Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Lykurg
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Do 4. Apr 2013, 08:26 - Beitrag #601

@e-noon: Ja, ich denke, daß Peters Nichtbeobachten genau auf die Abstumpfung zurückzuführen ist, die du beschreibst. Aber mir fehlt ein Erzählerkommentar dazu nicht, denn meines Erachtens 'funktioniert' diese Art des Ausblendens so gut, daß ich es komplett nachvollziehen konnte, ohne dabei aber völlig aus dem Geschehen auszusteigen. Der psychische Mechanismus wurde gewissermaßen von innen verständlich, ohne daß darüber reflektiert wurde (was ja auch zu Peter nicht gepaßt hätte).

Ich sehe gerade an dieser Stelle einen 'realistischen' Bericht bei Kempowski, wo Panem Schaulust bedient (vielleicht tatsächlich problematisiert, wie von dir passend angemerkt; aber wie dir bei K fehlt mir bei Panem die Reflektion über dieses Metaphänomen). Das mag auch dadurch vermittelt sein, daß Kempowski unheimlich viele dieser Flüchtlingsschicksale aus erster Hand kannte, weil er zehntausende von Tagebüchern, Briefen, Memoiren etc. aus der Zeit gesammelt hat; dieses Ausblendungsphänomen könnte insofern einem hundertfach beobachteten Muster entsprechen.

Und freut mich, daß auch der Zitronenkuchen deinen Geschmack getroffen hat. Ich hatte ihn erst recht kurz vorher kennengelernt, aber irgendwie schien er mir damals in mehrerer Hinsicht zu passen, auch wenn ich schwerlich rekonstruieren könnte, wieso.

@Feuerkopf: Ja, mit einem eBook-Reader habe ich in letzter Zeit auch immer wieder geliebäugelt. Und dieser Inhalt wäre unbedingt ein Grund mehr dafür... Zu den Frauen gebe ich dir völlig recht, die Hexen par excellence, aber auch Susan und diverse seltener auftretende Figuren sind wirklich sehr bemerkenswert. Allein schon Nanny Ogg und Granny Weatherwax... :D

Zuletzt
Sam Savage: Firmin. Ein Rattenleben (2006)
Das Buch schildert als chronologische Ich-Erzählung die Lebensgeschichte einer Ratte, die im Keller eines Antiquariats geboren wird und zum Sterben dorthin zurückkehrt, in jungen Jahren dort aber Lesen lernt und dadurch zum Fremdling zwischen Ratten und Menschen wird. Firmin sinnt darüber nach, wie er sich Menschen verständlich machen könnte (etwa durch Gebärdensprache) und nistet sich später bei einem Schriftsteller ein, der ein Buch mit einer Ratte als Hauptfigur geschrieben hat, Firmins Lesen aber für eine Art Zirkusnummer hält.
Zu Anfang ein recht überzeugendes Buch, postmodern verspielt mit Einsprengseln aus Literatur, die Firmin im einen oder anderen Sinne verschlingt; später verliert es zunehmend an Tiefe und schleppt sich (wie sein Charakter) dem Ende entgegen. Mäßig.

Padreic
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So 14. Apr 2013, 20:49 - Beitrag #602

Mal ein Lese-Update:

Jenny Lawson: Let's Pretend This Never Happened
Wurde auf dem Klappentext als "The funniest memoirs ever..." beworben. Wie immer misstrauisch gegenüber Superlativen las ich rein, fand die Werbung bestätigt und kaufte es. Lawson schildert Begebenheiten aus ihrem sehr skurilen Leben, worin einer der skurilsten Teile sie selbst ist. Ihr Stil ist exaltiert, abstrus und sehr offenherzig. Der humoristische Effekt des Stils nutzt sich ein klein wenig ab im Buch, aber lesenswert bleiben ihre Ausführungen und Erlebnisse allemal.

John le Carre: Tinker, Taylor, Soldier, Spy --- The Honourable Schoolboy --- Smiley's People
Eine Trilogie von Spionageromanen. Zentrale Figur ist der englische Geheimdienstler George Smiley, zweimal in den Ruhestand versetzt, zweimal wiedergekommen. Eine interessante Figur: alt, unattraktiv, intelligent.

