Literatur, was will sie? Was dient ihr?

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
janw
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Di 27. Sep 2005, 13:50 - Beitrag #1

Literatur, was will sie? Was dient ihr?

Mal wieder ein spin-off aus dem wmig...

Zunächst mal der Dialog, der den Sachverhalt darstellt.

Zitat von Padreic:Oulipo motivierte mich . Las gerade was bei wikipedia über Romane, deren Autoren sich vorher sprachliche Regeln gesetzt haben, wie z. B. kein 'e' zu verwenden oder kein 'm' und 'w' oder so. Oder in einem Fall dürfen Leute nur Sachen sagen, die sie mit den Vokalen in ihrem Namen bilden können, und nur ebensolche Sachen tun . Oder ein anderer Roman hat im ersten Teil nur weibliche Substantive, im zweiten nur männliche, im Nachfolgeroman nur sächliche.
Verrückter Kram, aber irgendwie ziemlich cool und eine großartige Darbietung sprachlicher Intelligenz. Ohne 'e' ist nämlich wirklich hart

Zitat von Lykurg:Padreic, das ist meines Erachtens ein selten sinnentleertes Experiment - das mit meinem Werksbegriff einfach nicht stimmig ist. Wie kann ein Schriftsteller meinen, der Verzicht auf Klangzeichen, die in seinem Namen nicht enthalten sind, sei eine anerkennenswerte Idee? Damit entsteht wertarmer Wirrwarr, niemals etwas mit Verstand. Erhaltenswerte literarische Texte lassen andere Kriterien gelten.^^

Zitat von Padreic:@Lykurg: Ich kann da deine Ansicht nicht teilen. Ich sehe vor allem zwei Aspekte:
a) die intellektuelle Faszination. Die besteht natürlich nur, wenn der Inhalt eines solchen Buches kein Murks ist, sondern auch für sich durchaus künstlerischen Wert beanspruchen könnte. In einem sinnvollen Text solch ein Schauspiel veranstalten zu können, zeugt erstens von großer sprachlicher Intelligenz und zweitens ist es ein wundervoller Beweis für die Möglichkeiten der Sprache. [vielleicht liegt der Grund meiner Bewunderung auch ein wenig darin verborgen, dass ich Mathematiker bin ]
b) das sprachliche Experiment. Es ist ein ganz eigenes Klangbild ohne 'e's zu schreiben. Oder ohne 'r's oder sonstwas. Gerade durch eine solch obskure Beschränkung kann Sprache, denke ich, auch eine ganz eigene Schönheit gewinnen. Und wenn es, wie in dem einen geschilderten Fall, zur Differenzierung der Figuren verwendet wird und wenn ihr Name dann ein Klangbild ihrem Charakter gemäß schafft, dann kann man das durchaus eine künstlerische Idee von Wert nennen, denke ich.

Zitat von janw:Ich neige da auch Pads Sichtweise zu, Literatur ist immer? naja, oft auch Spiel mit der Sprache, und solche Klangspielereien stelle ich mir nicht reizarm vor

Zitat von aleanjre:Wertarmer Wirrwarr? Warum denn nur? Es zeugt von großem Respekt, sich der Sprache auf diese Weise zu nähern und damit seine Fertigkeiten zu schulen. Wenn es allerdings nicht gerade ein poetisches Werk werden soll, sollte der Schwerpunkt dann doch mehr auf den Inhalt, und etwas weniger auf die Lautbildung gelegt werden.

Zitat von Lykurg:Padreic, dein Name ist sehr einladend in dieser Hinsicht - das Verfassen eines Textes, der die im Alphabet letzten Klangzeichen nicht verwendet, ist sehr einfach - man merkt es gar nicht richtig.^^

Und nein, in meinen Augen ist und bleibt es eine Spielerei, ein Zeichen wirklich vollständig auszusparen. Ich verstehe die Faszination dadurch - in der Musik gibt es vergleichbare Effekte, die ich auch sehr amüsant finde - aber es läuft dann doch leicht Gefahr, den Inhalt zu schwächen, weil das an dieser Stelle genau passende Wort nicht fallen kann und umständlich umschrieben werden muß (wie oben "Vokal"). Du würdest keinen Gesetzestext in Versen schreiben wollen. Der Grund ist ähnlich: Auch Literatur dient einem Zweck.

janw
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Di 27. Sep 2005, 14:35 - Beitrag #2

Nun die Fragen:
"Literatur dient einem Zweck". Ja? Welchem? Ist sie nicht teilweise einfach da, um...schön zu sein?
Oder dezidiert unschön, je nachdem...

Wenn Literatur Worte benutzt, gezielt gewählt nur diese und jene nicht, wenn sie Zeiten benutzt, gramatikalische wie Metren, was hält sie ab, mit Lauten zu spielen, Wörter zu verändern nach Prinzipien, bewußt gewählt?
Für mich ist dies einfach...Kunst, wie der Maler diese Farbe nimmt und jene nicht, Papier und kein Leinen...

