer hard science nicht unbedingt Annäherungen unterschiedlicher Güte an einen Sachverhalt, sondern eine definitive Klärung des Sachverhalts.
Das Thema hatte ich schonmal ausführlich mit Maurice ("absolute Wahrheitskriterien") - "idealistischerweise" würde ich hier durch "naiverweise" ersetzen. Ein Härtebegriff, der absolute Klärung voraussetzt, wäre in fast allen Bereichen (auch bei optimistischer Sichtweise inklusive Physik) niemals erfüllbar, somit leer und nutzlos. Für einen nützlichen Härtebegriff kann man allerhöchstens verlangen, dass es ein Metamodell gibt, das für die absehbare Zukunft keine nennenswerten Beiträge zur Erhöhung des Klärungsgrades mehr erwarten lässt.
Bzw. wäre es nicht besser, von der Härte einzelner Theorien zu sprechen statt von der Härte einer ganzen Wissenschaft?
"Theorie" ist ein etwas unterdefinierter Begriff, und wie zuvor aufgeführt, sind Daten unerlässlich für Härte, Beurteilung rein auf der Theorieebene hilft da nicht weiter. Sich auf "Unterwissenschaften" oder "Themengebiete" zu beschränken, haben Padreic und ich ja aber auch schon angeregt.
Einige Bereiche der klassischen Mechanik z.B. dürften ziemlich abgeschlossen sein, ich glaube kaum, dass es noch erhebliche oder überhaupt Modifikationen am Hebelgesetz u.dgl. geben wird. Die gleiche Härte könnte ich der theoretischen Physik nicht zubilligen.
Auch die Hebelgesetze sind nicht fundamentaler "abgeschlossen" als etwa die ART: bei beiden glaubt niemand ernsthaft an Änderungen innerhalb eines gewissen Gültigkeitsbereiches, bei beiden sind diese aber aus hyperskeptischer Sicht ("vielleicht waren alle unsere bisherigen Messungen ja nur ein unwahrscheinlicher Ausreißer") nicht absolut unmöglich. Es gibt graduelle Unterschiede in der Signifikanz (wobei "graduell" hier durchaus mehrere Größenordnungen umfasst ;)), und bei der ART ist der Gültigkeitsbereich weniger klar umrissen. Aber prinzipiell ist der erkenntnistheoretische Status derselbe.
Zudem sei nochmal angemerkt, dass "theoretische Physik" eben kein Themengebiet ist, sondern eine Methodik, soziologische Gruppe oder Denkweise. Um besonders dieses Begriffspaar zu dekonstruieren: an der Uni lernt man "klassische Mechanik" in der Vorlesung "Theoretische Physik". ;) Die Härte eines Untergebietes der Physik kann man nur beurteilen, wenn man seine theoretischen wie experimentellen/beobachtenden Aspekte miteinbezieht. Fehlen letztere, was vermutlich der Fall ist, auf den du dich beziehst, ist das dann natürlich schon ein massiver Mangel, siehe obigen mit Padreic diskutierten Fall.
Computerprogramme zu entwickeln, die Texte genauso gut deuten können, wie mancher Literaturkritiker,
Wäre das nicht schon massive "AI", artificial intelligence?
Vermutlich ja - und eben deshalb nicht der Fall, den ich diskutieren wollte, siehe Richtigstellung weiter oben.
Die Computerlinguistik ist aber eben nicht mehr sang- und klanglos gescheitert - die klassischen, KI-nahen Ansätze weitgehend, aber die eigentlich primitiven statistischen funktionieren doch bemerkenswert gut. Google Translate produziert oft Brei, aber bemerkenswert oft halbwegs verständlichen und die meisten Informationen wiedergebenden Brei. Und die Aufgaben, an die ich dachte, sind ja eher einfacher.
Experimentelle Naturwissenschaft sehe ich weniger als Goldstandard denn als Demonstrator, an dem - neben Chemie - das Konzept der Härte am ehesten verdeutlicht werden kann.
Inwiefern ist Chemie keine "experimentelle Naturwissenschaft"? :confused: Und gemäß deinem (meines Erachtens) übertriebenen Klärungskriterium gibt es dann halt gar keinen Goldstandard und wird ihn auch nie geben...?
Wobei grundsätzlich zu fragen wäre, ob "Härte" in allen Wissenschaften dasselbe bedeuten muss. Kriterien, die in der einen stimmig sind, müssen in einer anderen nicht notwendig angebracht sein.
Ich denke, gerade deshalb haben wir die "Härte"-Diskussion: wir suchen nach einem gemeinsamen Aspekt, der die jeder Einzelwissenschaft angemessenen Kriterien zusammenführen kann. Die Kriterien für Härte mögen überall anders sein, eine numerische Gesamtskala wird sich kaum aufstellen lassen, aber man hat eben doch das Gefühl, dass es da eine gemeinsame Frage gibt, die man allen Gebieten stellen kann.
Härte mit Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen, finde ich dann entweder eine Entwertung oder übertriebene Aufwertung des einen oder anderen Begriffes - wir haben ja schon nicht ganz deckungsgleiche, aber doch halbwegs intuitiv-naheliegende Vorstellungen von Härte herausgearbeitet, selbiges könnten wir für Wissenschaftlichkeit (oder haben das bestimmt schonmal irgendwo gemacht), und wenn man jetzt alles, was nicht hart ist, unwissenschaftlich nennt, wäre das ebenso unfair wie alles, was wissenschaftlich ist, automatisch hart zu nennen. Wissenschaftlichkeit ist für mich eine Grundvoraussetzung für Härte, aber man kann auch wissenschaftlich sein, ohne hart zu sein. Provokanter Teil: nur nicht so gut... "Wissenschaftlichkeit" und "Härte" als zwei Stufen auf einer gemeinsamen Skala...? Das ist dann gerade die Frage, an der sich totalitäre Naturwissenschaftler und Weichheitsapologeten zoffen.

