Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mi 7. Sep 2011, 10:06 - Beitrag #441

William Shakespeare: Titus Andronicus (1593?)
Wüstes Stück um die aufopfernde Treue eines altgedienten römischen Feldherrn gegenüber der Staatsidee, die monströsen Verbrechen an ihm und seinen Kindern, vor allem seiner Tochter, und deren ebenso monströse Ahndung. Besonders eindrucksvoll der feinziselierte anderthalb Seiten lange Monolog des Marcus, der in an Ovid angelehnter Sprache und reichhaltigen mythologischen Bildern den Anblick seiner Nichte beschreibt (vergewaltigt, Hände abgeschlagen, Zunge abgeschnitten), statt ihr zu helfen. Im anderen Extrem eindrucksvoll die Bösartigkeit Aarons, eine sehr starke Figur.

Stephenie Meyer: New Moon (2006)
Nachdem Teil 1 sich an der Schöpfungsgeschichte verhob, scheitert Teil 2 an einem Reenactment von Romeo und Julia - die Charaktere sind leider zu dämlich, um ihre Verstrickung zu erkennen und sich an irgendeiner Stelle geschickter zu verhalten, etwa den Tod des Geliebten zuverlässig zu überprüfen, bevor man den eigenen Selbstmord einleitet. Abgesehen davon wirken die geschilderten emotionalen Befindlichkeiten der Protagonisten und daraus abgeleiteten Handlungsweisen fast schon realitätsferner als das Fantasy-Setting. ;-)

Sebastian Knauer: Tödliche Kantaten
(2011)
Leider sehr kolportagehafter Musikkrimi um 200 ursprünglich in Bachs Grab versteckte Kantaten und Konzerte, sowie einen skrupellosen US-Milliardär, der sie sich von seinem Privatorchester vorspielen und dessen Mitglieder, seine Gespielinnen, ermorden läßt, wenn sie darüber reden. Knauer schreibt beim Spiegel, und das merkt man seinem Stil sehr an (nein, das ist definitiv kein Lob).

Sven Böttcher: Prophezeiung (2011)
Klimathriller mit Verschwörungstheorien-Hintergrund (spielt ca. 2013) - erzählerisch ziemlich interessant wegen sehr ausgeprägt aktueller politischer Bezüge, Sarkozy, Obama, Cameron u.a. kommen vor, allerdings auch die erfolglose Jagd auf Bin Laden und Solarstrom-Verträge mit Gaddafi^^ - schön wirr die geschilderte Aussteiger-Kommune, die mit Youtube-Videos die öffentliche Meinung lenkt, angemessen erschreckend das Überflutungsszenario für Nordeuropa (ein Teil des Buches spielt in Hamburg) und die afrikanische Dürrekatastrophe (bzw. die relative Gleichgültigkeit des Westens dem gegenüber).

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 13. Sep 2011, 14:50 - Beitrag #442

Michael de Ridder
Wie wollen wir sterben?
Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin

Deutsche Verlags-Anstalt; 5te Auflage (15. März 2010)

Medizin war bis weit ins 20te Jahrhundert hinein aufgrund des Mangels an wirksamen Möglichkeiten überwiegend Palleativ-Medizin. Beginnend 1926 mit der Eisernen Lunge setzte eine zunächst zaghafte, nach dem zweiten Weltkrieg dammbruchartige Entwicklung medizinischer Verfahren ein, in der das Mögliche das Wünschenswerte und Angemessene schnell einholte, schon bald aber weit darüber hinausging. Im Zuge dieser Entwicklung wandelte sich der Charakter der Medizin weg von Palleativ-Medizin hin zur heute bekannten Hochleistungsmedizin.

An dieser Entwicklung ist zunächst einmal nichts Verwerfliches. Der medizinische Fortschritt des letzten Jahrhunderts half und hilft zahllosen Patienten, verschafft Heilung oder zumindest Linderung, rettet und verlängert Leben. Die Schattenseiten der Hochleistungsmedizin zeigen sich erst, seit Mediziner dazu übergingen, deren Möglichkeiten über den Rahmen des ursprünglichen Anwendungsbereichs Unfall- und Notfallmedizin hinaus anzuwenden.