Maglor
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Di 27. Sep 2005, 14:53 - Beitrag #3

Es kommt nicht nur auf die Inhalte an. Das unterscheidet die schöne Kunst von den Sachtexten.
Natürlich sind es auch die sprachliche Geschicke, die einen Text auch mach, nicht allein der Erfingsgeist bzgl der Geschichte an sich.
Man muss die Geschichten nicht erfinden, man muss sie auch erzählen!

MfG Maglor

Feuerkopf
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Di 27. Sep 2005, 15:58 - Beitrag #4

Ich bin ja schon mal heilfroh, dass hier nicht zwischen E- und U-Literatur unterschieden wird, denn für mich gibt es diesen Unterschied nicht.

Literatur als solche will erstmal gar nichts. Der Autor/ die Autorin will etwas, nämlich gelesen werden.

Er/ sie hat etwas zu erzählen, das kann eine kleine Geschichte sein, die vielleicht nur für wenige Leser interessant ist, das kann eine große Story sein, die Millionen Leser weltweit berührt. Er/sie kann ein wortgewaltiger Sprachjongleur sein oder ein minimalistischer Sprachpuritaner. Das macht die Individualität aus.

Ein Autor/eine Autorin möchte die Leser mitnehmen in ihre Gedankenwelt. Die Sprache und all ihre Möglichkeiten sind dazu das Mittel.

Ipsissimus
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Di 27. Sep 2005, 16:00 - Beitrag #5

es ist ein großer Unterschied, ob mensch sich einem Kunstwerk als Rezipient nähert oder als Autor. Der Rezipient stellt bestimmte Fragen an das Kunstwerk, der Urheber ganz andere - Goethe hat das in seinem Faust 1 im Vorspiel auf der Bühne sehr schön dargestellt. Der Unterschied kann in 2 Fragen dargelegt werden: Hauptinteresse des Rezipienten ist "Was will er sagen"; Hauptinteresse des Urhebers ist "Wie kann ich es sagen?"

Das Problem des Urhebers liegt also nicht in dem, was er sagen will, das weiß er im allgemeinen; sein Problem ist vielmehr ein Technisches - wie kann es adäquat ausgedrückt werden, so daß es "rüberkommt".

Urheber neigen daher, wenn sie eigentlich kreativ sind, zu neuen technischen Lösungen. Darstellung von Licht war in der Malerei immer ein Problem - die technischen Lösungen, die dafür gefunden wurden, unterscheiden Epochen voneinander, etwas vereinfacht gesagt.

Ähnlich in der Literatur - was gesagt wird, diese zwei Handvoll fundamental verschiedener Motive sind schnell gefunden und künstlerisch adaptiert. Was bleibt dem Literaten also nach seinem 10ten Buch?

Zunächst natürlich: kann ich´s besser, deutlicher, subtiler usw. sagen. Dann aber auch: kann ich´s anders sagen? Und am Ende vielleicht: welche Kombination von Stil und Technik ist meinen Absichten am gemäßesten?

Ein außerhalb von Expertenkreisen praktisch unbekanntes Buch von Stéphane Mallarmée heißt genau so: "Le livre" - "Das Buch". Es ist ein "technisches Traumbuch", enthält keine Geschichte, nur unzusammenhängede Andeutungen, viele leere Seiten mit Skizzen und Gekritzel, nichts, was mensch lesen würde. Und es ist das mit Abstand wichtigste literarische Werk der Neuzeit, weil alles was in der Folge von Joyces Ulysses auf dessen Einfluss zurückführbar ist - also praktisch die gesamte moderne Literatur - auf dieses Buch von Mallarmé zurückgeht, das den denkbar größten Einfluss auf Joyces Entwicklung hatte.

Und als Recipient kann mensch die Entdeckung machen, daß diese technischen Kabinettstückchen manchmal unglaublich spannend sind. Wer einmal das Glück hat, ein Exemplar von "Le livre" in einer Universitätsbücherei in der Hand zu halten - selbst da ist es nur noch selten zu finden - und die Muße hat, sich diese paar zweihundert Seiten durchzublättern in Ruhe und Konzentration, der wird entdecken, daß so ein Opus emminent künstlerisch ist. Auch wenn er kein Französisch versteht, und die Übersetzung eines solchen Buches sich ohnehin erübrigt.

Padreic
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Di 27. Sep 2005, 19:05 - Beitrag #6

Ganz so einfach kann man es sich, liebe Feuerkopf, fürchte, hoffe ich, nicht machen. Ich sehe durchaus eine Kluft zwischen den Fragen 'Wie sorge ich dafür, dass mein Buch möglichst oft verkauft wird?' und 'Wie kann ich das und das am besten ausdrücken oder erzählen?'. Die meisten Bestsellerautoren werden beide Fragen ins Auge nehmen. Dass es nicht überall eine klare Scheidung zwischen E und U gibt, wie man es so schön nennt, heißt nicht, dass es bei bestimmten Büchern nicht eindeutig ist und es in vielen anderen Fällen Tendenzen gibt. Aber über Ärzteromane wollen wir hier, denke ich, auch nicht sprechen. Ausgangspunkt war ja die Oulipo-Bewegung, deren Prinzipien dem typischen Ärzteroman wohl eher fremd sind.