Ipsissimus
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Sa 3. Mai 2014, 15:11 - Beitrag #9

Erstmal muss man zwischen Härtepotential und tatsächlich erreichter Härte unterscheiden.

ich sehe nach wie vor keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen "Härte" und den wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Naturwissenschaft; "Härte" scheint mir bislang nichts wesentlich anderes zu sein als eine Umformulierung und evtl. Umwichtung oder auch Zusammenfassung einzelner solcher Grundlagen wie Reproduzierbarkeit der Ergebnisse und Prognosesicherheit der Modelle. In etwa das, was bei Theorien als "Robustheit" bezeichnet würde.

Ein Härtebegriff, der absolute Klärung voraussetzt, wäre in fast allen Bereichen (auch bei optimistischer Sichtweise inklusive Physik) niemals erfüllbar, somit leer und nutzlos.

solange der Begriff der "Härte" nicht wirklich definiert ist, bleibt eigentlich grundsätzlich offen, wie nützlich die Einführung eines solchen Konzeptes überhaupt ist. Es ist, wie du sagst, eine Ahnung dessen, worauf der Begriff abzielt, liegt vor, bleibt bislang aber vage. Aus meiner Sicht wären z.B. die Hebelgesetze unter irdischen Verhältnissen in einem absoluten Sinne "hart". So hart, dass bei abweichenden Messungen eher Fehler der Messung angenommen werden als das Gesetz in Frage zu stellen. Aber damit ist im Prinzip nichts anderes gesagt, als dass unter irdischen Verhältnissen völlige Prognosesicherheit gegeben ist, also ein Kriterium, das in der Wissenschaftstheorie sowieso gefordert wird. Warum also umbenennen? Und Absolutheit ist ein Konzept, von dem wir uns in gewisser Weise ohnehin verabschiedet haben.


Google Translate produziert oft Brei, aber bemerkenswert oft halbwegs verständlichen und die meisten Informationen wiedergebenden Brei.