Die Würde des Menschen muss respektiert und bewahrt bleiben, auch und gerade bei unheilbar kranken und alten Menschen. Viel zu oft allerdings setzen sich Ärzte über den Willen ihrer Patienten hinweg, indem sie alles anwenden, was medizinisch und technisch möglich ist ("Wir machen alles, was möglich ist."). In vielen Fällen, außer bei alten und unheilbar kranken Menschen auch bei Unfallopfern ("Wachkoma"), tragen sie damit allerdings eher zur qualvollen Sterbeverzögerung als zur sinnvollen Lebensverlängerung bei. Es ist de Ridders feste Überzeugung, dass Lebensverlängerung nie zum Selbstzweck geraten darf. Sie muss abgeglichen werden, zum einen mit der Lebensqualität, die einen Patienten erwartet, zum anderen mit den Willensbekundungen eines Patienten. Sein Buch stellt somit ein leidenschaftliches Plädoyer für Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende dar.

Er setzt sich dabei nicht nur deutlich von aktuellen Postionen des Ärztebundes ab sondern auch von den Positionen der Beführworter einer aktiven Sterbehilfe. Palleativ-Medizin muss seiner Ansicht nach dafür Sorge tragen, dass der Wunsch eines Patienten zu sterben, niemals aufgrund der Qualen körperlicher Schmerzen oder Unannehmlichkeiten entstehen kann. Er fordert deswegen u.a. eine Komplett-Revision der Schmerztherapeutik in deutschen Kliniken, bei der es nach Lage der Dinge noch immer sehr häufig vorkommt, dass todkranken Hochschmerz-Patienten wirksame Schmerzbekämpfung vorenthalten wird, weil die behandelnden Ärzte den Suchteffekt der Therapie befürchten.

De Ridder, seit über dreißig Jahren an verschiedenen Kliniken in Hamburg und Berlin als Internist, Rettungs- und Intensivmediziner tätig, plädiert dafür, Sterben wieder als Teil des Lebens wahrzunehmen und anzuerkennen. Er richtet sich damit nicht zuletzt an die eigene Zunft.

Viele Ärzte verstehen sich, umgeben von einer medizinisch-technischen Krankenhauswelt, in der alles möglich scheint, ausschließlich als Heilende. Was aber, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist? Wenn ein Patient "austherapiert" ist, keine Behandlung mehr anspricht?

Statt Todkranke um jeden Preis am Leben zu erhalten, müssen Mediziner lernen, in aussichtslosen Situationen ein friedliches Sterben zu ermöglichen. Gerade hier sind Ärzte weniger als Mediziner sondern als Begleiter und Fürsorger gefragt.

--------------------------------------------------------------------------------

Ein beachtliches Buch, zumal es von einem noch aktiven Arzt stammt, der in Befolgung der darin niedergelegten Ansichten Gefahr läuft, mit Gesetz und Ärztebund in Konflikt zu geraten. Das Buch gerät deswegen auch sehr ausführlich, de Ridder ist sich sehr wohl möglicher Angriffsstellen bewusst und argumentiert sehr sorgfältig, mit einer Fülle von Details und Insiderwissen. Das macht die Lektüre gelegentlich etwas langatmig, bisher war ich aber um diese Langatmigkeit sehr froh, weil sie zur Folge hat, dass die Dinge zum einen auch im Detail sehr deutlich werden, zum anderen aber auch sehr scharf gegen ähnlich klingende Positionen, die aber ganz andere Ziele verfolgen, abgegrenzt werden.

In jedem Fall lohnenswert, für alle, die in der einen oder anderen Weise mit Lebensende konfrontiert sind und Entscheidungen treffen müssen, für sich oder andere. Dazu ein hochinteressanter Insiderbericht über den Zustand moderner Medizin. Und last not least zahlreiche aus der Praxis stammende Anregungen für philosophische Reflektionen über das Lebensende. Klare Leseempfehlung.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 13. Sep 2011, 15:21 - Beitrag #443

Wichtiges Thema, ja - und eines, in dem ich keine Verantwortung tragen will. Sehr schwierig, der ganze Komplex...