Dem Prinzip, dass nicht Literatur etwas will, sondern der Autor und auch der Leser etwas wollen, dem kann ich erstmal vorbehaltlos zustimmen. Wegen der Diversität dieser Interessen gibt es auch eine solche Vielzahl verschiedener Literatur. Normative Poetiken engen üblicherweise ein und verurteilen manches, was auch für gebildete und intelligente Leser mit Geschmack von wert sein kann.

Oulipo erinnert mich ein wenig an die Zeit der ersten Jahrzehnte im letzten Jahrhundert in der Musik, besonders an die Erfindung der Zwölftonmusik. Gute Literatur pflegt eine Form zu haben (es mag bedeutende und einflussreiche geben ohne eine offenbare, aber selbst diese Werke haben meist eine verdeckte). Da gibt es die traditionellen, die natürlich gewachsen scheinen und immer nur leicht modifiziert werden. Bei einigen davon scheinen die Regeln etwas obskur und überstreng, wie beispielsweise im einst so populären Sonnett. Trotzdem wurden in dieser Form Werke von größer Schönheit hervorgebracht, insbesondere im englischen Sonnett durch Herrn Shakespeare. Von dort fällt die Überleitung zu einer anderen Form nicht streng: das aristotelische Drama in all seinen Variationen. Warum muss ein Drama immer fünf Akte haben?

Konsequenterweise lösten sich dann im 20. Jh. die Formen auf [ich hoffe, man kann meinen etwas gerafften und sicher leicht verfälschenden Gang durch die Literaturgeschichte verzeihen] oder wurden zumindest freier. Ein Zweiakter überrascht heutzutage keinen mehr, genauso wenig wie ein endreimloses Gedicht.
Dazu ein Stravinsky-Zitat: "The more constraints one imposes, the more one frees oneself of the chains that shackle the spirit... the arbitrariness of the constraint only serves to obtain precision of execution." [entschuldigt, dass ich es nur auf englisch gefunden hab]
Da kommen also welche und finden den Verlust an Form, den so manches Werk im 20. Jahrhundert prägt, gar nicht gut, und wollen neue Formen schaffen, sehr strenge, ähnlich wie Stravinsky es vorschlägt, und sehr unkoventionelle dazu. In der Schule hab ich mal gelernt, Gedichte nach Form, Inhalt und Sprache zu analysieren. Viele Leute mögen die Form als das unwichtigste der drei nehmen (könnte man sie denn trennen). Die Autoren von Oulipo scheinen das anders zu sehen und nehmen die Form als Grundlage ihrer Werke.

Lipogramme (also einen Buchstaben ganz aus dem Werk wegzulassen) sind nur eine Möglichkeit. Und auch diese kann man mit Inhalt füllen. In La Disparation von Georges Perec, dem wohl berühmteste Lipogramm (ohne 'e'), ist zum Beispiel das Fehlen auch zentrales Thema.
Raymond Queneau, ein anderer Oulipo-Autor, schrieb ein Buch, das auf 99 verschiedene Weisen ein und dieselbe kurze und eigentlich recht belanglose Geschichte behandelt. Das Hauptwerk des schon genannten Perec, La Vie Mode d'Emploi, hat die Grundidee, ein Apartment-Haus in 10 mal 10 Teile zu teilen, sie einem Springer gleich, der auf jedes Feld genau einmal kommt, zu durchqueren und von jedem eine Geschichte zu erzählen. Das neben vielen anderen selbstgesetzten Regeln. Und nach allem, was ich gehört habe, muss es ein wundervolles Buch sein. Leider habe ich es, wie die anderen genannten Werke, auch nicht gelesen.

Man muss von einer Form wie des Lipogramms nicht wirklich überzeugt sein und ich glaube auch nicht, dass es eine Form für die Zukunft ist, die die Zeiten überdauert. Aber sie zeigt die Phantasie und die intellektuelle Kraft des Schriftstellers und beschert vor allem ein Leseerlebnis einer Art, wie man es zu vor nie hatte, und zeigt einem wieder, wie wundervoll viele Möglichkeiten Literatur hat und es doch nicht immer das selbe, leicht variiert sein muss.

Padreic

Traitor
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Mi 28. Sep 2005, 23:07 - Beitrag #7

Kurze Eingangsfrage: wofür stehen "E und U"? U wohl recht sicher für Unterhaltungsliteratur, aber E, "Ernsthafte"? (mir gefiele "Erhabene" gut ;) ).

