Harte und weiche Wissenschaften
Verfasst: Sa 26. Apr 2014, 18:58
Zur Einleitung ein Eintrag aus dem Backreaction-Blog der Physikerin Sabine Hossenfelder: Will the social sciences ever become hard sciences? Wenn auch eher als Aufhänger für eine Tangente denn als Hauptdiskussionsgrundlage.
Die klassische Aufteilung zwischen Naturwissenschaften/Geisteswissenschaften (sciences/humanities) krankt bekantermaßen an vielen Grenzfällen, z.B. Archäologie oder Psychologie, und die Mathematik steht systematisch eigentlich ganz außen vor, obwohl sie sozial klar bei den Naturwissenschaften abhängt.
Eine andere interessante Trennlinie ist dann die "Härte" einer Wissenschaft, wie sie Hossenfelder diskutiert. Intuitiv ist ziemlich klar, was damit gemeint ist; was genau es ist, ist dann aber etwas schwerer zu definieren. Quantitativität, Mathematisiertheit, Rigidität, Objektivierbarkeit, Überprüfbarkeit, Organisiertheit, "Nützlichkeit"...
Klar ist aber auf jeden Fall, dass es keine klare Zuordnung zwischen Härte/Weichheit und Natur-/Geisteswissenschaften gibt, selbst jenseits der Grenzfälle: Teilgebiete mancher eindeutiger Geisteswissenschaften, etwa Linguistik, können durchaus anhand der meisten genannten Kriterien "härter" sein als Teilgebiete mancher Naturwissenschaften (Medizin, Ökologie, ...).
Hossenfelder arbeitet für sich als Hauptkriterium für Härte die Vorhersagekraft (predictive power) heraus. Hat eine Wissenschaft Modelle (qualitativ oder quantitativ) für wiederholbare Beobachtungen, die nach bisheriger Erfahrung mit akzeptabler Genauigkeit die Ergebnisse vorhersagen, so ist sie hart. Das ist dann für mich der Hauptanlass für diesen Thread: ist das ein hinreichendes Kriterium?
Meines Erachtens nicht. Es fehlen zwei eng verwandte, aber nicht automatisch verknüpfte Aspekte: Zurückführung der Modelle auf grundlegende Prinzipien und logische Ableitung ebenfalls vorhersagekräftiger Modelle aus solchen Prinzipien für mehrere Beobachtungsgebiete.
Rein empirisch überprüfte Vorhersagekraft kann immer auch nur ein glücklicher Zufall sein. Hat man ein deskriptives Modell rein heuristisch an vorliegende Daten angepasst, ohne eine grundlegende Erklärung dafür zu haben, so kann es sein, dass man sich auf eine untypische Stichprobe gestützt hat, die vielleicht durchaus noch längere Zeit anhält, aber irgendwann nicht mehr, und dann das Modell nicht mehr passt. Maurice würde da wohl wieder "induktive Fehlschlüsse" anführen.
Tatsächlich kann man sich in empirischen Wissenschaften nie ganz vor solchen Fehleichungen schützen, komplett gesicherte Vorhersagekraft gibt es auch in den härtesten Wissenschaften nicht. Aber die beiden Zusatzkriterien sollten immerhin selbst aus stark skeptischer Haltung heraus noch starke Heuristiken sein, um das Risiko einer Fehlmodellierung nichtfundamentaler Datenaspekte zumindest stark zu senken.
Und das ist es dann eben, was eine "harte" Wissenschaft ausmacht: auch Physiker finden keine absoluten Wahrheiten, aber sie können zumindest deutlich größeres Vertrauen auf ihre Modelle reklamieren als die meisten Psychologen, Mediziner oder "big data"-Analysten, deren Modelle vielleicht empirisch auch Vorhersagekraft zu haben scheinen, bei denen aber niemand wenigstens halbwegs genau weiß, warum sie diese haben sollten.
Der andere fundamentale Diskussionsaspekt wäre natürlich, ob man Härte für grundsätzlich der Weichheit überlegen und eine imperative zeitliche Entwicklung der Einzelwissenschaften Richtung steigender Härte voraussetzen will. Und, falls man das will, der nächste: die Beurteilung der Schwierigkeiten und des Erfolgs der "Härtung" der Geisteswissenschaften, siehe Blog.
