PadreicLebende Legende
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Zur weiteren Illustrierung und weil ich es so rumliegen hab, ein kleines Manuskript über Oulipo, was meinem dementsprechenden Referat beim Studienstiftungsauswahlseminar zugrunde lag und was ich mit ein paar Abwandlungen und Kürzungen so vorgetragen hab:
Das Thema dieses Vortrages ist die literarische Gruppe „Oulipo“. Aber bevor ich diese eigentümliche Buchstabenkombination erläutere, will ich ein Zitat von Stravinsky voranstellen, das man (obgleich Stravinsky weder Oulipist noch Literat war) als Motto dieser Gruppierung nehmen könnte: „Je mehr Einschränkungen man sich auferlegt, desto mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln…die Willkürlichkeit der Einschränkungen dient nur der Genauigkeit der Ausführung.“
Nun also zu Oulipo selbst. Oulipo ist eine Gruppe vorwiegend französischer Literaten, die 1960 von Raymond Queneau und Francois Le Lionnais gegründet wurde. ‚Oulipo’ ist hierbei eine Abkürzung für „L' Ouvroir de Littérature Potentielle“ – „Werkstatt für potentielle Literatur“. Zentrales Thema ist für sie der Formzwang – obgleich „Zwang“ nicht ganz das richtige Wort ist, weil Formzwang für sie keineswegs negativ besetzt ist. Es geht ihnen hierbei nicht um die klassischen Formzwänge wie die des aristotelischen Theaters, sondern um alternative, vorwiegend sprachlich-spielerisch oder mathematisch motivierte. Sie versuchten diese sowohl in der schon bestehenden Literatur zu erforschen als auch neue Formen zu schaffen. Zu letzterem werden später noch einige Beispiele folgen.
In diesem Zusammenhang ist übrigens auch der Begriff der potentiellen Literatur zu verstehen: jede von Oulipo geschaffene Form bietet unendlich viele Möglichkeiten der Umsetzung.
Um das literarische Schaffen Oulipos ein wenig zu illustrieren, habe ich zwei Autoren ausgewählt, deren Werke ich exemplarisch vorstellen werde: Raymond Queneau und Georges Perec. Den einen, weil er Gründungsmitglied von Oulipo war und auch außerhalb von Oulipo literarisch Bedeutendes geleistet hat, den anderen, weil er oulipistisches Sprachspiel auf Höhen ansonsten unerreichter Meisterschaft gebracht hat. Aus Zeitgründen muss ich leider darauf verzichten, das Schaffen anderer bedeutender Oulipo-Autoren wie Italo Calvino und Jacques Roubaud auch nur zu skizzieren.
Raymond Queneau wurde 1903 in Le Havre geboren. Er studierte an der Sorbonne Philosophie und Psychologie, belegte aber auch Veranstaltungen in Literatur und Mathematik. Zeitweilig schloss er sich auch der Surrealistenbewegung an, doch ihre Ablehnung von rationalem Verstand und Wissenschaft veranlasste ihn, sich bald wieder von ihnen zu trennen. Sein literarisches Schaffen begann in den 30ern und seine drei Leitlinien darin waren die strenge Konstruktion, in der oft gerade das scheinbare nebensächliche, wie beispielsweise die Kapitelanzahl, nicht dem Zufall überlassen wurde, der Humor und die Verwendung von Alltagssprache gegenüber der literarischen Tradition des klassischen Französischs. 1972 stirbt er in Neuilly bei Paris.
Das Werk, was ich als erstes von ihm vorstellen will, sind die „Stilübungen“ (1947 erschienen werden sie von Oulipo als „vorwegnehmendes Plagiat“ bezeichnet). Inspiriert sind sie von einem Konzerterlebnis Queneaus, wo er Bachs Kunst der Fuge hörte.
Sie bestehen aus 99 Variationen ein und derselben äußerst banalen Geschichte: der Erzähler sieht, wie ein junger Mann mit langem Hals und komischem Hut in einem überfüllten Autobus einen anderen Mann beschuldigt, ihn immer absichtlich anzurempeln, wenn Leute ein- und aussteigen. Als der Mann nicht antwortet und ein Sitzplatz frei wird, setzt sich der junge Mann schnell. Zwei Stunden später sieht ihn der Erzähler wieder, wie ein Freund ihm sagt, dass er sich einen weiteren Knopf an seinen Überzieher nähen solle.