Ich denke, es gibt vier entscheidende Antriebe, Literatur zu schaffen. Der niederste ist zweifelhaft, viele Bücher zu verkaufen und damit viel Geld zu verdienen. Dann gibt es drei "ehrbare": zum einen kann ein Autor eine Geschichte haben, die er erzählen möchte. Dann kann er eine Aussage haben, die er transportieren möchte. Und letztlich kann er ein Kunstwerk schaffen wollen.
In einem anderen, auf den Rezipienten ausgelegten Thread spiegeln sich diese drei Antriebe in den drei Bewertungskategorien wieder, die ich an Literatur anlege: Inhalt, Aussage und Stil.

Nun zum "Oulipo", das der Anlass für diesen Thread war. Ich habe bisher nichts derartiges gelesen und vor Padreics Erwähnungen auch noch nichts davon gehört. Interessant finde ich die Idee aber allemal und einige wenige Werke wären sicher eine faszinierende Lektüre. Ich denke nicht, dass es möglich ist, auf solch eine Art in die Spitze der Weltliteratur vorzustoßen, aber auch Wortkunst kann man rein der Künstlerischheit wegen mögen.

Irgendwie fällt mir mal wieder auf, dass es sehr häufig die Franzosen sind, die die seltsamsten Ideen haben ;)

janw
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Do 29. Sep 2005, 00:05 - Beitrag #8

Traitor, E steht für "ernste"
La france, c´est une nation peculiaire ;)

Besonders, wenn man f durch t ersetzen würde^^

Mir ist bei alledem noch nicht so ganz klar, auf welches opus sich "oulipo" bezieht, in welchen Büchern konkret diese Stilmittel bewundert werden können.
Padreic, magst Du mich erleuchten? ;)

Ipsissimus
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Do 29. Sep 2005, 10:07 - Beitrag #9

es gab mal vor Jahren bei 2001 einen mittlerweile vergriffenen Roman, mit dem schlichten Titel "E", Autor nicht erinnerlich, immerhin über 200 Seiten, in denen kein "e" vorkommt. Das ist eigentlich das einzige mir bekannte größere Werk, bei dem sich daran versucht wurde.

Padreic
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Do 29. Sep 2005, 14:02 - Beitrag #10

@janw:
Oulipo ist kein Werk, sondern eine Gruppe von Schriftstellern (und auch Mathematikern, die schriftstellerisch tätig geworden sind). Die bekanntesten Mitglieder sind wohl Italo Calvino und die schon genannten Raymond Queneau und Georges Perec. Zwei Werke von dem letztgenannten hab ich schon genannt, die bekanntesten Werke von den anderen beiden sind wohl von Queneau 'Stilübungen' und 'Hundertausend Milliarden Gedichte' und von Calvino 'Wenn ein Reisender in einer Winternacht'. Wenn du bei amazon.com 'Perec' eintippst, bekommst du u. a. auch zwei lange Listen mit Oulipo- oder Oulipo-beeinflusster Literatur am Rand.

@Ipsissimus:
Zumindest meinen wikipedia-Recherchen gemäß gibt es mehrere Werke, die dieses versuchen. Da ist erstmal das genannte 'La Disparation', das mindestens auch in englischer und deutscher Übersetzung existiert. Das erste bekannte Buch, das auf's e verzichtete, war 'Gadsby' von Ernest Vincent Wright. Hemle, der deutsche Übersetzer der Disparation, hat auch zwei weitere Romane ohne 'e', die teilweise sogar zusätzlich noch auf's 'r' verzichten, geschrieben.

Und was ich noch zu deinem letzten Post anmerken wollte: Ich glaube, ein Autor ist sich nicht unbedingt bewusst, was er alles da sagen will oder noch weniger, was er alles da sagt. Sonst würden manche Bücher nicht so verdammt viel aussagen. Wenn Autoren wirklich konkret was aussagen wollen, leidet oft das Buch.

@Traitor:
Kannst du die letzte deiner ehrbaren Motivationen noch genauer darlegen? Was macht ein literarisches Kunstwerk aus?

Ipsissimus
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Fr 30. Sep 2005, 14:00 - Beitrag #11

Ich glaube, ein Autor ist sich nicht unbedingt bewusst, was er alles da sagen will oder noch weniger, was er alles da sagt

was ein Autor sagen will, dessen ist er sich meist bewußt; vom zweiten Teil deiner Aussage hingegen lebt ein ganzer Wissenschaftszweig, die Literaturwissenschaft^^

Aber bei genauerem Nachdenken - vielleicht irre ich mich auch hinsichtlich des ersten Teils. Ich habe verschiedentlich und in den letzten 20 Jahren zunehmend öfter von Autoren gelesen, daß es sie Mühe kostet, ihre Geschichte zu entwickeln - das mag ein Hinweis darauf sein, daß sie nicht genau wissen, was sie sagen wollen. Ich bin in solchen Fällen ein wenig skeptisch hinsichtlich der erreichten künstlerischen Ausdruckstiefe - ein Autor, der zuviel an der Geschichte arbeiten muss, arbeitet imo zu wenig an Stil und Ausdruck. - Wobei ich unter "schlechtem Stil" einen nichtdurchgehaltenen Stil verstehe, bei dem die Stilbrüche nicht als bewußtes künstlerisches Mittel eingesetzt werden, sondern aus Unvermögen resultieren. Ein "guter Stil" kann also durchaus auch Popart sein, oder Vulgärsprache enthalten - die Umsetzung macht´s.

