Ehre

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Maglor
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Do 31. Okt 2013, 23:36 - Beitrag #21

Otto Wels (SPD) sagte aus Anlass der nationalsozialistischen Machterschleichung in seiner letzten Reichstagsrede folgendes:
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
1933 war aber noch vor Abu Graib.

Bei Ehre geht es darum in der Hackordnung oben zu stehen oder wenigstens darum keine gebückte Haltung einzunehmen. Einer unehrenhaften Entlassung kann man sich nur durch einen Rücktritt, besser durch den Freitod entziehen. Der Ehrenmann ist immer der Herr der Lage, immer standesgemäß und nie unständig. Ihn kann man nicht brechen. Er wird nicht von anderen getrieben, höchstens von der seltsamen Tugend, der treuer Sklave er ist.

Ehre ist also so eine Art Zwangsneurose, die mitunter tödlich verläuft.

Ipsissimus
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Fr 1. Nov 2013, 09:56 - Beitrag #22

Ehre ist also so eine Art Zwangsneurose, die mitunter tödlich verläuft.

das gefällt mir^^

Lykurg
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Fr 1. Nov 2013, 10:18 - Beitrag #23

Stimmt, ein richtig schöner Aphorismus.

janw
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Fr 1. Nov 2013, 12:42 - Beitrag #24

Ich frage mich gerade, ob Wels mit Ehre etwas meinte, das wir heute eher Würde nennen würden - hat es da einen solchen Bedeutungswandel gegeben, oder ist der Begriff der Ehre schlicht auf bestimmte gesellschaftliche Randzonen verlagert worden?

Ipsissimus
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Fr 1. Nov 2013, 14:41 - Beitrag #25

bei uns sind es teilweise Randgruppen, woanders sind es ganze Gesellschaften, die auf archaischen Ehrbegriffen basieren

Traitor
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Fr 1. Nov 2013, 16:45 - Beitrag #26

Inzwischen sehe ich durchaus einen weitergehenden deskriptiven Nutzen eines Ehrenbegriffs über "Stolz" und "Würde" hinaus. Allerdings keinen individualphilosophischen, sondern einen primär soziologischen. Man könnte ihn so formalisieren:
"Ehre ist ein auf intersubjektiv kodifizierten Stolzkriterien basierendes Maß für Würde".
Hat nicht den Maglorschen Pfeffer, ist aber vielleicht nützlicher als sein Spruch. ;)

In Langform: Machen genügend Mitglieder einer Gesellschaft oder Gesellschaftsschicht ihren persönlichen Stolz an bestimmten Kriterien fest, so etablieren sich aus diesen (gesamtgesellschaftliche oder schichtbezogene) Normen. Sind diese einmal stark genug verankert, werden alle Mitglieder an ihnen gemessen, und die meisten messen sich auch selbst an ihnen. Wer dem Maßstab nicht genügt, wird als ehrlos und damit implizit auch würdelos abgestempelt, was Folgen mit ähnlicher Kraft wie (oder gar größerer als) Gesetzesbrüche haben kann.

Dass Ehre nur von innen gesetzt und verloren wird, einem also niemand die Ehre nehmen kann, gälte demnach nur für bestimmte Ehrenkodizes mit entsprechend gestalteten Kriterien oder als rein deklarative, nicht deskriptive, Aussage, mit der man sich aus der ehrenzuweisenden Schicht, zu der man bisher gehörte, lossagen will. Oder, wenn man zusätzlich seine beibehaltene eigene moralische Integrität betonen will: der Schicht, zu der man bisher gehörte, die Ehrenzuweisungsqualifikation aberkennen will.

In letzterem Sinne würde ich auch Wels interpretieren:
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
=
„Die, die uns Freiheit und Leben nehmen können, haben keine Berechtigung mehr, unsere Ehre zu beurteilen.“

Maglor
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Fr 1. Nov 2013, 17:47 - Beitrag #27

Zitat von janw:Ich frage mich gerade, ob Wels mit Ehre etwas meinte, das wir heute eher Würde nennen würden - hat es da einen solchen Bedeutungswandel gegeben, oder ist der Begriff der Ehre schlicht auf bestimmte gesellschaftliche Randzonen verlagert worden?