Jede dieser Variationen ist mit einem Stilprinzip überschrieben, in dem dann die Variation geschrieben ist. Es kann die Form verändert werden, also die Geschichte als Komödie, Brief, Verhör oder sonst etwas erzählt werden, man kann sich auf einzelne Sinne beschränken, man kann daraus ein Gedicht machen, man kann allerlei Wortakrobatik treiben (beispielsweise die Endsilben bei den Wörtern weglassen). Meist sind die Variationen interessant, oft lustig, nicht selten aber einfach nur absurd. Eine sei beispielhaft vorgetragen:
Homöoteleuton
Der wohlbestallte Autobus stand an der Halte. Ein junger Balte krawallte, denn der Alte prallte an seine gebügelte Falte. Es hallte und schallte, bis dass es knallte. Der Alte wallte, aber der Balte sah eine Spalte, in die er sich krallte. Eine Stalte spalte erblallte ich ihn vor der Galte Saint-Lazalte. Er strallte dort wegen eines Knallte, eines Überzieheknallte.
Nun will ich mich Georges Perec zuwenden. Er wurde 1936 in Paris als Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer geboren. Beide Eltern starben im Krieg. Ohne Studienabschluss begann er nach seinem Militärdienst 1962 am Institut für Neurophysiologie in Paris als Archivist zu arbeiten. 1969 tritt er Oulipo bei, 1982 stirbt er wenige Tage vor seinem 46. Geburtstag an Lungenkrebs.
Noch stärker als bei Queneau tritt bei Perec die strenge Konstruktion zu Tage. Diese durchzieht all seine Werke, ob es Romane, Gedichte, Dramen oder Kochrezepte sind; zumindest seit seinem Beitritt zu Oulipo. Zentral in seinem Werk ist auch die Verarbeitung seiner Jugenderfahrungen, was sich unter anderem in einigen autobiographischen niederschlägt.
Eines der bekanntesten Werke Perecs ist ‚La Disparation’, zu Deutsch ‚Anton Voyls Fortgang’, ein Werk, das komplett auf den Buchstaben ‚e’ verzichtet, der sowohl im Deutschen als auch im Französischen deutlich der häufigste ist (umso erstaunlicher ist die Tatsache der Übersetzung). Dieses Werk reiht sich in die lange Tradition der sogenannten Lipogramme ein, Werke, die systematisch auf mindestens einen Buchstaben des Alphabets verzichten. Erste Lipogramme wurden schon in der Antike geschrieben, beispielsweise eine Ilias-Version, die im ersten Gesang auf das ‚a’ verzichtet, im zweiten auf das ‚b’ etc. Neue Höhepunkte, gerade auch in der deutschsprachigen Literatur, fand dann das Lipogramm in Barock und Romantik. Perecs Werk übertrifft sie alle jedoch sowohl im Schwierigkeitsgrad als auch im künstlerischen Anspruch.
Die e-Losigkeit des Romans versucht er nämlich nicht zu überspielen, sondern sie wird geradezu zum Thema des Romans. Es ist eine Entführungsgeschichte des titelgebenden Charakters, zentrales Thema ist so das Fehlen, das Verschwinden. Vielleicht spielt er damit auch auf den Tod seiner Eltern an.
Wie sehr der Verzicht auf das ‚e’ die Sprache umgestaltet (in der Übersetzung wohl noch mehr als im Original), will ich anhand des Anfangs des Romans demonstrieren:
Vorwort – Wo bald schon klar wird, dass damit Fluch und Qual anfängt
Kardinal, Rabbi und Admiral, als Führungstrio null und nichtig und darum völlig abhängig vom Ami-Trust, tat durch Radionachricht und Plakatanschlag kund, dass Nahrungsnot und damit Tod aufs Volk zukommt. Zunächst tat man das als Falschinformation ab. Das ist Propagandagift, sagt man. Doch bald schon ward spürbar, was man ursprünglich nicht glaubt. Das Volk griff zum Stock und zum Dolch. „Gib uns das täglich Brot“, hallts durchs Land und „pfui auf das Patronat, auf Ordnung, Macht und Staat“. Konspiration ward ganz normal, Komplott üblich. Nachts sah man kaum noch Uniform. Angst hält Soldat und Polizist im Haus.