Der erste Band geht um einen Verräter in den eigenen Reihen. Kürzlich sehr gut verfilmt worden. Smileys und Prideauxs Charaktere werden im Buch deutlich ausführlicher thematisiert, ebenso wie die Verbindungen in die Politik. Ansonsten muss ich sagen, dass ich den Film mindestens genauso gut fand, da er konzentrierter ist.

Der zweite Band geht um den Wiederaufbau des 'Circus', d.h. des Geheimdienstes, nach der Enttarnung des Verräters und um ihren ersten neuen Fall. Es ist faszinierend geschildert, wie sie aus kleinen Hinweisen immer mehr aufbauen, bis man dann schließlich am Schluss versteht, was sie da machen. Wenn das Buch eine Schwäche hat, dann, dass es etwas zu lang geraten ist und sich etwas zu sehr auf den Charakter und die Kriegsgebietserlebnisse von Jerry Westerby konzentriert.

Der dritte Band ist vielleicht der beste. Auch hier wird von dem eigentlich sich schon im Ruhestand befindlichen George Smiley aus kleinen Hinweisen ein großer Fall gefunden.

Le Carre hat einen leisen und komplexen Stil. Es gibt nicht sehr viel Action im eigentlichen Sinne; die Spannung wird primär aufgebaut durch das langsame sich Erschließen der Begebenheiten. Die Charaktere sind komplex gehalten, Klischees werden vermieden. Abgesehen davon, dass es vielleicht noch etwas konzentrierter geschrieben sein könnte (insbesondere der zweite Band), kann ich durchaus eine Empfehlung an alljene aussprechen, die auch nur ein entferntes Interesse an Spionageliteratur haben.

Traitor
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So 14. Apr 2013, 22:58 - Beitrag #603

@Padreic: Smiley tritt doch auch schon in früheren Büchern auf, oder?

Nachtrag zu "Die Planetenbasis" von E.E. Smith: Rahmenhandlung der Lensmen-Serie ist wohl ein verdeckter Konflikt zwischen zwei uralten Alienrassen, die eine gut, die andere böse (sehr eindimensional), bei dem Menschen und andere jüngere Völker nur Bauern sind.
Der erste Band ist zweigeteilt - es fängt an mit historischen Episoden, die den Einfluss der Außerirdischen zeigen sollen - Atlantis, Rom, WW2, WW3 - und geht dann über in eine zukünftige Gegenwart, in der der Konflikt offener wird.
Der historische Teil ist sehr wild zusammengewürfelt, Atlantis beispielsweise passt noch klar ins Konzept, aber ich frage mich doch sehr, ob in einem späteren Band noch irgendwann der Sinn der "Handgranatenqualitätsprüfer-im-Zweiten-Weltkrieg"-Episode klar wird.
Der zweite Teil ist dann ein eigentlich ganz interessanter Konflikt, der aber mit sehr ermüdenden Weltraumschlachten geschildert wird, in denen einfach planlos so viele verschiedene Ultra-Dies und Ultra-Das abgefeuert werden, bis gerade das Schiff gewinnt, das es der Handlung nach soll. Dazu platte Charaktere und sehr oberflächliche Politik.
Ziemliche Enttäuschung also erstmal, aber zumindest Band 2 gebe ich noch eine Chance.

Padreic
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So 14. Apr 2013, 23:32 - Beitrag #604

George Smiley kommt wohl in zwei früheren Romanen schon als Hauptfigur vor und z. B. in Der Spion, der aus der Kälte kam als im Hintergrund agierende Nebenfigur. Beim Wikipedia-Nachlesen habe ich festgestellt, dass er wohl auch schon vorher mal in den Ruhestand versetzt wurde und dann wiedergekommen ist; das scheint er zu machen, wie andere Leute ihre Hemden wechseln.