Das tut Google-Translate aber nur, weil anschließend in einem menschlichen Gehirn Korrekturalgorithmen aktiv werden, die aus dem Brei das herausfischt, was für die Übersetzung relevant ist. Wir haben hier den Fall vorliegen, dass in einer Richtung unser eigenes Sprachvermögen als Referenz vorliegt: wird in unsere Muttersprache übersetzt (oder wenigstens in eine Sprache, die wir einigermaßen beherrschen) können wir korrigieren. Bei Übersetzung in eine Fremdsprache, von der wir überhaupt keine Ahnung haben, ist Gottvertrauen geboten^^ und vermehrt bei Übersetzungen zwischen zwei Sprachen, bei denen wir von beiden keine Ahnung haben. Die Hilfeleistung ist also sehr reduziert und bedarf originaler Fähigkeiten des menschlichen Gehirns.

Im Falle eines Deutungsprogrammes sind diese Probleme nochmal deutlich verschärft, einfach weil statistische Algorithmen keine Ahnung von "Bedeutung" oder weitergehenden Musterkonzepten haben. Ich wäre nicht im Geringsten überrascht - gehe sogar davon aus -, wenn ein derartiges Programm einfach nur Textmüll produziert, zu dessen Sichtung genauso viel oder mehr Zeit verwendet werden muss, wie es bedürfte, um gleich eine ordentliche Kritik auf Grundlage eigenen Wissens, eigener Recherche und eigenen Nachdenkens zu verfassen.

Inwiefern ist Chemie keine "experimentelle Naturwissenschaft"?


Das war ein Verschreiber von mir, sorry. Ich meinte "experimentelle Physik" als Demonstrator, ansonsten vergleichbar nur mit Chemie.


Härte mit Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen, finde ich dann entweder eine Entwertung oder übertriebene Aufwertung des einen oder anderen Begriffes

Ich bin ja auch nach wie vor nicht davon überzeugt, dass das Konzept der Härte von irgendeiner Nützlichkeit ist, die über die Wissenschaftlichkeitskriterien hinausgeht.

Padreic
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So 4. Mai 2014, 03:48 - Beitrag #10

Ich kann Traitor zustimmen, dass Wissenschaftlichkeit und Härte nicht synonym sind. Ich sehe erst einmal alle Disziplin als Wissenschaften, die üblicherweise so bezeichnet werden, inklusive Mathematik und Rechtswissenschaft. Will Philosophie Klarheit über einen Begriff gewinnen, sollte sie diesen nicht gegenüber dem üblichen Gebrauch einfach umdefinieren. Mathematik ist, wie Logik, eine Formalwissenschaft. Logik untersucht die Form von (korrekten) Schlüssen. Mathematik hat ein sehr viel weiteres Themengebiet von Formen, inklusive geometrischer und numerischer Formen.

Man kann, wenn man einen Begriff wie 'Wissenschaft' untersucht, natürlich erstmal gewisse Bereiche des Begriffs (wie Mathematik oder Rechtswissenschaft) ausschließen, um einen einfacheren Zugriff zu erlauben. In diesem Fall führt das häufig dazu, Wissenschaft bloß am Paradigma der Naturwissenschaften zu sehen. Ich ziehe vor, den Begriff erstmal nicht einzuschränken, sondern vielmehr zu fragen, ob der Begriff univok, analog oder äquivok gebraucht wird: will sagen, ob 'Wissenschaft' in 'Naturwissenschaft' und 'Rechtswissenschaft' das gleiche bedeutet, ähnliches bedeutet oder ganz unterschiedliches.

Ich denke, bei geeigneter Definition kann man den Begriff Wissenschaft durchaus als univok sehen. Jeder Wissenschaftler hat, insofern er Wissenschaftler ist, die Profession, nach Wahrheit und Verstehen zu suchen. Das sollte man durchaus noch weiter füllen (z. B. auch von der Perspektive der Soziologie), aber lassen wir es erstmal dabei beruhen.

