IpsissimusDämmerung


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Roberto Saviano [size=84]Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra[/size] Deutscher Taschenbuch Verlag, Februar 2009 aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt von Rita Seuß und Friederike Hausmacher Es ist so: Emanuelle war ein Verbrecher. Mit seinen 15 Jahren hatte er schon an die 40 Raubüberfälle auf dem Kerbholz, alle nach dem gleichen Schema, immer Samstags, immer dort, wo die Liebespaare sind. Mit ein, zwei Kumpels ran, die Pistolenattrappe gezückt und an einem Wochenende konnte man schon mal 500 Euro einstecken, leichtverdientes Geld. Und den Respekt der anderen gab es gratis dazu. Emanuelle war nicht sonderlich helle, auf die Idee, dass die immer gleiche Wiederholung des immergleichen Tricks in der immergleichen Gegend selbst den dümmsten Polizisten irgendwann mal auffallen könnte, kam er nicht. Und so wurde er eines Tages statt von einem erschreckten Liebespaar von ein paar Bullen begrüßt, die im Auto auf ihn warteten. Emanuelle geriet in Panik, zückte die Pistolenattrappe, als wolle er schießen, und war schon tot, ehe er den Lauf noch in die Waagerechte gebracht hatte. Nun war Emanuelle aber nicht nur ein Verbrecher, er war auch einer aus Parco Verde, und einer, der einmal wirklich einer aus Parco Verde war, bleibt das für immer. Fehler und Verbrechen tun da nichts zur Sache, wer in Parco Verde geboren wurde, hatte zwar keine Schule besucht, keine Ausbildung erhalten, war ohne Arbeit, hatte keine Perspektive und keine Zukunft, aber er war einer aus Parco Verde. Und so wurde ihm eine Kapelle mit einem Altar darin gebaut, in der er beerdigt werden sollte. Der Bürgermeister von Parco Verde war keiner aus Parco Verde, die meisten kannten seinen Namen noch nicht mal, und welcher Farce von Wahl er seine Position verdankte, wusste eh niemand. Der Bürgermeister also war überhaupt nicht glücklich darüber, dass in seinem Ort einem Verbrecher eine Kapelle gebaut wurde und schickte einen Bagger zum Abriss. Der Bagger kam, setzt die Abrissbirne ein und da standen sie um ihn. Gut 5000 Jugendliche in Emanuelles Alter, ein paar Alte, die meisten mit ihren Mofas. Und es herrschte Totenstille. Der Baggerfahrer bekam es mit der Angst zu tun und schloss sich in der Baggerkabine ein. Was ihn nach dieser prinzipiell einsichtsvollen Handlung dazu trieb, doch den Motor anzuwerfen und die erste Mauer einzureißen, ist unbekannt. Alles weitere ist Zeitgeschichte, in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Zeitgeschichte. Mit dem Einstürzen der ersten Mauer öffneten die umher stehenden Jugendlichen die Tanks ihrer Mofas. Manche ließen den Kraftstoff einfach da auslaufen, wo sie gerade standen, anderen füllten sie erst in mitgebrachte leere Bier- oder Coladosen. Die Logik war einfach: Wenn die Kapelle eines der unsrigen abgerissen wird, reißen wir alles andere ab. Die Logik ging auf, alle amtlichen Gebäude, Schule, Kirche - Parco Verde brannte nach 10 Minuten lichterloh. Es blieb nicht dabei, es wurde zu einem der größten Aufstand-artigen Ereignisse in der jüngeren Geschichte Italiens, die Küste brannte bis hinein in die Randbezirke Neapels. In den Zeitungen wird später von einer illegalen Müllverbrennung die Rede sein. Bis dahin passierte nichts besonderes, nichts, was nicht in allen üblichen Mafiabüchern oder -filmen hätte erzählt werden können. Dann aber geschah etwas Außergewöhnliches. Während sich die Krawalle immer weiter vom Ursprungsort entfernten, fuhren in Parco Verde plötzlich ein schwarzer Landrover und ein großer LKW vor, passierten ohne jede Schwierigkeit die polizeilichen Absperrungen um die brandschatzenden Jugendlichen und hielten vor der größten Mob-Gruppe. Aus dem Landrover stieg ein junger Mann aus, schaute auf die Jugendlichen, wies zum LKW; etwa 30 Jugendliche stiegen daraufhin dort ein. Der Mann schaute weiter auf die verbliebenen Jugendlichen, die sich umdrehten und verschwanden. Keine 2 Stunden nach Beginn der Brände war der Aufstand in Parco Verde ohne Blutvergießen beigelegt. Es ist nämlich so: Parco Verde ist ein Viehsammelplatz. Das Vieh, das gemeint ist, sind die Menschen, die hier vegetieren, dafür gedacht, für die lokalen Clans die niedrigsten Arbeiten auszuführen. Sie werden dazu in einem Zustand völliger Hilflosigkeit gehalten, wer nicht gerade zum Militär gehen kann oder als Frau weit weg heiratet, hat keine Chance mehr auf irgendetwas, nur darauf, vielleicht gelegentlich als Drogenkurier, Schmierensteher oder Wagenlenker bei irgendeinem einem Mordauftrag eingesetzt zu werden, wo sie dann für ein paar Euro eine Arbeit übernehmen, die ihnen 10 und mehr Jahre Knast einbringt. Die Clans hatten nicht eingegriffen, weil das Feuer oder die öffentliche Aufmerksamkeit sie beunruhigte. Man musste nur die Viehherde schnell wieder den Griff bekommen, denn vielleicht gab es Arbeiten zu erledigen. Die 30 Jugendlichen aus dem Laster sind übrigens nie wieder aufgetaucht. Die aus Parco Verde glauben, sie hätten Karriere gemacht, denn das ist es, wovon sie in Parco Verde träumen, die Karriere bei den Clans. -------------------------------------------------------------------------------- dies ist nur eine von vielen Geschichten, die in "Gomorrha" mit akribischer Detailtreue erzählt werden, real stattgefundene Geschichten, ohne Hinzufügungen oder Auslassungen, das ganze Buch hat es mit der Realität zu tun: auch wenn es sich liest wie ein Roman, enthält das Buch nichts Fiktionales, es ist eine Dokumentation. Es ist noch nicht einmal eine der spannenden Geschichten, viel spannender ist der reine Wirtschaftsteil, die Schilderung der Vorgänge um den Hafen von Neapel, und wer schon immer mal wissen wollte, warum alle Wege nach Neapel und nicht nach Rom führen, oder warum die Schweiz die zweitgrößte Reedereiflotte der Welt hält, oder was an italienischer Haute Couture italienisch ist, oder warum Europa ohne China nicht mehr existieren kann, buchstäblich nicht mehr existieren kann, nicht etwa symbolisch gemeint, der wird hier die Antworten finden. Und noch viele mehr. Ob man danach noch gut schlafen kann? Wahrscheinlich schon. Italien ist so weit weg. Und Parco Verde ist Peanuts. Hmm ... nein, noch nicht mal das. Was ist schon besonders an einem von weit über 50 Viehsammelplätzen. -------------------------------------------------------------------------------- heftiger Stoff. Realitäts-Porno. Und nochmal: Dokumentation. Keine Fiktion.
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