Padreic
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Mo 5. Dez 2005, 21:22 - Beitrag #12

Zur weiteren Illustrierung und weil ich es so rumliegen hab, ein kleines Manuskript über Oulipo, was meinem dementsprechenden Referat beim Studienstiftungsauswahlseminar zugrunde lag und was ich mit ein paar Abwandlungen und Kürzungen so vorgetragen hab:

Das Thema dieses Vortrages ist die literarische Gruppe „Oulipo“. Aber bevor ich diese eigentümliche Buchstabenkombination erläutere, will ich ein Zitat von Stravinsky voranstellen, das man (obgleich Stravinsky weder Oulipist noch Literat war) als Motto dieser Gruppierung nehmen könnte: „Je mehr Einschränkungen man sich auferlegt, desto mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln…die Willkürlichkeit der Einschränkungen dient nur der Genauigkeit der Ausführung.“

Nun also zu Oulipo selbst. Oulipo ist eine Gruppe vorwiegend französischer Literaten, die 1960 von Raymond Queneau und Francois Le Lionnais gegründet wurde. ‚Oulipo’ ist hierbei eine Abkürzung für „L' Ouvroir de Littérature Potentielle“ – „Werkstatt für potentielle Literatur“. Zentrales Thema ist für sie der Formzwang – obgleich „Zwang“ nicht ganz das richtige Wort ist, weil Formzwang für sie keineswegs negativ besetzt ist. Es geht ihnen hierbei nicht um die klassischen Formzwänge wie die des aristotelischen Theaters, sondern um alternative, vorwiegend sprachlich-spielerisch oder mathematisch motivierte. Sie versuchten diese sowohl in der schon bestehenden Literatur zu erforschen als auch neue Formen zu schaffen. Zu letzterem werden später noch einige Beispiele folgen.
In diesem Zusammenhang ist übrigens auch der Begriff der potentiellen Literatur zu verstehen: jede von Oulipo geschaffene Form bietet unendlich viele Möglichkeiten der Umsetzung.

Um das literarische Schaffen Oulipos ein wenig zu illustrieren, habe ich zwei Autoren ausgewählt, deren Werke ich exemplarisch vorstellen werde: Raymond Queneau und Georges Perec. Den einen, weil er Gründungsmitglied von Oulipo war und auch außerhalb von Oulipo literarisch Bedeutendes geleistet hat, den anderen, weil er oulipistisches Sprachspiel auf Höhen ansonsten unerreichter Meisterschaft gebracht hat. Aus Zeitgründen muss ich leider darauf verzichten, das Schaffen anderer bedeutender Oulipo-Autoren wie Italo Calvino und Jacques Roubaud auch nur zu skizzieren.

Raymond Queneau wurde 1903 in Le Havre geboren. Er studierte an der Sorbonne Philosophie und Psychologie, belegte aber auch Veranstaltungen in Literatur und Mathematik. Zeitweilig schloss er sich auch der Surrealistenbewegung an, doch ihre Ablehnung von rationalem Verstand und Wissenschaft veranlasste ihn, sich bald wieder von ihnen zu trennen. Sein literarisches Schaffen begann in den 30ern und seine drei Leitlinien darin waren die strenge Konstruktion, in der oft gerade das scheinbare nebensächliche, wie beispielsweise die Kapitelanzahl, nicht dem Zufall überlassen wurde, der Humor und die Verwendung von Alltagssprache gegenüber der literarischen Tradition des klassischen Französischs. 1972 stirbt er in Neuilly bei Paris.

Das Werk, was ich als erstes von ihm vorstellen will, sind die „Stilübungen“ (1947 erschienen werden sie von Oulipo als „vorwegnehmendes Plagiat“ bezeichnet). Inspiriert sind sie von einem Konzerterlebnis Queneaus, wo er Bachs Kunst der Fuge hörte.
Sie bestehen aus 99 Variationen ein und derselben äußerst banalen Geschichte: der Erzähler sieht, wie ein junger Mann mit langem Hals und komischem Hut in einem überfüllten Autobus einen anderen Mann beschuldigt, ihn immer absichtlich anzurempeln, wenn Leute ein- und aussteigen. Als der Mann nicht antwortet und ein Sitzplatz frei wird, setzt sich der junge Mann schnell. Zwei Stunden später sieht ihn der Erzähler wieder, wie ein Freund ihm sagt, dass er sich einen weiteren Knopf an seinen Überzieher nähen solle.
Jede dieser Variationen ist mit einem Stilprinzip überschrieben, in dem dann die Variation geschrieben ist. Es kann die Form verändert werden, also die Geschichte als Komödie, Brief, Verhör oder sonst etwas erzählt werden, man kann sich auf einzelne Sinne beschränken, man kann daraus ein Gedicht machen, man kann allerlei Wortakrobatik treiben (beispielsweise die Endsilben bei den Wörtern weglassen). Meist sind die Variationen interessant, oft lustig, nicht selten aber einfach nur absurd. Eine sei beispielhaft vorgetragen:

Homöoteleuton

Der wohlbestallte Autobus stand an der Halte. Ein junger Balte krawallte, denn der Alte prallte an seine gebügelte Falte. Es hallte und schallte, bis dass es knallte. Der Alte wallte, aber der Balte sah eine Spalte, in die er sich krallte.
Eine Stalte spalte erblallte ich ihn vor der Galte Saint-Lazalte. Er strallte dort wegen eines Knallte, eines Überzieheknallte.


Nun will ich mich Georges Perec zuwenden. Er wurde 1936 in Paris als Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer geboren. Beide Eltern starben im Krieg. Ohne Studienabschluss begann er nach seinem Militärdienst 1962 am Institut für Neurophysiologie in Paris als Archivist zu arbeiten. 1969 tritt er Oulipo bei, 1982 stirbt er wenige Tage vor seinem 46. Geburtstag an Lungenkrebs.
Noch stärker als bei Queneau tritt bei Perec die strenge Konstruktion zu Tage. Diese durchzieht all seine Werke, ob es Romane, Gedichte, Dramen oder Kochrezepte sind; zumindest seit seinem Beitritt zu Oulipo. Zentral in seinem Werk ist auch die Verarbeitung seiner Jugenderfahrungen, was sich unter anderem in einigen autobiographischen niederschlägt.

Eines der bekanntesten Werke Perecs ist ‚La Disparation’, zu Deutsch ‚Anton Voyls Fortgang’, ein Werk, das komplett auf den Buchstaben ‚e’ verzichtet, der sowohl im Deutschen als auch im Französischen deutlich der häufigste ist (umso erstaunlicher ist die Tatsache der Übersetzung). Dieses Werk reiht sich in die lange Tradition der sogenannten Lipogramme ein, Werke, die systematisch auf mindestens einen Buchstaben des Alphabets verzichten. Erste Lipogramme wurden schon in der Antike geschrieben, beispielsweise eine Ilias-Version, die im ersten Gesang auf das ‚a’ verzichtet, im zweiten auf das ‚b’ etc. Neue Höhepunkte, gerade auch in der deutschsprachigen Literatur, fand dann das Lipogramm in Barock und Romantik. Perecs Werk übertrifft sie alle jedoch sowohl im Schwierigkeitsgrad als auch im künstlerischen Anspruch.
Die e-Losigkeit des Romans versucht er nämlich nicht zu überspielen, sondern sie wird geradezu zum Thema des Romans. Es ist eine Entführungsgeschichte des titelgebenden Charakters, zentrales Thema ist so das Fehlen, das Verschwinden. Vielleicht spielt er damit auch auf den Tod seiner Eltern an.
Wie sehr der Verzicht auf das ‚e’ die Sprache umgestaltet (in der Übersetzung wohl noch mehr als im Original), will ich anhand des Anfangs des Romans demonstrieren:

Vorwort – Wo bald schon klar wird, dass damit Fluch und Qual anfängt

Kardinal, Rabbi und Admiral, als Führungstrio null und nichtig und darum völlig abhängig vom Ami-Trust, tat durch Radionachricht und Plakatanschlag kund, dass Nahrungsnot und damit Tod aufs Volk zukommt. Zunächst tat man das als Falschinformation ab. Das ist Propagandagift, sagt man. Doch bald schon ward spürbar, was man ursprünglich nicht glaubt. Das Volk griff zum Stock und zum Dolch. „Gib uns das täglich Brot“, hallts durchs Land und „pfui auf das Patronat, auf Ordnung, Macht und Staat“. Konspiration ward ganz normal, Komplott üblich. Nachts sah man kaum noch Uniform. Angst hält Soldat und Polizist im Haus.


Ein paar kurze Worte will ich auch noch zu Perecs wohl bedeutendsten Roman, „Das Leben: eine Gebrauchsanweisung“. Es ist ein langes Werk, das vielerlei Geschichten verknüpft, die allesamt in einem großen Pariser Wohnhaus spielen. Es hat incl. Dachboden und Erdgeschoss 10 Stockwerke und in jedem zehn Räume. Perec wandert nun von Raum zu Raum, im Muster eines Springers, der ein 10x10-Schachbrett durchquert, ohne einmal dasselbe Feld zu betreten. Die zentralen inhaltlichen Elemente in jedem dieser Abschnitte sind durch eine umfangreiche Tabelle festgelegt, von den Einrichtungsgegenständen bis zu den Zitaten, auf die Perec anspielt. Trotz der rigiden Konstruktion ist es ein Buch voller Leben.