Interessant finde ich die Frage, ob sich jede Wissenschaft mit ihrem Fortschritt letztlich in Richtung einer harten Wissenschaft entwickeln sollte. Ich finde das keineswegs selbstverständlich. Ich weiß nicht, ob ich es als Fortschritt sehen würde, wenn es in der Rechtswissenschaft, Philosophie (?) oder der deutenden Literaturwissenschaft einen Konsens über den Methodenkatalog statt verschiedener Schulen gäbe, letztlich Konsens statt Debatte. In der Physik gibt es Debatte, sie ist aber in ihren harten Bereichen nur temporär oder wird in langer Hinsicht, bei verbesserter Datenlage immer durch Konsens ersetzt (oder so könnte man denken). Zumindest methodisch geht man in der Physik doch davon aus, dass es eine Wahrheit über die physikalische Wirklichkeit gibt, die man eben rausfinden möchte.
In der Literaturwissenschaft sind alle Debattanten darum bemüht, den Text zu verstehen, aber man kann wohl kaum sagen, dass es nur eine Wahrheit über den Text gibt. Insofern mag man verschiedene Perspektiven von verschiedenen Schulen als wünschenswert betrachten.

Das kann man der Literaturwissenschaft als mangelnde Wissenschaftlichkeit auslegen, aber ich finde den Begriff der Härte da doch für angemessener. Es ist ein Begriff der häufig in der Alltagssprache verwendet wird und unsere Debatte hier zeigt doch, dass man ihn durchaus mit Inhalt füllen kann in einer Weise, dass er die Unterschiede zwischen den Wissenschaften beleuchtet.

Edit: @Ipsissimus: Außerdem scheinst du den Begriff der Härte einer Wissenschaft auch durchaus zu benutzen ;):
bevor ich irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse angelsächsischer hard scientists akzeptiere, die soziologisch relevant sind, explodiert die Sonne


@Traitor:
Bezüglich Ist-Zustand und Vorhersagbarkeit: Du hast recht, dass wir eine scheinbar reine Erfassung des Ist-Zustands nur dann als Wissenschaft sehen werden, wenn die katalogisierten Aspekte eine gewisse Konstanz haben, mithin zumindest Vorhersagbarkeit für die nähere Zukunft erlauben. Wenn man bloß die Position aller Galapagos-Finken am 3.5.2014 um 20:45 erfasst, ohne daraus Schlüsse zu ziehen oder dies mit anderen Daten zu vergleichen, mag das zwar beeindruckend sein, ist aber keine Wissenschaft. Sternpositionen sind da wesentlich angenehmer, zumindest wenn man Erddrehung miteinbezieht.

Präzisierung=Verdunklung ist eine interessante Pathologie, die wohl tatsächlich nicht zu selten auftritt. Das Gegenteil, Unpräzision/Weichheit = Verdunklung, würde ich aber für häufiger halten - viel klassische Philosophie ist doch nur "Verdunklung" durch schwülstige, eben nicht hart-präzise, Umschreibung. Sicher hat die analytische Philosophie keine echte Revolution ihres Fachgebietes erbracht, sonst würde man heutzutage von der Philosophie als Ganzem ganz anders reden. Einen gewissen positiven Einfluss kann man ihr aber wohl kaum abstreiten (siehe deine Anmerkung weiter unten). Und ich nannte auch bewusst "Formalisierungsschübe" im Plural - Aristoteles, Scholastik, Humanismus (nunja, grenzwertig), Kant, Russell waren doch auch welche.

Vollständige Zustimmung. Was man klar sagen kann, soll man klar sagen. Die Philosophie hat da, trotz aller Moden, doch Fortschritte gemacht. Die Gefahr ist da jedoch immer, dass, was man nicht einfach klar sagen kann, einfach zu ignorieren. Etwas dunkel zu sagen, mag besser sein, als es einfach gar nicht zu sagen.

Die Umformulierung klingt gut, aber bei genauerer Betrachtung würde ich sie nicht als volläquivalent gelten lassen, sogar weder als hinreichendes noch notwendiges Teilkriterium. Mangelnde Datenlage (s.o.) deckt das neue Kriterium zwar ab, denn dann hat man eben keine "Methoden zur Beantwortung" (sofern man die Daten als Teil der Methode auffasst). Aber es gibt ja noch die Möglichkeit, dass nicht alle möglichen Antworten erforscht werden können (z.B. simple numerische Überkomplexität der Modelle) - dann kann man zwar vielleicht zig Modelle auf anerkannte Weisen falsifizieren, hat aber noch lange keine Vorhersagekraft, weil man eben das richtige Modell nicht findet.

