Pierre Bayard
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Lis Künzli, Übersetzung
Goldmann-Verlag, 1. Auflage September 2009
Ich bin bis zum Ende nicht zu einer schlüssigen Entscheidung gelangt, ob Bayard eine entlang pseudointellektueller Formulierungen konstruierte Humoreske oder einen ernstgemeinten Ratgeber für leseunwillige Intellektuelle, die aus professionellen Gründen so tun müssen, als haben sie sich mit einem Buch beschäftigt, abgeliefert hat; meine derzeitige Vermutung geht dahin, dass beide Lesarten möglich sind und die Ambiguität gewünscht ist. Nur zu einem geringen Teil spielt dabei der Wunsch nach Entlarvung eine Rolle, wo entlarvt wird bedient sich die Entlarvung durchaus bedenkenswerter Beobachtungen und Rückschlüsse und zeigt Techniken, wendet sich aber nie gegen Menschen, stellt nie bloß. Der Ratgeber ist jedenfalls praktisch orientiert - wer die darin formulierten Grundlagen und Methoden verinnerlicht hat, wird zukünftig imstande sein, selbst mit dem Autor eines Buches, das er nicht gelesen hat, über dessen Buch zu diskutieren, ohne sich zu blamieren oder die fehlende Lektüre eingestehen zu müssen.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass ein Buch kein Monolith sondern eingebunden ist in etwas, das Bayard die "Idee eines Buches" nennt, die ihrerseits wiederum eingebunden ist in die "Idee einer literarischen Schule oder Tradition". Ausgehend vom Bibliothekar aus Musils "Mann ohne Eigenschaften", der alle Bücher liebt und deswegen keines dadurch bevorzugen will, dass er es tatsächlich liest, greift er die Idee des Bibliothekars vom "Überblick" auf, wie sie sich im Katalogzimmer manifestiert, und konkretisiert diese Idee anhand einiger Buchbesprechungen, mit denen er Theorie und Praxis des Nichtlesens - aufgefasst als aktiven Verarbeitungsprozess - vertieft.
Interessant ist in diesem Kontext die Besprechung von Ecos "Name der Rose". Bayard zeigt, dass weder Baskerville noch Jorge das Buch, um dessenwillen 7 Morde begangen wurden, wirklich kennen und auf keinen Fall gelesen haben konnten. Trotzdem gelangen beide unabhängig voneinander zu verblüffend ähnlichen Auffassungen von Gehalt des Buches, Aristoteles´ zweitem Buch der Poetik, einfach anhand ihrer allgemeinen Bildung und der Nebeninformationen anhand der beobachteten Wirkungen des Buches.
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im Prinzip ist der Inhalt von Bayards Buch ein alter Hut; jeder aufgeweckte Literaturstudent entwickelt die Fähigkeit, auch vor professoralem, jedenfalls belesenem Auditorium über Bücher zu reden, die er hätte lesen sollen, aber nicht gelesen hat. Bayard geht nur einen Schritt weiter, er charakterisiert das Nichtlesen als den Normalfall, für den man sich nicht schämen solle, für den man sich nicht zu schämen braucht, allein schon deswegen, weil selbst bei den willigsten aller Leser auf ein gelesenes Buch tausende kommen, die nicht gelesen werden konnten. Es kommt also vielmehr darauf an, eine Idee, Musils Überblick, vom Stand der literarischen Produktion zu gewinnen, als ein konkretes Buch gelesen zu haben. Verfügt man über die Idee, kennt man die Bezüge, kann man das Buch korrekt einordnen und somit auf hohem Niveau darüber sprechen. Die exakte Kenntnis des Werkes selbst stört laut Bayard und seinen literarischen Gewährsleuten (neben Musil und Eco u.a. Balzac, Flaubert, Wilde) dabei eher, als sie nützt.
Ein Buch für den ambitionierten aber zeitökonomischen Literaturkritiker, Literaturprofessor oder Lehrer, weniger für die Amateure, zum Beispiel Literaturliebhaber oder Bildungsfetischisten, die Bücher tatsächlich noch lesen^^ angesiedelt zwischen Humoreske, Groteske und ernstgemeintem Ratgeber, intellektuell und literarisch nicht ohne erkleckliches Niveau^^ viele liebgewonnene Arten und Unarten des Bildungsphilistertums bekommen ihr Fett weg^^
Man tut vermutlich gut daran, es nicht allzusehr auf die Goldwaage zu legen, wird sich nach der Lektüre zukünftig aber unvermeidbar bei der Anwendung mancher darin beschriebener Verhaltensweisen und Techniken ertappen^^