Nachdem ich auf die Prosa der beiden Autoren eingegangen bin, komme ich nun zur Lyrik.

Eines der ersten Werke der Oulipo-Zeit war Queneaus „Hunderttausend Milliarden Sonette“. Wer sich darunter ein ungeheuer dickes Buch vorstellt, liegt falsch. In Wirklichkeit handelt es sich hier erstmal nur um zehn verschiedene Sonette, die jedoch so angelegt sind, dass sie alle in der gleichen Zeile auch den gleichen Reim haben und auch grammatikalisch und inhaltlich austauschbar sind. Somit hat man in jedem der vierzehn Verse des Sonettes zehn Wahlmöglichkeiten, was in der angegebenen Zahl resultiert.

Während Queneaus Werk so noch in der Tradition wurzelt, geht Perec völlig neue Werke. In Anlehnung an die Zwölftonmusik nimmt er in jedem Gedicht seines Zyklus’ „Alphabets“ elf Buchstaben als Grundvorrat und setzt sich als Prinzip, keinen der Buchstaben zu wiederholen, eh nicht die zehn anderen vorgekommen sind. So besteht jedes dieser Gedichte quasi aus der Hintereinandersetzung von elf Anagrammen der elf Grundbuchstaben und doch kommen sinnvolle, ja lyrische Sätze heraus.

Natürlich ist ein solches Werk unübersetzbar. Um dennoch einen Eindruck von so etwas zu geben, sei hier ein verwandtes Werk von Unica Zürn rezitiert:

Tausend Zaubereien

Ei, zarte Suenden bau:
reizende Tauben aus
Zundertau. Eine Base
aus Reizdaunen bete
an. Zuende Staubeier
aus, in Zaubertee. Den
Zebus traue an deine
Busenzierde. Taue an
Eisabenden Azur. Tue
in den Zaubertausee
tausend Zaubereien.


Als letztes will ich noch ein Hörspiel von Georges Perec erwähnen, das er zusammen mit seinem Übersetzer Eugen Helmlé für den SWR erstellt hat, „Die Maschine“. Hier geht es um eine Maschine, die versucht, sich dem Gedicht, „Wanderers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe zu nähern. Sie rezitiert es auf verschiedene Weisen, zählt die Adjektive, Substantive und Verben, assoziiert Sachen aus ihrer Datenbank und nimmt auch noch ein paar lustige Manipulationen am Gedicht vor. Eine will ich kurz darstellen, weil sie recht charakteristisch für Oulipo ist, die S+15-Methode. Man nimmt sich ein beliebiges Wörterbuch und ersetzt in einem vorliegenden Text alle Substantive durch das Substantiv, das fünf Stellen weiter steht:

(das deutsch-spanische diccionario lliputiense cadete)

Über allen Glasuren
Ist Russ.
In allen Wissenschaften
Spürest du
Kaum ein Hausmädchen.
Die Vollkommenheiten schweigen im Wandkalender.
Warte nur balde
Ruhest du auch.


Zusammenfassend kann man sagen, dass für Oulipo die Form alles und die Sprache die eigentliche Wirklichkeit ist, während der Inhalt und das, was wir normalerweise als Realität betrachten, zurücktreten. Merkwürdig anmutende, willkürlich erfundene Formen ersetzen die klassisch gewachsenen.
Ist das nur Spiel und Artisterei oder ist es echte Literatur von Wert, Kunst gar, die uns neue Wege eröffnet?

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Mo 5. Dez 2005, 21:43 - Beitrag #13

Die Gruppe erinnert mich an die Dadaisten bzw. den Dadaismus.

Ganz allgemein möchte ich dazu nur kurz anmerken, dass Literatur eine Form der Kunst ist und in der Kunst alles möglich und erlaubt ist. Was wäre Kunst ohne Experimentieren? Das Experimentieren führt häufig zum Provozieren und genau das ist wichtig. Kunst ist Herausforderung und auch wenn die Aufgabenstellung, ein Werk ohne den Buchstaben E zu produzieren, lächerlich oder sinnlos erscheint, so mag sie doch für einige eine intellektuelle Herausforderung darstellen, die zu meisten gar nicht so einfach ist. Dabei geht es meiner Ansicht nach nicht darum, ob das jemand tatsächlich liest, sondern es geht um das eigene Wachsten und die Befriedigung des eigenen Bedürfnisses, diese Aufgabe gemeistert zu haben.