Amy
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Mo 15. Apr 2013, 19:18 - Beitrag #605

Mit "Faithful Place" von Tana French angefangen - aber ich merke schon, wie ich mich ganz unbewusst dagegen sträube, es zu lesen ... also so richtig. Weil es mein letztes Buch von ihr ist und wenn ich das gelesen habe, war's das erst einmal mit Tana. Außer sie schreibt jetzt dann endlich ein neues Buch für die "Dublin Murder Squad"-Reihe. Würde ihr dafür auch einen Kuchen packen :D

"Faithful Place" dreht sich um den bissigen Frank Mackey, einem Undercover-Polizisten, den man schon im vorherigen Buch "The Likeness" kennengelernt hat. Der wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als plötzlich der Koffer - mit allen wichtigen Papieren - seiner einst großen Liebe in einem verlassenen Haus gefunden wird. Dabei dachten alle, dass sie nach England abgehauen wäre. Selbst Frank - immerhin wollte sie <i>mit</i> ihm abhauen, machte aber in der Nacht ihres Verschwindens mit ihm Schluss. Seitdem hat niemand etwas von ihr gehört, bis plötzlich, Jahrzehnte später, dieser Koffer auftaucht. Frank muss zurück in die unschönen Viertel Irlands, zu seiner Familie, seinem Elternhaus und dem nachgehen. Ob seine damalige Freundin wirklich einfach nur alleine nach England abgehauen oder womöglich ermordet wurde.
Hab bisher noch nicht gelesen, weil ich mich, wie gesagt, ein bisschen sträube. Bisher ist mir Frank aber ein bisschen zu lieb! In "The Likeness" war der Gute rotzfrech :D Wahrscheinlich nur Masche. Bisher plätschert es noch ein bisschen dahin; ich konnte mich noch nicht so ganz in die Geschichte einfinden und in Franks Familie. Aber das wird schon noch. Bei French gibt es immer einen Punkt, den man irgendwann erreicht und dann kann man das Buch nicht mehr weglegen :)

Feuerkopf
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Mi 17. Apr 2013, 11:05 - Beitrag #606

"Der Zeitdieb" von Terry Pratchett. (Was sonst? ;) )
Einer von den beeindruckenderen Romanen aus dem Zyklus, in dem es in allen Aspekten um Zeit geht. Kann mich nicht entschließen, die Bücher im Original zu lesen, weil "Bücherverschlingen" auf Englisch einfach nicht funktioniert.
Susan entwickelt sich zu einer meiner Lieblingsfiguren - neben "QUIEK!", dem Rattentod.

Ipsissimus
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Mi 17. Apr 2013, 16:27 - Beitrag #607

David Hewson

Das Verbrechen
Komissarin Lunds erster Fall

Paul Zsolnay Verlag, 28. Januar 2013

Da mir die Filme der Fernsehstaffeln um die dänische Kommissarin Sarah Lund bislang völlig unbekannt sind, kann ich mich nur auf diesen Roman konzentrieren, bei dem der seltenere Fall der Konversion eines filmischen Originals in eine literarische Form vorliegt, statt wie üblich in umgekehrter Richtung. Wenn Sarah Lund in den Filmen also anders wirken sollte als im Buch, so mag das sein; ich kann mich nur auf letzteres beziehen.

Der Roman behandelt die Ermittlungen zum Mord an einem 19 Jahre alten Mädchen aus Kopenhagen. Im Laufe dieser Ermittlungen treten ständig neue Verdächtige auf; dabei werden alle sozialen Schichten durchlaufen, hochrangige Politiker geraten ebenso ins Visier der Polizei wie einfache Handwerker und Taxifahrer.

Zentrale Person ist die leitende Kommissarin Sarah Lund, die im Roman den meisten mir bekannten Kriterien einer Autistin genügt. Sie vereint professionelle Brillanz mit einer an Soziopathie grenzenden Gleichgültigkeit für ihr privates Umfeld, das sich dem Vorrang der Ermittlungen absolut unterzuordnen hat. Sie schafft es innerhalb weniger Tage, die Liebe ihres Lebenspartners und ihres 12jährigen Sohnes zu verspielen - ihr Bedauern bleibt theoretisch, sie nimmt es nur am Rande wahr. Und sie erweist sich in spezifischer Hinsicht als lernresistent, was zuerst sie zweimal in Todesgefahr und dann ihren Teampartner an den Rand des Todes bringt. Er wird von dort nur als Krüppel und gebrochener Mann zurück kehren. Und auch das nimmt sie beinahe nicht wahr.