Was der Wels damit meinte erschließt sich aus dem weiteren Zusammenhang.

"Das Wort des Herrn Reichskanzlers* erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: »Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos. Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber daß dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug. " Otto Wels

Wels meinte sicherlich, dass jene die für die kommende Welttragödie verantwortlich sind, ihre dadurch verlieren, während die standhaften Sozialdemokraten ihre Ehre behalten, egal ob die Nazis sie entehren möchte.
Hiermit wird impliziert, dass Nazis oder die Franzosen (Wels vergleicht hier das Ermächtigungsgesetz mit dem Versailler Vertrag!) etwas anderes unter Ehre verstanden als *Gustav Bauer und die Sozis.
Wehrlos- aber nicht ehrlos bedeutet hat, dass man auch noch seine Ehre behalten kann, obwohl man nicht satisfaktionsfähig ist. Es ging Otto Wels gar nicht darum wer über die Ehre beurteilt.

"Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.
Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft."

Das klingt wie Blut und Ehre und Treue bis zum Tod.

Traitor
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Fr 1. Nov 2013, 18:23 - Beitrag #28

Erster und letzter Satz deines Hauptabsatzes scheinen sich zu widersprechen: wenn er reklamiert, den Ehrverlust der Gegner beurteilen zu können, ihnen aber abspricht, ihm und seinen Genossen ihre Ehre zu nehmen, dann ist das doch gerade das Thema, "wer über die Ehre beurteilt".

Wenn man wehrlos ist, kann man seine Ehre halt nur noch innerhalb einer kleineren Restgruppe reklamieren, gegen die man nicht wehrlos ist, oder die einen nicht zur Wehr herausfordert.

Ipsissimus
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Mo 4. Nov 2013, 13:08 - Beitrag #29

Wenn man wehrlos ist, kann man seine Ehre halt nur noch innerhalb einer kleineren Restgruppe reklamieren, gegen die man nicht wehrlos ist, oder die einen nicht zur Wehr herausfordert.

das heißt, die Reklamation von Ehre weist auf inhärente Gewaltbereitschaft hin

Lykurg
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Mo 4. Nov 2013, 17:00 - Beitrag #30

Traditionell ist der Zusammenhang von Ehre und der Fähigkeit, sich zu wehren - bzw. Gewaltbereitschaft - sehr stark und beeinflußt bis heute das Begriffsfeld - Satisfaktionsbräuche sind schließlich bis heute nicht völlig ausgestorben, siehe Burschenschaften.
Ich würde weitergehen - die Reklamation von Ehre ist bereits ein Gewaltakt, der die Bereitschaft zu weiteren Gewaltakten notwendig voraussetzt.
Nur der, dem Ehre ungefragt zuteil wird, kann diese auch gewaltlos erfahren, solange sie unhinterfragt bleibt.

Ipsissimus
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Mo 4. Nov 2013, 17:28 - Beitrag #31

Wie geht man dann mit Ehrenmorden um, wenn - Gewaltbereitschaft und -fähigkeit mitbedacht - im Kontext einer Kultur die Ehre offenbar ein höheres Gut darstellt als körperliche Unversehrtheit?

Maglor
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Di 12. Nov 2013, 22:00 - Beitrag #32

Zitat von Ipsissimus:Wie geht man dann mit Ehrenmorden um, wenn - Gewaltbereitschaft und -fähigkeit mitbedacht - im Kontext einer Kultur die Ehre offenbar ein höheres Gut darstellt als körperliche Unversehrtheit?

Die Freiheit und das Leben kann man ihnen nehmen, die Ehre nicht.

Ipsissimus
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Di 12. Nov 2013, 23:39 - Beitrag #33

haben sie die Wahl?

Maglor
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Mi 13. Nov 2013, 23:26 - Beitrag #34

Wenn der Mensch die Wahl hätte, hätte er die Wahl zwischen zwischen Ruhm und Schmach. Ehre ist die Befriedigung des eigenes Stolzes, ohne dass einem der Hochmut zur Schande gereicht. So bringt einem der falsche Stolz um die Ehre. Schlimmer als dieser ist nur die falsche Bescheidenheit.