Du hast recht, dass man 'potentielle Härte' in meinem Sinne nicht als realistisch erwartbare Härte deuten sollte, wodurch meine Terminologie etwas bescheuert wird. Die Analogie zu P vs. NP ist hier durchaus interessant. Ein (algorithmisches) Problem heißt ja, grob gesprochen, P, wenn es einen effizienten Algorithmus zu dessen Lösung gibt, NP, wenn es einen effizienten Algorithmus zur Überprüfung, ob ein Lösungsvorschlag wirklich eine Lösung ist, gibt. Man vermutet natürlich, dass nicht jedes NP-Problem ein P-Problem ist, aber man hat noch kein NP-Problem angeben können, wo man sicher ist, dass es keinen effizienten Algorithmus zu dessen Lösung gibt. Genauso halte ich es für sehr schwer auszuschließen, dass eine Wissenschaft nicht durch einige clevere Ideen effiziente Lösungsalgorithmen entwickeln kann.

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So 4. Mai 2014, 10:44 - Beitrag #11

Zwei Zitate, eine Antwort:
Zitat von Ipsissimus:ich sehe nach wie vor keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen "Härte" und den wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Naturwissenschaft

und
solange der Begriff der "Härte" nicht wirklich definiert ist, bleibt eigentlich grundsätzlich offen, wie nützlich die Einführung eines solchen Konzeptes überhaupt ist.

Daher der Eingangsbezug auf einen Blogbeitrag zu einer "da draußen" äußerst lebendigen Debatte: es gibt ein von vielen Schreibern geteiltes diffuses Gefühl einer Nützlichkeit für einen Begriff, der in etwa die derzeitige Trennlinie zwischen (den meisten Teilgebieten der meisten) Naturwissenschaften und (den meisten Teilgebieten der meisten) Geisteswissenschaften einfängt, aufgrund der bekannten Ausnahmen und erhofften zeitlichen Verallgemeinerbarkeit aber nicht einfach identisch mit "Naturwissenschaftlichkeit" sein kann, und mit dem sich die wahrgenommene graduelle Annäherung mancher Teilgebiete mancher Geisteswissenschaften an die (meisten Teilgebieten der meisten) Naturwissenschaften beschreiben lässt.
Nun bin ich pragmatisch genug, um direkt damit anzufangen, nach einer Definition zu suchen, die diese Ansprüche erfüllt, anstatt erst theoretisch fundiert die angenommene Nützlichkeit beweisen zu wollen. Eine grundsätzliche Widerlegung der Nützlichkeit wäre natürlich auch eine gültige Antwort auf die Frage; aber wie üblich wird die kaum möglich sein, sondern realistisch gesehen nur eine Erschöpfung aller halbwegs naheliegenden Definitionen und dadurch praktische Diskreditierung des Begriffes.
Aber damit ist im Prinzip nichts anderes gesagt, als dass unter irdischen Verhältnissen völlige Prognosesicherheit gegeben ist, also ein Kriterium, das in der Wissenschaftstheorie sowieso gefordert wird.
Ob Prognosesicherheit ein notwendiges und hinreichendes Kriterium ist, darüber diskutieren wir ja schon seit einigen Beiträgen, so offensichtlich ist das nicht. Konkret auf den Bezug zur Wissenschaftlichkeit an sich würde ich sagen, dass Härte ein höheres Kriterium an Vorhersagekraft/Prognosesicherheit stellt: für Wissenschaftlichkeit fordert man üblicherweise nur, dass ein Forscher anstrebt, unter den Umständen größtmögliche Vorhersagekraft zu erreichen; für Härte kann man auch ein gewisses Maß an tatsächlichem Erfolg verlangen. Generell würde ich "Wissenschaftlichkeit" eher als ethische Anforderung an Forscherverhalten verstehen, "Härte" als Zustandsbeschreibung des Gesamtzustandes eines Felds, also nicht nur Verhalten, sondern auch Ergebnisse.