Die klassische Aufteilung zwischen Naturwissenschaften/Geisteswissenschaften (sciences/humanities) krankt bekantermaßen an vielen Grenzfällen, z.B. Archäologie oder Psychologie, und die Mathematik steht systematisch eigentlich ganz außen vor, obwohl sie sozial klar bei den Naturwissenschaften abhängt.
Eine andere interessante Trennlinie ist dann die "Härte" einer Wissenschaft, wie sie Hossenfelder diskutiert. Intuitiv ist ziemlich klar, was damit gemeint ist; was genau es ist, ist dann aber etwas schwerer zu definieren. Quantitativität, Mathematisiertheit, Rigidität, Objektivierbarkeit, Überprüfbarkeit, Organisiertheit, "Nützlichkeit"...
Klar ist aber auf jeden Fall, dass es keine klare Zuordnung zwischen Härte/Weichheit und Natur-/Geisteswissenschaften gibt, selbst jenseits der Grenzfälle: Teilgebiete mancher eindeutiger Geisteswissenschaften, etwa Linguistik, können durchaus anhand der meisten genannten Kriterien "härter" sein als Teilgebiete mancher Naturwissenschaften (Medizin, Ökologie, ...).
Hossenfelder arbeitet für sich als Hauptkriterium für Härte die Vorhersagekraft (predictive power) heraus. Hat eine Wissenschaft Modelle (qualitativ oder quantitativ) für wiederholbare Beobachtungen, die nach bisheriger Erfahrung mit akzeptabler Genauigkeit die Ergebnisse vorhersagen, so ist sie hart. Das ist dann für mich der Hauptanlass für diesen Thread: ist das ein hinreichendes Kriterium?
Meines Erachtens nicht. Es fehlen zwei eng verwandte, aber nicht automatisch verknüpfte Aspekte: Zurückführung der Modelle auf grundlegende Prinzipien und logische Ableitung ebenfalls vorhersagekräftiger Modelle aus solchen Prinzipien für mehrere Beobachtungsgebiete.
Rein empirisch überprüfte Vorhersagekraft kann immer auch nur ein glücklicher Zufall sein. Hat man ein deskriptives Modell rein heuristisch an vorliegende Daten angepasst, ohne eine grundlegende Erklärung dafür zu haben, so kann es sein, dass man sich auf eine untypische Stichprobe gestützt hat, die vielleicht durchaus noch längere Zeit anhält, aber irgendwann nicht mehr, und dann das Modell nicht mehr passt. Maurice würde da wohl wieder "induktive Fehlschlüsse" anführen.
Tatsächlich kann man sich in empirischen Wissenschaften nie ganz vor solchen Fehleichungen schützen, komplett gesicherte Vorhersagekraft gibt es auch in den härtesten Wissenschaften nicht. Aber die beiden Zusatzkriterien sollten immerhin selbst aus stark skeptischer Haltung heraus noch starke Heuristiken sein, um das Risiko einer Fehlmodellierung nichtfundamentaler Datenaspekte zumindest stark zu senken.
Und das ist es dann eben, was eine "harte" Wissenschaft ausmacht: auch Physiker finden keine absoluten Wahrheiten, aber sie können zumindest deutlich größeres Vertrauen auf ihre Modelle reklamieren als die meisten Psychologen, Mediziner oder "big data"-Analysten, deren Modelle vielleicht empirisch auch Vorhersagekraft zu haben scheinen, bei denen aber niemand wenigstens halbwegs genau weiß, warum sie diese haben sollten.
Der andere fundamentale Diskussionsaspekt wäre natürlich, ob man Härte für grundsätzlich der Weichheit überlegen und eine imperative zeitliche Entwicklung der Einzelwissenschaften Richtung steigender Härte voraussetzen will. Und, falls man das will, der nächste: die Beurteilung der Schwierigkeiten und des Erfolgs der "Härtung" der Geisteswissenschaften, siehe Blog.