Trotzdem oder deswegen ist sie eine brillante und knochenharte Ermittlerin, die Fragen, Probleme und Zusammenhänge sieht, wo andere den Fall längst abgehakt haben. Sie löst eine falsche Schlussfolgerung nach dem anderen auf und lässt sich auch nicht von politischer Einflussnahme ablenken. Zuletzt gerät sie selbst ins Visier der polizeilichen Ermittlungen, und wie sie dem entkommt und als nunmehr selbst Gejagte den Fall löst (und sich rehabilitiert), dürfte kaum als "legal" oder nachahmenswert bezeichnet werden.

Überhaupt, die Auflösung. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Krimi gelesen zu haben, bei dem ich buchstäblich bis zum letzten Satz nicht auf die Pointe kam. Und diese Pointe, dieser letzte Satz, und die gesamte Situation, die von ihm aufgespannt wird, hat es in sich, ist atemberaubend. Atemberaubend und haarsträubend. Ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle täte. Sie weiß es auch nicht.


Klare Leseempfehlung für Liebhaber spannender, schneller Krimis mit Tiefgang. Keine Empfehlung für Liebhaber eindeutiger moralischer Verhältnisse. Keine Empfehlung für Liebhaber schneller Lösungen.

Ipsissimus
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Do 2. Mai 2013, 12:47 - Beitrag #608

Rick DeMarinis
Götterdämmerung in El Paso

Verlag Pulp Master, Oktober 2012

Hardcore meets Metaphysik, oder auch: Philipp Marlowe meets The Big Easy. Doch die große Leichtigkeit unter der glühenden Wüstensonne in El Paso und Ciudad Juarez ist selbst in ihren lichten Momenten härter, düsterer und bedrohlicher als die in New Orleans, und J.P. Morgan, Marlowes Bruder im Geiste, ist ein "Dessert Storm"-Veteran, dessen posttraumatisches Belastungssyndrom nicht nur die Nächte zur Hölle werden lässt.

J.P., der normalerweise im Auftrag einer Versicherung Betrugsfälle aufdecken soll, will eigentlich nichts mit den Eheproblemen seines Desert-Storm-Kameraden Luther zu tun haben, dessen Ehefrau Carla angeblich mit einem Mexikaner durchgebrannt ist. Als Luther in seiner Verzweiflung eine überteuerte Detektei anheuern will, lässt sich er dennoch breitschlagen und findet die Turteltäubchen schließlich in Las Vegas. Zu spät dämmert es ihm, dass die bilaterale Kopulation den belanglosen Teil von Luthers Problems darstellt, weil Carla im Mahlstrom mexikanisch-amerikanischer Grenzprobleme gefangen ist und Carla wie Luther seitens Texas Rangern, Kopfgeldjägern und Vollstreckern der Hans Birker-Brigade, einer Splittergruppe der White Aryan Nation, mit der gesamte Bandbreite von Ressentiments bis zu massivem Hass konfrontiert werden.


Rick DeMarinis ist ein in Deutschland noch weitgehend unbekannter Verfasser literarisch hochwertiger Kriminalromane, der in den USA zu den wichtigsten Gegenwartsautoren gezählt wird. Seine Geschichten könnten unter dem Stichwort "gebrochene Metaphysik" oder auch "das verlorene Paradies war schon immer nur ein Albtraum" laufen; nie geht bei aller Hardboiled-Komposition der Blick für für das leise Grauen hinter der Aktion verloren. Eine lohnende Lektüre, auch über die El Paso-Romane hinaus.

Traitor
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Do 2. Mai 2013, 20:45 - Beitrag #609

Zuletzt Band 2/7 von E.E. Smith' Lensmen-Serie, "Die ersten Lensmen". (Ja, korrekte Zählung so, Band 1 war noch reine Vorgeschichte.) Durchaus keine ganz uninteressante Welt und eine leidlich spannende Handlung. Aber die, wie schon erwähnt, ungeheuer einseitig charakterisierten Strippenzieher-Rassen im Hintergrund, die komplett makellosen Helden und völlig verdorbenen Schurken auf menschlicher Seite, der sehr militaristische Handlungsverlauf, diesmal sogar inklusive Apologetik eines de-facto-Staatsstreiches der rein zufällig vor allem aus Militär und Geheimdienst rekrutierten Heldentruppe, das hat mir die Serie erstmal verleidet.
Auch, wenn ich durchaus Aspekte sehe, die diese Bücher zum Klassiker gemacht haben - es ist genau die Sorte, der die SF ihren schlechten Ruf verdankt. Fällt weit hinter van Vogt oder gar Asimov zurück.