Thomas Mann: Der Erwählte (1951)
Neufassung des Gregorius-Stoffs von Hartmann von Aue - Gregorius, Frucht einer geschwisterlichen Inzestbeziehung, vom Erzähler auch als deren drittes Geschwister bezeichnet, wird ausgesetzt und kommt in Unkenntnis seines Namens, nicht aber der Sündhaftigkeit seiner Geburt, an seinen Geburtsort zurück und zeugt mit seiner Mutter/Tante zwei weitere Kinder. Nach Enthüllung des ein wenig irritierenden Sachverhalts zieht er sich auf einen Felsen zurück und büßt dort siebzehn Jahre, bis man ihn zum Papst krönt.
Erzählt wird die Geschichte bei TM aus der Perspektive eines St. Gallener Mönchs, der sehr schön ironisch gebrochene Kommentare etwa zur fleischlichen Liebe, "kristlichen" und ritterlichen Idealen etc. bringt. Darüber hinaus ist die Sprache bemerkenswert, sie verwendet viele mittelhochdeutsche Begriffe und verfällt streckenweise in den reimenden Duktus des höfischen Romans bzw. der Heldenepik, meist, um die Begeisterung der jeweiligen Binnenerzähler zu kennzeichnen, die dann auch selbst ihr 'Singen' kommentieren.

Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker (1962)
Als vorbereitende Lektüre auf einen Theaterbesuch gestern - schön wirr, die moralisierenden Abschnitte wirkten allerdings stärker aufgesetzt als etwa im Besuch der alten Dame, die Wirrnis weniger vollendet als in Romulus der Große. Der Meinungswechsel 'Newtons' und 'Einsteins' ist ein wenig plötzlich, und die Ärztin... naja. Die Inszenierung hat genau an diesen Punkten auch ein gutes Stück weit versagt, sie übertrieb das Klamaukige und strich am ernsten Hintergrund.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Di 13. Sep 2011, 16:27 - Beitrag #444

Das letzte Update ist schon ein Weile her, daher ein paar Auffrischungen:

A Dance with Dragons von George Martin habe ich mittlerweile zu Ende gelesen - ein weiterer Teil einer großen Fantasy-Serie und ein Genuss; ein bisschen weniger langsam könnte es aber sein, nach mehreren tausend Seiten wünscht man sich doch eine härtere Zuspitzung der Ereignisse.

Alexis Sorbas von Nikos Kazantzakis. Die starke Figur des Titelhelden, insbesondere vor dem Hintergrund des suchenden Erzählers, besitzt in seiner Kraft einen schönen Sog.

Darüberhinaus noch zwei wissenschaftshistorische/wissenschaftsphilosophische Werke: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas Kuhn und Proofs and Refutations von Imre Lakatos. Während letzteres wohl eher nur für Mathematiker interessant ist und die Diaologform auf Dauer auch etwas anstrengend wirkt, ist ersteres sicherlich eine volle Empfehlung wert. Es geht um Mythendekonstruktion in der Wissenschaftsgeschichte und darum möglichst vorurteilsfrei zu beschreiben, wie normale Wissenschaft betrieben wird und wie sich die Wissenschaft zu revolutionären Zeiten davon unterscheidet und was zu solchen Revolutionen führt. Er wirft dabei den (mittlerweile zum Allgemeingut gewordenen) Begriff des 'Paradigma' in den Raum. Newtons Werk bildet z. B. ein Paradigma für die Mechanik. Man will Physik betreiben wie Newton, befindet sich dann in seinem Paradigma. Ein geeinigtes Paradigma ist Voraussetzung für hocheffiziente Wissenschaft, aber lädt auch ein zur Blindheit gegenüber anderen Möglichkeiten. Es gibt auch einige Bemerkungen, die man in Richtung Relativismus interpretieren kann, was von vielen kritisiert wurde, aber man kann sie vollkommen fortwerfen und hat noch ein faszinierendes Buch über die Natur von (Natur-)Wissenschaft und ihrer Geschichte. Man findet's höchstens manchmal ein wenig schad, dass es sich in manchen Beschreibung wissenschaftshistorischer Gegebenheiten etwas kurz fasst. Dass Gedanken aus diesem Buch (mit Vorsicht) auf viele andere Gebiete anwendbar sind, versteht sich von selbst.

Amy
Royal Member
Royal Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 1709
Registriert: 21.09.2003
Sa 17. Sep 2011, 10:48 - Beitrag #445

"A Game of Thrones" von George R.R. Martin.

Wäre ich nicht so sehr in Hausarbeiten gefangen, würde ich es wohl in einem Zug lesen, um mir so schnell wie möglich die Serie gönnen zu können ;) Aber durch die mangelnde Zeit kann ich wohl Kapitel für Kapitel eher langsam abarbeiten. Leider.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Do 6. Okt 2011, 17:19 - Beitrag #446

Zuletzt:

Thomas Mann - Lotte in Weimar.