@"Google Interpret": Wie gesagt, ich rede doch gar nicht von einem Programm, das einen Interpretationstext produziert. Ich rede davon, dass ein menschlicher Kritiker einen spezifischen statistischen Rechercheauftrag an ein Programm gibt und Zahlen oder Wortlisten zurückbekommt, die er dann in Eigenverantwortung interpretiert und in seinen Text einfließen lässt. Oder das Programm in einer nächsten Stufe vielleicht anfangs eine ganze Liste möglicher Rechercheaspekte abarbeitet, oder sogar automatisch auffällige Muster entdeckt und damit solche Aspekte selbst findet - aber wiederum nur als Rohmaterial weitergibt. Und natürlich kann das dann nur ein spezialisierter Kritiker angemessen weiterverwenden, analog zum Übersetzungsergebnis, mit dem nur jemand mit Zielsprachkenntnis viel anfangen kann.

PS@Padreic: Fieser Editierkommentar. ;)

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So 4. Mai 2014, 11:27 - Beitrag #12

Bezüglich [hard] vs [Wissenschaftlichkeit]: Es mag hinsichtlich der Begriffsverwendung auch einen sprachlichen Hintergrund geben, im englischen gibt es wohl "scientific" für wissenschaftlich, das für Wissenschaftlichkeit passende "scientificy" ist aber relativ ungebräuchlich, man hat sich daher auf hard/soft verlegt.

Ipsissimus
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So 4. Mai 2014, 18:28 - Beitrag #13

Ipsi ärgern

Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid^^

@Ipsissimus: Außerdem scheinst du den Begriff der Härte einer Wissenschaft auch durchaus zu benutzen ;):
bevor ich irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse angelsächsischer hard scientists akzeptiere, die soziologisch relevant sind, explodiert die Sonne

ich übernehme da nur die geläufige Bezeichnung zwecks besserer Verständigung. Irgendeine Form von Auszeichnung ist für mich damit nicht verbunden^^ "hart" ist bestenfalls meine Haltung gegenüber den hard sciences, sobald sie versuchen, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen und dabei einfach nur neolib in wissenschaftlichen Slang gießen


es gibt ein von vielen Schreibern geteiltes diffuses Gefühl einer Nützlichkeit für einen Begriff, der in etwa die derzeitige Trennlinie zwischen (den meisten Teilgebieten der meisten) Naturwissenschaften und (den meisten Teilgebieten der meisten) Geisteswissenschaften einfängt


ich könnte mir "Härte" noch als eine Art "Zuverlässigkeit" vorstellen. Je weniger der Forschungsgegenstand vor, während und nach den Messungen in seinen Eigenschaften unsystematisch permutiert, desto zuverlässiger die Aussagen über ihn. Das liegt aber dann weniger an einer genuinen Höherwertigkeit einer hard science, sondern an der Trivialität ihrer Gegenstände, also einem erheblichen Vorteil hinsichtlich der methodischen Annäherung an die Gegenstände^^

ich denke, darum dreht sich diese ganze Diskussion wirklich^^ man möchte gerne die Höherwertigkeit des eigenen Ansatzes allgemeiner Anerkennung zuführen^^

Padreic
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So 4. Mai 2014, 19:40 - Beitrag #14

Ist 'hart' denn ein grundsätzlich positiv konnotiertes Wort? Ich denke, das kommt immer sehr auf den Kontext an. Hart wie Kruppstahl, aber auch hartherzig oder hartes Bett.

Ipsissimus
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Do 8. Mai 2014, 10:19 - Beitrag #15

Ohne Kontext kann der Begriff wohl mit einem weiten Bereich von Wertungsabstufungen versehen sein. Im Kontext unserer Diskussion ergibt "Härte" als negative Eigenschaft keinen rechten Sinn. Zumindest dürfte kaum jemand darum kämpfen, sich negativ abzuheben, wenn es im weitesten Sinne um Anerkennung und Forschungsgelder geht^^

janw
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Do 8. Mai 2014, 14:33 - Beitrag #16

Ich würde "Härte" in diesem Zusammenhang als ein Maß ansehen für die Belastbarkeit, Zuverlässigkeit von Ergebnissen der jeweiligen Wissenschaft. Das entspricht etwa dem prinzipiellen Vorhalt gegenüber den Geisteswissenschaften, daß ihre Ergebnisse vielfach nur schwer zu reproduzieren seien, vielfach bei nahe verwandten Fragestellungen sogar widersprüchlich.