Jetzt dann Band 4/4 von Otherland, um zumindest eine andere Serie mal abzuschließen - wobei das "mal" sicher kein "mal eben so" wird, bei gegenüber den Vorgängern nochmal aufgeblähter Seitenzahl von jetzt >1200...

Ipsissimus
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Do 16. Mai 2013, 16:16 - Beitrag #610

Rick DeMarinis
Kaputt in El Paso

Verlag Pulp Master, Oktober 2007

Zu Rick DeMarinis siehe oben unter Götterdämmerung in El Paso. Kaputt ist der erste Band der El Paso-Reihe, und er wirkt deutlich düsterer als die Götterdämmerung, weil der Aspekt des Big Easy fehlt - es geht von Anfang an ins Düstere und dabei bleibt es.

Der Icherzähler ist diesmal ein philosophierender Mathematiker und alternder Bodybuilder, noch leidlich in Schuss, der über seine Scheidung nicht hinwegkommt, sein Leben schleifen lässt und sich für Kost und Logis als Hausmeister verdingt. Ein bisschen Geld nebenbei verdient er sich durch Gelegenheitsjobs, und einer dieser Jobs, in Diensten einer Domina, bringt ihn in Kontakt mit Banker-Kreisen, hinter denen "el jefe", der sympathische, glaubensstarke, freundliche und höfliche Boss eines mexikanischen Drogenkartells steht. Der mag keine Dominaspiele, und eine Frau ist auch im Spiel, die nicht so ganz genau weiß, wen sie liebt, dafür aber versucht, el jefe zu erpressen. Der Gang der Dinge nimmt seinen Lauf.

Eine fulminante Analyse des Bankenbetriebs, schon vor der Finanzkrise, in der die selbstverständliche Vermischung der legalen und der illegalen Wirtschaftszweige von Staaten den beiläufigen Hintergrund der hardboiled story abgibt.

Sagte ich schon, dass ich von DeMarinis begeistert bin?

Padreic
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Fr 17. Mai 2013, 03:43 - Beitrag #611

David Graeber
Debt - The first 5000 years

Graeber ist Ethnologe und Anarchist. Die Spitzen des Buchs richten sich gegen das momentane ökonomische System sowie gegen die Mythen mit denen Ökonomen es begründen. Dazu holt er in weitem Bogen mit ethnologischen und historischen Betrachtungen aus, die den größten Teil des Buches ausmachen und erfreulich unaktuell sind.

Einer der ersten Sachen, gegen die sich Graeber wendet, ist der Mythos, dass Geld aus Tauschhandel entstanden ist, wie zum Beispiel Adam Smith ausführt, der es sich ungefähr wie folgt vorstellte: John hat ein Paar überflüssige Schuhe, will aber ein Stück Seife haben. Also muss er jemanden suchen, der überflüssige Seife hat, aber Schuhe braucht; wenn das nicht möglich ist, muss er umständliche Ringtausche machen. Geld macht das ganze sehr viel einfacher, war also sinnvoll einzuführen. Graeber führt aber aus, dass es weder ethnologische noch historische Indizien dafür gibt, dass es jemals eine solche Form von Tauschhandel gab! Dieser Mythos übersieht die vielen anderen Möglichkeiten, Gesellschaften zu organisieren; beispielsweise auf Geschenken statt direktem Handel (viele ethnologische Belege) oder Gemeinschaftshäusern, wo Güter wie Schuhe aufbewahrt werden (auch belegt).

Zweiter Mythos: Münzgeld ist älter als (zinsbasierter) Kredit. Zinsbasierte Kredite gibt es seit mindestens ungefähr 5000 Jahren im sumerischen Reich. Andere nicht zinsbasierte Systeme (a la "Anschreiben" in der Gastwirtschaft) sind sicherlich noch älter. Münzbasiertes Geld entstand erst ungefähr 600 v. Chr. unabhängig im griechisch-lydischen, indischen und chinesischem Bereich. Das hatte wohl eine Menge mit der Bezahlung von Söldnern und Aufteilung von Beute zu tun. Interessanterweise auch eine Zeit großer Philosophen und Religionsstifter (Thales, Buddha, etwas später auch Konfuzius).