Daniel Kehlmann - Die Vermessung der Welt.

Max Goldt - Ä.

Max Goldt - QQ.

Max Goldt - Mind boggling.

Max Goldt - Ein Leben auf der Flucht vor der Koralle.

Henri-Pierre Rochér - Zwei Engländerinnen und der Kontinent.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Do 6. Okt 2011, 19:51 - Beitrag #447

Gibt es zu all denen nichts sagen, e-noon?

P.G. Woodehouse - Joy in the Morning
Mehr Jeeves! Mit einem herrlichen Vorwort, in dem der Autor sich beschwert, ihm würde von Kritikern immer vorgeworfen, zu "edwardianisch" zu sein, was unmodern sei, und sich deshalb lieber zum Historienschreiber deklariert, was ja anerkannter ist.

Harper Lee - To Kill a Mockingbird
Eigentlich wollte ich während der US-Reise ja Otherland anfangen, hatte aber ausversehen Band 3 statt 1 eingepackt. Der Vogelmord war dann das beste, was der Walmart hergab.

Amy
Royal Member
Royal Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 1709
Registriert: 21.09.2003
Sa 8. Okt 2011, 00:06 - Beitrag #448

Vorhin "A Clash of Kings" von George R. R. Martin angefangen, nachdem ich "A Game of Thrones" und die dazugehörige Serie abgeschlossen habe. Nun hab ich ja noch genügend Zeit für 969 Seiten, bevor die zweite Staffel über den Bildschirm flackert ;)

Amy
Royal Member
Royal Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 1709
Registriert: 21.09.2003
So 16. Okt 2011, 19:28 - Beitrag #449

"A Clash of Kings" ebenfalls abgeschlossen - sehr spannend, sehr frustrierend an manchen Stellen. Ich sollte endlich aufhören, mich mit Charakteren anzufreunden - das endet nur in Tränen.

Aktuell daher nun "A Storm of Swords" von George R. R. Martin. Bisher äußerst spannend, verspricht viel. Leider weigere ich mich - im Gegensatz zu den beiden vorherigen Bänden - schnell zu lesen. Weil ich weiß, dass es ein Kapitel gibt, das mich vollkommen ruinieren wird :( Und das will ich so lange wie möglich rauszögern.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 8. Nov 2011, 15:13 - Beitrag #450

Neu angefangen: Frido Mann: "Achterbahnfahrt"

Die Autobiographie eines Enkels von Thomas Mann, der auf Umwegen selbst zum Schreiben gefunden hat, aber wohl etwas als "enfant terrible" der Familie angesehen wird.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Di 8. Nov 2011, 16:23 - Beitrag #451

Andreas Eschbach: Die Haarteppichknüpfer.

Deprimierend, aber gut.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Di 8. Nov 2011, 21:02 - Beitrag #452

Tad Williams - Otherland, Volume 1, City of Golden Shadow

Bisher (nach 300 von 900 Seiten von einem von vier Bänden) spannender und abwechslungsreicher Cyberpunk. Der Buschmann wirkt irgendwie aufgesetzt, der Sinn einiger Nebenhandlungen ist noch nicht ganz klar, und die Netztechnologie ist natürlich nicht sonderlich glaubwürdig. Großartig war dafür aber beispielsweise das Kapitel, das in übelstem Schund-Fantasy-Stil geschrieben war, ich mir schon dachte "das kann er nicht ernstmeinen", und es sich dann als aus der Perspektive eines Vierzehnjährigen erlebt herausstellte.

@e-noon: Da gab's irgendwo ganz tief im SF-Forum einen Thread zu.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4281
Registriert: 25.12.2001
Di 8. Nov 2011, 21:44 - Beitrag #453

Otherland Band 1 habe ich auch mal gelesen. Es hat mich offensichtlch nicht so in dem Maße gefesselt oder in Versuchung geführt, denn Band 2 ff. habe ich nie gelesen.
Die Netztechnologie ist auch nicht so interessant wie die Netzsoziologie, die anbetracht der Enttehung des Werkes Mitte der 90er, durchaus als zukunftsweisend gelten muss.