Ipsissimus
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Do 14. Nov 2013, 12:40 - Beitrag #35

Und diesen ganzen Begriffen - Ehre, Stolz, Schande, Hochmut, Bescheidenheit und manchen weiteren - wohnt tatsächlich nennenswerter Gehalt inne? Oder sind es einfach nur Distinguierungsmittel, Möglichkeiten, um der uninteressierten Welt klarzumachen, dass ich - im Gegensatz zu allen anderen - nicht etwa nur mein Held, mein Mittelpunkt des Universums, sondern der Held, der Mittelpunkt aller Universen bin? Letztlich also Hybris?

janw
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Do 14. Nov 2013, 21:58 - Beitrag #36

In der traditionellen Bedeutung wohnt dem Begriff der Ehre wohl wirklich ein wesentlicher Gehalt inne: Ehre ist demnach ein personalisiertes Attribut des Einzelnen als Ausdruck seines gesellschaftlichen Wertschätzungsgrades.
Bis 1969 konnten die sog. bürgerlichen Ehrenrechte (Wahlrecht, Recht zur Ausübung öffentlicher Ämter wie dem Schöffenamt) bei mehrjährigen Freiheitsstrafen aberkannt werden.

In diesem Sinne kann Ehre tatsächlich als ein höherrangiges Gut als die körperliche Unversehrtheit verstanden werden, weil sie dem Betreffenden auch noch im Andenken anhaftet.
Damit ist ausgedrückt, daß der Einzelne neben seiner materiellen Existenz (Leben) über eine soziale Existenz verfüge, welche die letztlich bedeutendere sei - jede/r stirbt unweigerlich irgendwann, aber das vergessen werden stelle den endgültigen Tod dar.

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Do 14. Nov 2013, 22:29 - Beitrag #37

@Maglor: Schöne Aufhäufung des Begriffsfelds. Nur die Würde fehlt dir.

Zitat von Ipsissimus:Wie geht man dann mit Ehrenmorden um, wenn - Gewaltbereitschaft und -fähigkeit mitbedacht - im Kontext einer Kultur die Ehre offenbar ein höheres Gut darstellt als körperliche Unversehrtheit?
Das ist eigentlich keine Frage nach diesem konkreten Begriffspaar, sondern die allgemeine, ob nur die internen Kriterien einer (Sub-)Kultur für deren Mitglieder gelten sollen, oder die allgemein festgelegten. Zumindest sofern wir von ((Migranten-)(Sub-))Kulturen in anders geprägten Mehrheitsgesellschaften reden. Was auswärtige Mehrheitsgesellschaften angeht, haben wir ja (bedauerlicherweise oder zum Glück?) gar keinen Anlass, mit einzelnen Morden umzugehen.

Zitat von Ipsissimus:Und diesen ganzen Begriffen - Ehre, Stolz, Schande, Hochmut, Bescheidenheit und manchen weiteren - wohnt tatsächlich nennenswerter Gehalt inne? Oder sind es einfach nur Distinguierungsmittel, Möglichkeiten, um der uninteressierten Welt klarzumachen, dass ich - im Gegensatz zu allen anderen - nicht etwa nur mein Held, mein Mittelpunkt des Universums, sondern der Held, der Mittelpunkt aller Universen bin? Letztlich also Hybris?
Sie können nennenswerten Gehalt haben, wenn man sie gehaltvoll als Deskriptiva einsetzt. Inhärenten Gehalt haben sie nicht, aber welche Begriffe haben das schon? Hybris sehe ich in der Verwendung solcher Wörter nur, wenn man anderen die eigenen Kriterien unreflektiert als allgemeinen Maßstab aufzwingen will; nicht schon darin, sie für sich selbst zu reklamieren.

Zitat von janw:In diesem Sinne kann Ehre tatsächlich als ein höherrangiges Gut als die körperliche Unversehrtheit verstanden werden, weil sie dem Betreffenden auch noch im Andenken anhaftet.
Und insbesondere kann sie auch nach dem Tod wiederhergestellt werden. Das ist wohl die Hauptrechtfertigung für den eigentlich unsinnigen "aber die Ehre kann man nicht nehmen"-Spruch.

Maglor
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Mi 29. Jan 2014, 23:39 - Beitrag #38

Die Würde fehlt mir schon lange. ;)

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