Graber beschäftigt sich noch mit vielen anderen Themen: Sklaverei; ökonomische Systeme mit Geld, das nie dafür gedacht ist, Sachen zu kaufen; die Finanzwirtschaft des Buddhismus; ihr indirekter Einfluss auf die Ausbeutung der amerikanischen Bodenschätze; Knappheit von Münzen im Mittelalter...

Am Ende kommt er dann auf die aktuelle ökonomische Situation zurück. Es ist hier sicherlich anregend, was er schreibt, aber um auf dem selben Niveau wie der Rest des Buchs zu bleiben, hätte es hier eingehenderer Analysen bedurft (und der stellenweise tendenziöse Einsatz von unzureichend erläuterten Grafiken macht es nicht besser).

Insgesamt kann ich aber dem Buch eine deutliche Empfehlung aussprechen. Es enthält nicht nur viele mir vollkommen unbekannte Fakten über die Geschichte der Ökonomie, es ist auch angenehm geschrieben, enthält eine Fülle von nicht-trivialen Gedankengängen und bemüht sich (fast) immer Einseitigkeit zu vermeiden (im angenehmen Kontrast zu so vielem anderen, was geschrieben wird...).

Lykurg
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Fr 17. Mai 2013, 10:11 - Beitrag #612

@Padreic: Seine Gegenthese wäre dann also, daß Handel aus der Einführung von Geld entstanden ist? Sehr fragwürdig, auch weil er dafür einiges unter den Tisch kehren muß, etwa die Waren- und Preisauflistungen von Kaufleuten schon aus sumerischer Zeit, ägyptische Vermögensaufstellungen etc.
Die ersten beiden Punkte scheinen zu übersehen, daß es vor und parallel zu Geld in Europa bis ins Hochmittelalter, in Teilen Asiens bis in die Gegenwart (Tausch-)handel mit Barrengeld gab. Das hatte häufig die Form von bekannten Gegenständen; wobei damit natürlich keine Wertäquivalenz gemeint sein kann, ein Barren aus 30kg Kupfer war sicher auch schon im 2. Jahrtausend v. Chr. mehr wert als eine Ochsenhaut, und mit großmährischen Axtbarren wird man nicht direkt Äxte ertauscht haben. Die Form deutet aber zumindest auf das Vorhandensein eines Objektwertrelationsdenkens hin: Würde man sich das Metall gegenseitig geschenkt haben, wäre die Form und die Größe der Barren gleichgültig. Dem entspräche eher der Handel mit Bruchsilber im gesamten vorderasiatischen Raum - das aber auch nicht nur verschenkt wurde, wie archäologische Funde und historische Quellen wie z.B. die Bibel^^ belegen (wenn ich es auch nicht fürs dritte Jahrtausend sagen kann). In Mitteleuropa wurden um 2300 v. Chr. Halsringbarren aus Bronze offenbar auch als Zahlungsmittel (und nicht als Schmuck) verwendet - zumindest legen das Depotfunde von teilweise hunderten dieser Ringe auf einmal nahe; sie hatten ein einheitliches Gewicht von ca. 200g; wenn einer dieses Gewicht nicht erreichte, wurde angestückelt.

Wlig? Auffrischend
Aimee Bender: The particular sadness of lemon cake
Immer noch ein sehr schönes, trauriges Buch.

Thornton Wilder: Wir sind noch einmal davongekommen
Obskures Stück Metatheater um die Menschheitsgeschichte, den Weltuntergang und eine Schauspielerin, die sich weigert, ihre Rolle zu spielen, weil sie einer Freundin von ihr, die im Publikum sitzt, nicht zuzumuten wäre. Ziemlich staubig.