Ich versuche mich im Übrigen an Ecos "Friedhofs von Prag". Pathologische Depersonalisation und antisemitische Selbstwerdung im 19. Jahrhundert - kurzweilige Episoden und Exkurse locker aneinander gereiht.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Di 8. Nov 2011, 22:27 - Beitrag #454

So sonderlich zukunftsweisendes ist mir noch nicht begegnet, gegenüber der ersten Cyberpunk-Generation der 80er um William Gibson ist Williams' genauso-wie-die-Realwelt-Cyberspace ziemlich konventionell. Und anbetracht einiger Jugendbücher, die ich noch rumstehen habe (auf die Schnelle: Hohlbeins "Schattenjagd", Schlüters "Level 4", Westwoods "Endstation Alphazone"), war Vollimersions-VR in den mittleren bis späten 90ern absolutes Standardrepertoire.
Aber ja, es ist eindeutig eher Soft SF, daher ist das auch ein großer Kritikpunkt.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Mi 16. Nov 2011, 23:18 - Beitrag #455

W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn
Ein Reisebericht von Wanderungen Suffolk, voll von Schilderungen des Niedergangs und des Verfalls, aber auch dem Erleben von Schönheit. Sebald hat einen feinen Beobachtungssinn und und sein (?) Leben scheint ein bisschen mehr von Realität (?) zu Traum verschoben zu sein als bei einem üblicheren Erdengänger. Immer wieder eingestreut sind biographische Erzählungen von verschiedensten Personen (ich wusste vorher nicht, dass Joseph Conrad ursprünglich Pole war), auch eine Nacherzählung einer Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.

Orson Scott Card: Ender's Game und Speaker of the Dead
Angeregt von der im SF-/Fantasy-Forum geposteten Liste habe ich mal an dieses Werk gemacht, wohl einem Klassiker der Science-Fiction, von dem ich vorher allerdings noch nie gehört hatte - zu unrecht, denke ich.
Ender's Game handelt von dem sehr jungen Ender Wiggins, der in früher Kindheit schon in eine Militärakademie gesteckt wird, um zu einem militärischen Genie ausgebildet zu werden. Es gilt einen anscheinend unvermeidlichen Krieg gegen die Spezies der 'Bugger' zu gewinnen, die die Erde schon zweimal angegriffen haben.
Speaker of the Dead spielt 3000 Jahre später. Dank des Segnungen des nah-Lichtgeschwindigkeitsflugs ist Ender jedoch erhalten geblieben, wenn auch sehr verändert. Im Zentrum steht die Begegnung der Menschheit mit den 'Piggies', der ersten intelligenten Spezies, auf die sie seit 3000 Jahren stießen.
Ich will zu beiden Romanen nicht viel mehr schreiben, keine Wendungen vorwegnehmen. Nur so viel: beiden Romen ist eine gewisse Konstruiertheit eigen. Das wird aber mehr als ausgeglichen durch den spannenden Plot, die faszinierende Welt, die strategischen Ideen im ersten Teil, die humanistischen Ideen und das schöne Charakterspiel im zweiten Teil. Empfehlung für den ersten Teil, deutlichere Empfehlung für den zweiten.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 17. Nov 2011, 11:55 - Beitrag #456

beide Romane gehören auch zu meinen Lieblingsbüchern^^ es gehören noch zwei weitere Bände dazu ("Xenozid" und "Enders Kinder"), die mit den schon genannten zum Großartigsten zählen, was ich an SF-Literatur kenne

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Do 17. Nov 2011, 20:36 - Beitrag #457

Den Rezensionen bei Amazon nach fallen die nächsten beiden Bände stark in der Qualität ab (weshalb ich zögere, sie mir zu bestellen) - was ist dein Eindruck?

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 17. Nov 2011, 21:15 - Beitrag #458

Xenozid steht für mein Empfinden in einer Reihe mit den beiden ersten Bänden; Enders Kinder ist vielleicht nicht ganz auf diesem Niveau, ich kann aber auch nicht sagen, dass er wirklich deutlich drunter liegen würde, und er ist jedenfalls notwendig, um die Geschichte rund zu machen

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Fr 18. Nov 2011, 06:36 - Beitrag #459

Stendhal: Über die Liebe (1822)
Versuch der Systematisierung einer unübersichtlichen Materie - stark veraltet hinsichtlich der Geschlechterrollen, aber schön in Sprache und Darstellung; besonders gelungen das Bild der 'Kristallisation' von Empfindungen bzw. Vorstellungen des Geliebten, die sich mit der Zeit immer weiter verfeinern.