In meinen Augen ist dieser Vorhalt etwas ambivalent:
Der Vorhalt wird praktisch ausschließlich von Naturwissenschaftlern gemacht, die aus ihren Fächern heraus auf bestimmte Arten der Fragestellung und bestimmte Arten der Wechselwirkung geeicht sind. Diese Arten der Fragestellung bzw. der Wechselwirkung können sie oft in geisteswissenschaftlichen Arbeiten nicht erkennen, was einerseits zu Nicht- oder Mißverständnissen führt, andererseits vielleicht auf das Problem verweist, daß Natur- und Geisteswisenschaften tatsächlich mit verschiedenen Arten der Fragestellung, Wechselwirkung und Kategorien arbeiten.

Mir scheint, daß es ein ungeschriebenes Dogma sei, daß die Grundeigenschaften von aus einander entwickelten Systemen konstant sein sollten. Das Problem ist, daß diese, z.B die Naturgesetze, zwar einen sehr weiten Geltungsbereich haben, aber nicht zwangsläufig für alle Gegenstände der Welt zutreffen müssen.

Vielleicht wäre es hilfreich, mit dem Motiv der Emergenz zu argumentieren und einen partiellen Regelbruch bei emergenten Systemen einer höheren Komplexitätsstufe zu postulieren.
Damit würde dann dem Regelbruch nanoskaliger Systeme ein weiterer auf "megaskaliger" Ebene folgen

Ipsissimus
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Do 8. Mai 2014, 16:21 - Beitrag #17

das Emergenzpostulat beträfe dann aber die Phänomene, nicht die Theorien, oder missverstehe ich dich, Jan?

janw
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Do 8. Mai 2014, 20:27 - Beitrag #18

Insofern, daß Theorien aus beobachteten Phänomenen gewonnen werden, beträfe es beides.

Ipsissimus
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Fr 9. Mai 2014, 11:31 - Beitrag #19

das verstehe ich nicht^^ Emergenz ist doch eine Blackbox, oder sehe ich das falsch? Eine Theorie kann zwar mit Emergenz argumentieren, aber damit ist ja nichts geklärt

janw
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Fr 9. Mai 2014, 12:44 - Beitrag #20

Hm ja...^^ das liefe dann auf emergente Theorien hinaus...
Was ich sagen wollte, ist dies:

Die physikalisch-chemischen Vorgänge in Zellen und in Vielzellern lassen sich mit den Erkenntnissen der Physik und der Chemie erklären, deren Theorien sind hier anwendbar.
Dies gilt aber nur noch bedingt für die Ergebnisse der Hirntätigkeit jenseits der lebenserhaltenden Prozesse, wie die Psyche, Persönlichkeit, Verhalten usw.
Man könnte hier mit reiner Komplexität der Systeme argumentieren - z.B. wie viele Nervenknoten daran beteiligt sind im Vergleich zu einem Reflexbogen, was dann zu einer Vervielfachung von Zufallsvariablen führen würde, ebenso mit der Plastizität des Nervensystems, und dem hohen Unsicherheitsfaktor durch die bestehende Unkenntnis der Informationsspeicherung im Gehirn.
Aber das führt nicht weiter, wenn man besieht, daß dieses kontingente System doch immer zu etwas relativ Konstantem führt, einer individuellen Persönlichkeit mit individuellen psychischen und Verhaltensmerkmalen.
Die Versuche, psychisches Geschehen mit Begriffen der Physik zu beschreiben und zu erklären, wie "Triebenergie", "Triebstau" sind meines Wissens ziemlich in Verruf geraten, vieles von Freud gilt heute als nicht mehr haltbar.

Besonders schwierig wird es für die naturwissenschaftliche Theorie vom Organismus, wenn man Glaubensphänomene integriert. Schüssler-Salze^^

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