Padreic
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Fr 17. Mai 2013, 18:36 - Beitrag #613

@Lykurg: Ich verstehe deine Argumente nicht wirklich. Bruchsilber, Bronzeringe etc. sind Geld. Geld in irgendeiner Form ist vermutlich mindestens so alt wie Schrift. Wie können also alte Schriftstücke belegen, dass es Tauschhandel ohne Geld gab?
Graeber bestreitet auch nicht, dass es Formen von Tauschhandel ohne/bevor Geld geben kann, nur dass sie ungewöhnlich sind. Dieser Tauschhandel geschieht nicht unter Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft, sondern mit einem anderen Stamm. Und im Hintergrund gibt es dann immer die Möglichkeit von Gewalt. Eine belegte Möglichkeit war z. B. den Tausch ritualisiert in Form eines Festes mit Tanz, Sex und dergleichen durchzuführen, um die mögliche Gewalt zu beruhigen. Eine andere Form die Gewalt zu beruhigen, ist festgelegte Äquivalenzeinheiten einzuführen, was die Wogen eines möglichen unfairen Tauschgeschäfts ein wenig glätten mag; da sind wir dann quasi schon bei Geld...
Die Geschenkform des "Handels" war unter Freunden/innerhalb eines Stammes gedacht.

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Fr 17. Mai 2013, 22:35 - Beitrag #614

Tauschhandel ohne Geld ist so ungewöhnlich nicht, zu erinnern wäre z.B. an den Salzhandel zwischen Sahara und Sahelzone.

Ich denke, daß das Aufkommen von Geld etwas mit sozialer Spezialisierung zu tun hat. Das lässt sich im Umfeld des Persischen Golfes bereits vor der sumerischen Schrift erkennen, indem es Bergbau-Zentren gab, in denen Kupfer abgebaut wurde, die mit anderen Zentren in Verbindung standen, die Landwirtschaft betrieben oder sich auf Töpferei spezialisiert hatten.
Ich denke, daß eine solche Konstellation nicht lange ohne ein vermittelndes Tauschgut funktionert haben wird - wobei zusätzlich Geld als hoheitlich gestütztes Gut Manifestation einer sich etablierenden Herrschaftsgewalt diente.

Weil auch die Schrift aufgrund der durch Spezialisierung und Herrschaftsgewalt erforderliche Dokumentation entwickelt wurde, entzieht sich das Davor der Betrachtung - Graeber bewegt sich letztlich ebenso im Bereich von Spekulation wie Adam Smith.

Aber dieses Thema offensiv zu diskutieren, wie auch viele andere, tatsächliche Mythen, ist sicher eine zu würdigende Leistung.

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Fr 17. Mai 2013, 22:58 - Beitrag #615

Irgendwie wollte ich schon seit ungefähr fünf Büchern hier mal wieder reingeschrieben haben, aber es wurde nie was. Naja. ^^
Seit vorhin lese ich Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte von Peter Heller. Habe nun gerade wegen einer sehr traurigen Stelle rumgeschluchzt und möchte mich am liebsten unter einer Decke verkriechen und nicht wieder auftauchen.
Da ich bei diesem Buch auf keinen Fall irgendwas verpassen will und ich ein wenig müde bin, werde ich erst morgen weiterlesen. Bis jetzt bin ich aber schwerst begeistert, der Schreibstil ist genau mein Ding. Da könnte jetzt 100 Seiten lang nichts passieren, hauptsache dieses "Nichts" ist so schön weitergeschrieben.

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Di 21. Mai 2013, 15:27 - Beitrag #616

@Lykurg: Schoen, dass dir die Auffrischungslektuere immer noch zusagt :)

Gerade gelesen: F. Scott Fitzgerald, Tender is the Night. Ein tristes Buch, das ins Nichts fuehrt. Hat mich sehr an Mad Men erinnert.

Lykurg
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Di 28. Mai 2013, 17:09 - Beitrag #617

@e-noon: Manchmal kommt ein heimkehrendes Buch in eine ganz andere Welt als die, aus der es aufbrach, zurück, schön und seltsam ist, wenn es auch dort sich einfügt.


Vor langer Zeit mal auf englisch angefangen und liegengelassen, jetzt fertiggelesen:


Mark Twain: Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof (1889)

Wie der Titel schon beschreibt, eine Zeitreisegeschichte mit einem praktischerweise recht umfassend gebildeten und technisch auf der Höhe seiner Zeit befindlichen Unternehmer des späten 19. Jahrhunderts als Protagonisten. Zunächst eine lustige Satire gegen Kirche, Adel und sonstige Vertreter fortschrittsskeptischer Sturköpfigkeit, gleitet der Roman zusehends in eine beklemmende Dystopie ab. Von der Entwicklung der Figur her ist das konsequent, für die von ihr vertretenen Positionen aber nicht unproblematisch.