Thomas Mann: Lotte in Weimar (1939)
Der letzte TM, der mir noch fehlte, lange gemieden, weil ich mit Goethe und insbesondere Werther nie wirklich warm wurde - hiervon jetzt aber begeistert - hinreißend groteske Figuren, insbesondere Mager, beide Charlottes, Dr. Reimer - ein von TM mit feinem Strich wunderbar persiflierter Speichellecker mit zugleich überschäumendem Selbstwertgefühl und gekränkter Eitelkeit, Goethe 'natürlich' zu erheblichen Teilen Selbstportrait, auch Sprachrohr NS-kritischer Äußerungen, dabei aber ebenfalls durchaus ironisch gezeichnet, wer glaubt, TM habe keinen Humor, kann hier wirklich das Gegenteil belegt finden. Faszinierend auch die Erzählweisen, längere innere Monologe, v.a. Goethe, unterbrechen weitgehend personal-auktorialen Bericht, eingestreut ein originaler Brief, schöne Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit, die insbesondere am Ende in einer traumhaften Sequenz im Ungewissen verschmelzen.

Stephenie Meyer: Eclipse (2007)
Weiterführung der überaus problematischen Charakterzeichnungen der vorigen Bände - stark manipulatives Verhalten sowohl Edwards als auch Jacobs, Text über Eifersucht und Bevormundung, vielleicht ungewollt der stärkste Band der Reihe, gerade was den nur konsequenten Schluß mit der Einladung wider Willen angeht. Literarisches Modell des Buches ist Wuthering Heights, was zur Richtung der Erzählung wohl auch besser paßt als die Vorlagen der ersten beiden Bände (Genesis 2-3 bzw. Romeo & Julia), auch wenn Parallelen zwischen den Charakteren nur sehr teilweise gegeben sind.

Stephenie Meyer: Breaking Dawn (2008)
Ziemlich enttäuschend gegenüber den Möglichkeiten, die der Vorgänger zeigte: die Autorin schreibt sich (scheint mir) endlich ihre sexuellen und Allmachtsphantasien von der Seele, behält dabei aber immerhin die oppressive Typologie Edwards trotz veränderter Umstände konsequent bei. Strukturell unbefriedigender Text, wirkt teilweise ungeplant-lieblos, vielleicht gerade durch das Fehlen einer Vorlage. Meines Erachtens hätte Faust II sehr gut gepaßt (Helena/Homunkulus), eigentlich müßte man das Buch daraufhin neuschreiben oder massiv überarbeiten, aber wen interessierts?

Jean Auel: Ayla und der Clan des Höhlenbären (1980)
Anfang des großen Earth's Children-Zyklus um ein Menschenmädchen, das bei Neanderthalern aufwächst und sich in deren Lebensweisen einpassen muß bzw. gegen sie durchsetzend seinen eigenen Weg findet. Wie in den späteren Bänden eine (teilweise allzu) superheldenhafte Hauptfigur, interessant aber angesichts der Außenperspektiven auf Gesellschaftsorganisation etc.; außerdem deutlich zeitverhaftet hinsichtlich Genderdiskurs und Drogen (sehr schöner Einfall: eine in den Drogenrausch eingebaute Vision unserer Gegenwart). Sprachlich und motivisch stellenweise deutliche Anlehnungen an Altes und Neues Testament, manchmal eher irritierend.

Erich Fromm: Die Kunst des Liebens (1956)
Darstellung des Meisterns der Liebe als zentraler Faktor der Lebensqualität - nicht des Geliebtwerdens, sondern des eigenen Empfindens. Aufschlußreiche Darstellung von Konzeptionen der Nähe/Distanz, des Aufeinandereinlassens und der Vermittlung unterschiedlicher Wesenskonfigurationen, eingebettet in die gesellschaftliche Situation der (/seiner) Gegenwart. Geduld und Einfühlungsvermögen in sich selbst als wichtigste Eigenschaften...

Thomas Bernhard: Auslöschung (1986)
Nur auffrischende Lektüre des großen Vernichtungswerks - unglaublich böse, mitreißende Darstellung der aus Banalität entstehenden seelischen Grausamkeit. Eine einzige durchgehende Suade gegen Österreich, den Katholizismus, die erstarrte Familie, die Brutalität der Geistlosen.