Ein paar kurze Worte will ich auch noch zu Perecs wohl bedeutendsten Roman, „Das Leben: eine Gebrauchsanweisung“. Es ist ein langes Werk, das vielerlei Geschichten verknüpft, die allesamt in einem großen Pariser Wohnhaus spielen. Es hat incl. Dachboden und Erdgeschoss 10 Stockwerke und in jedem zehn Räume. Perec wandert nun von Raum zu Raum, im Muster eines Springers, der ein 10x10-Schachbrett durchquert, ohne einmal dasselbe Feld zu betreten. Die zentralen inhaltlichen Elemente in jedem dieser Abschnitte sind durch eine umfangreiche Tabelle festgelegt, von den Einrichtungsgegenständen bis zu den Zitaten, auf die Perec anspielt. Trotz der rigiden Konstruktion ist es ein Buch voller Leben.
Nachdem ich auf die Prosa der beiden Autoren eingegangen bin, komme ich nun zur Lyrik.
Eines der ersten Werke der Oulipo-Zeit war Queneaus „Hunderttausend Milliarden Sonette“. Wer sich darunter ein ungeheuer dickes Buch vorstellt, liegt falsch. In Wirklichkeit handelt es sich hier erstmal nur um zehn verschiedene Sonette, die jedoch so angelegt sind, dass sie alle in der gleichen Zeile auch den gleichen Reim haben und auch grammatikalisch und inhaltlich austauschbar sind. Somit hat man in jedem der vierzehn Verse des Sonettes zehn Wahlmöglichkeiten, was in der angegebenen Zahl resultiert.
Während Queneaus Werk so noch in der Tradition wurzelt, geht Perec völlig neue Werke. In Anlehnung an die Zwölftonmusik nimmt er in jedem Gedicht seines Zyklus’ „Alphabets“ elf Buchstaben als Grundvorrat und setzt sich als Prinzip, keinen der Buchstaben zu wiederholen, eh nicht die zehn anderen vorgekommen sind. So besteht jedes dieser Gedichte quasi aus der Hintereinandersetzung von elf Anagrammen der elf Grundbuchstaben und doch kommen sinnvolle, ja lyrische Sätze heraus.
Natürlich ist ein solches Werk unübersetzbar. Um dennoch einen Eindruck von so etwas zu geben, sei hier ein verwandtes Werk von Unica Zürn rezitiert:
Tausend Zaubereien
Ei, zarte Suenden bau: reizende Tauben aus Zundertau. Eine Base aus Reizdaunen bete an. Zuende Staubeier aus, in Zaubertee. Den Zebus traue an deine Busenzierde. Taue an Eisabenden Azur. Tue in den Zaubertausee tausend Zaubereien.
Als letztes will ich noch ein Hörspiel von Georges Perec erwähnen, das er zusammen mit seinem Übersetzer Eugen Helmlé für den SWR erstellt hat, „Die Maschine“. Hier geht es um eine Maschine, die versucht, sich dem Gedicht, „Wanderers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe zu nähern. Sie rezitiert es auf verschiedene Weisen, zählt die Adjektive, Substantive und Verben, assoziiert Sachen aus ihrer Datenbank und nimmt auch noch ein paar lustige Manipulationen am Gedicht vor. Eine will ich kurz darstellen, weil sie recht charakteristisch für Oulipo ist, die S+15-Methode. Man nimmt sich ein beliebiges Wörterbuch und ersetzt in einem vorliegenden Text alle Substantive durch das Substantiv, das fünf Stellen weiter steht:
(das deutsch-spanische diccionario lliputiense cadete)
Über allen Glasuren Ist Russ. In allen Wissenschaften Spürest du Kaum ein Hausmädchen. Die Vollkommenheiten schweigen im Wandkalender. Warte nur balde Ruhest du auch.
Zusammenfassend kann man sagen, dass für Oulipo die Form alles und die Sprache die eigentliche Wirklichkeit ist, während der Inhalt und das, was wir normalerweise als Realität betrachten, zurücktreten. Merkwürdig anmutende, willkürlich erfundene Formen ersetzen die klassisch gewachsenen.
Ist das nur Spiel und Artisterei oder ist es echte Literatur von Wert, Kunst gar, die uns neue Wege eröffnet?
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