Kirill Yeskow: The Last Ringbearer (1999)

Ein ursprünglich russischer 'Apokryph'* zum Herrn der Ringe, in diversen Übersetzungen im Handel, aus Lizenzgründen aber auf englisch frei erhältlich: Der Ausgang des Ringkrieges und Ereignisse in der Zeit danach aus der Sicht Mordors. Erzählt wird die Geschichte des umbarischen Wissenschaftlers und Feldarztes Haladdin, der nach dem Untergang Saurons den Auftrag erhält, mit seinem orkischen Kameraden eine technologiefeindliche Weltherrschaft der Elben zu verhindern. Bis jetzt sehr unterhaltsam, kritisch gegenüber der gondorischen Propaganda (=Herr der Ringe), offensichtlich sehr viel mehr Grautöne als dort. Außerdem ein offenbar sehr belesener Autor, der eine Menge Cameos in Form von historischen Zitaten einbaut.

__________
* Ich hatte den Text zunächst als Fanfiction bezeichnet, das wird ihm aber nur sehr bedingt gerecht - diese Rezension setzt sich mit der Frage auseinander, was dieser Text leistet. Den Begriff 'Apokryph' verwendet der Autor selbst in einem Essay über seinen Text.

Lykurg
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Do 30. Mai 2013, 17:04 - Beitrag #618

Fertig mit "The Last Ringbearer" (konnte es kaum unterbrechen). Entwickelte sich zu einem ordentlichen Spionagethriller mit stellenweise parabelhaften Zügen. Der Epilog (mindestens 300 Jahre später?) hätte für meinen Geschmack nicht unbedingt sein müssen, ist aber auch eine schöne Weiterführung der Geschichte. Rückblickend ist es auch weniger verwunderlich, daß die Mordor-Sicht auf den Herrn der Ringe von einem Russen verfaßt wurde.^^

Wer Appetit bekommen haben sollte: Hier gehts zur englischen Übersetzung des Textes.

Traitor
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Do 30. Mai 2013, 17:39 - Beitrag #619

Aber Mordor ist doch die Türkei. ;)
Klingt schon lustig und sicherlich ambitionierter als das von der Idee her ähnliche, aber viel kürzere und nur billig-humoristische "Saurons Tagebuch", davon erinnere ich mich aktiv nur noch an die Beschwerden über das immer schlechter werdende Palantir-Programm - der Minas-Tirith-Sender bringe nur noch "monarchistische Propaganda" und der Orthanc-Kanal "Mensch-Ork-Pornos".

Der Yankee steht auch seit Jahren auf meiner Liste, könnte ich vielleicht ein Double Feature mit dem "Once and Future King" draus machen.

Darselbst: Immer noch Otherland.

Ipsissimus
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Do 6. Jun 2013, 13:30 - Beitrag #620

Justin Cronin
Der Übergang

erster Band der "Passage"-Trilogie

deutsche Übersetzung Rainer Schmidt
Goldmann-Verlag, 2010
gelesene Version für Kindle E-Book-Reader

13 Personen - elf zum Tode verurteilte Schwerverbrecher, ein zum Tode verurteilter Unschuldiger und ein kleines Mädchen, das einfach Pech hatte - sind die einzigen Überlebenden und Entkommenen eines medizinischen Experiments, das in einer geheimen militärischen Forschungsstation irgendwo in den nördlichen USA durchgeführt wurde. Als Folge dieses Entkommens ist der nordamerikanische Kontinent ein paar Jahre später bis auf einige kleine Enklaven praktisch menschenleer.

100 Jahre später sind die Enklaven auf eine geschrumpft, und auch die kämpft ihren finalen Kampf, als eines Tages ein kleines Mädchen vor ihren Toren auftaucht und irreversible Ereignisse in Gang kommen.

Auf über 1000 Seiten solide erzähltes Postapokalyptikum, überaus spannend, wobei die Spannung nicht aus Suspense-Techniken des Schreibstils resultiert, sondern aus der Vielfalt der erzählten Geschichte(n), die weit über übliche "Mad Max"-Konstellationen hinausgeht. Wer Belletristik nicht abgeneigt ist und sich für das Genre erwärmen kann, macht mit dem Roman nichts falsch.

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