Sibylle Knauss: Ach Elise, oder Lieben ist ein einsames Geschäft (1981)
Eindrucksvolle literarische Biographie von Elise Lensing, der Geliebten Friedrich Hebbels, deren Leben die Autorin an Stellen mangelnder Information freischaffend phantasievoll ergänzt (übrigens durchaus poetisch) und ihren Gegenstand aus feministischer Perspektive kritisiert und gegen dessen Vorbesitzer Hebbel verteidigt, besonders auffällig am Schluß, als sie ihm das selbst angemaßte letzte Wort (auf ihrem Grabstein) verweigert.

Mark Dunn: Ella Minnow Pea: a progressively lipogramatic epistolary fable (2001; -> deutsch von Henning Ahrens 2004: Nollops Vermächtnis)
Ein Briefroman, aus dem im Lauf der Zeit immer mehr Buchstaben verschwinden, hier (anders als bei einigen anderen Oulipo-Texten) sehr schön durch die Handlung begründet: Von der Inschrift an Nollops Denkmal auf der gleichnamigen Insel fallen immer weitere Buchstaben herunter und werden vom sich zunehmend als totalitäre Priesterschaft gebärdenden Rat der Insel für verboten erklärt. Niedliche, etwas verwirrende Geschichte, da ziemlich viele Figuren vorkommen, deren Geschichten man nicht besonders aufmerksam folgt, weil der Text selbst immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Genial aber die deutsche Übersetzung, die die Auslassungen des Originals getreu reproduziert (wenn auch leider die deutschen Pangramme längst nicht so gut sind und sein können wie die englischen).

Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer (1999)
Lebensgeschichte zweier Personen gleichen Namens, die eine im Fließtext, die andere in den Fußnoten erzählt und einander gegenübergestellt, ziemlich wirr und unkonventionelle Autorkommentare, wer etwa eine Erklärung für die wesentliche Lebensbeschäftigung der einen Figur erwarte (täglich einen Stein auf einen Berg tragen), könne das Lesen auch bleiben lassen, denn die werde hier nicht geliefert. Hmmm.

Voltaire: Candid(e) oder der Optimismus (1759)
Als Reaktion auf das Erdbeben von Lissabon sowie als Auseinandersetzung mit diversen Gegenpositionen, unter anderem von Wolf und Leibniz, teilweise auch polemische Abrechnung, entstandene satirische Erzählung von unheimlicher Brillianz. Ganz beiläufig nimmt der Erzähler haarsträubende Eingriffe in die Logik der Erzählung vor oder dekonstruiert Motive seiner Figuren, schildert Liebesszenen genauso nüchtern-sachlich-grotesk wie Kriegsgreuel und führt mit Vorliebe alles als Belege für Naturrecht und seine Gegenwart als beste aller möglichen Welten vor. Genauso gleichgültig läßt er aber auch seine Protagonisten den paradiesischen Idealstaat finden und wieder verlassen, um sich in ein banales und entbehrungsreiches Dasein als Gemüsebauern zu schicken.

Eric-Emmanuel Schmitt: Die Schule der Egoisten (1994)
Geschichte eines Geisteswissenschaftlers, der neben der Arbeit an seiner Diss zufällig auf apokryphe Zeugnisse eines Solipsisten stößt, denen er nachforscht, bis... nun ja^^ man lese es selbst, etwas anderes existiert ohnehin nicht bzw. nur in meiner Vorstellung.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Fr 18. Nov 2011, 09:33 - Beitrag #460

wer glaubt, TM habe keinen Humor, kann hier wirklich das Gegenteil belegt finden.
Ein schneller nachzulesender und dennoch eindrucksvoller Beleg wäre "Das Gesetz". Aber wenn der gute TM tatsächlich auch zur Charakterisierung "mit feinem Strich" fähig ist und nicht nur zu der eher holzhammerigen, die er in Kurzgeschichten und Erzählungen zeigt, sollte ich mich vielleicht doch mal für einen seiner Romane erwärmen.

Anfang des großen Earth Children-Zyklus um ein Menschenmädchen, das bei Neanderthalern aufwächst
Dein Speziezismus, oder der des Autors/Übersetzers? (Mensch != Neanderthaler)

VorherigeNächste

Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 3 Gäste