Ich glaube nicht, dass jeder Autor mit einer Zielgruppe im Kopf schreibt. Schreiben als hedonistischer Akt, als innere Therapie, als intellektuelle Befriedigung des eigenen Ichs und der eigenen Gedankenwelt ist durchaus legitim und kommt häufig vor. Das wiederum bedeutet nicht, dass es nicht unter Umständen Freude bereitet, wenn jemand anders es liest, aber das ist nicht der eigentliche Grund oder Antrieb für das Erstellen eines literarischen Werks. Soviele Autoren schreiben für sich selbst, haben keinen Kontakt zum Publikum bzw. ihrer Leserschaft und kümmern sich nicht um das Marketing, z. B. Thomas Pynchon. Ich denke, es ist wie bei einem Musiker, der auch dann noch musiziert, wenn niemand seine Ergüsse hören möchte. Es klingt vielleicht naiv, aber ich glaube, dass es die Menschen gibt, die schreiben oder musizieren müssen, weil es wie eine Sprache ist, die sie beherrschen und jeden Tag benutzen. In der Musik sind auch alle Experimente erlaubt. Alles darf verknüpft werden und das gleiche gilt für die Literatur. Ein Werk muss keinen Sinn ergeben. Kunst muss keinen Sinn ergeben. Kunst ist Freude und eine ungewöhnliche intellektuelle Herausforderung ist für manche Genuss pur! Kunst muss der Bereich des Lebens bleiben, indem es keine Tabus und vor allen Dingen keine Regeln gibt.

Lykurg
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Die Tausend Zaubereien finde ich schön. Und mein zu Anfang gebrachtes Posting "Wertarmer Wirrwarr" war - was trotz meiner Replik nicht deutlich wurde - seinerseits nur ein Oulipo, wenn auch einfachster Art (Beschränkung auf die häufigsten Vokale a, e und i.) Ich freue mich sehr an Zwölftonmusik und Dada, deren Verfahren tatsächlich z.T. vergleichbar sind, und habe gegen literarische Experimente pauschal nichts einzuwenden - wo kämen wir denn da hin? Nirgendwo! Tut mir fast etwas leid, durch ein Mißverständnis eine leere Debatte ausgelöst zu haben - aber sonst hätte Padreic keinen Anlaß gehabt, den Text zu posten... insofern gut.

Padreic
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Sa 10. Dez 2005, 14:23 - Beitrag #15

Zu Dada: Gewisse Parallelen mag es geben; die Gedichte Jandls erinnern vielleicht teilweise an Oulipo. Doch viele andere Dinge aus Dada sind fast entgegengesetzt zu Oulipo: das Element des Zufalls, Anti-Kunst etc.

@SenioraEscarnio: Ist denn für dich alles, was sich als Kunst bezeichnet, auch Kunst?

SenioraEscarnio
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So 11. Dez 2005, 10:56 - Beitrag #16

@Padreic: Im Grunde genommen ja. Ich sehe jeden Akt der Kreativität als Kunst an. Das Produkt muss mir nicht gefallen, aber mein persönlicher Geschmack spielt eigentlich keine Rolle. Ich persönlich definiere für mich Kunst als jede Art der kreativen Darstellung, gleichgültig in welchem Bereich, ob Literatur, Fotografie, Malerei, Skulpturen, auch Blutwurst in einer Fettpfanne ist Kunst, auch wenn Sie mich persönlich nicht anspricht. Ich mag auch keine Unterteilung der Kunst in besser oder schlechter (siehe Klassik und Pop- oder Rockmusik). Ich persönlich unterteile einen künstlicherischen Erguß lediglich in Bereich a) oder b), d. h. spricht er mich an, berührt er etwas in mir, legt er mit eine neue Sichtweise dar, bringt er mich dazu, über etwas Nachzudenken oder gar mein Denkschemata zu ändern oder bewirkt er bei mir überhaupt nichts, was jedoch bedeuten kann, dass er bei anderen Menschen etwas berührt. Kunst kann immer nur persönlich genossen und empfunden werden. Ich kann mich mit anderen austauschen, die ähnlich empfinden, aber der eigentliche Verarbeitungsprozess beim Lesen eines Buches z. B. ist zuerst einmal individuell und persönlich. Nur das Werk und ich. Das gleiche geschieht bei dem Betrachten eines Bilds. Ich und das Bild. Ein Film etc.

Die ersten Bücher wurden als Schund betrachtet. Die ersten Filme wurden als Trash bezeichnet. Der erste Rocksong war Teufelswerk, ganz zu schweigen von Comics. Und alles gilt heute als Kunst. Graffiti ist Kunst, auch wenn manche Stadtabgeordnete dem widersprechen würden. Natürlich gibt es darunter wie überall geniale und schlechte Sprayer (aber hier ist die Unterteilung von gut und schlecht auf das Handwerkszeug beschränkt, sprich den Umgang mit den Spraydosen!), aber die guten Sprayer.... du schaust aus dem Fenster eines Zuges und plötzlich, wow, ein geniales Graffiti. Kunst ist überall!

Aber wie in meinem ersten Post in diesem Topic bereits erwähnt, ist für mich der wichtigste Aspekt eigentlich, dass in der Kunst alles erlaubt sein muss, solange dabei kein lebendes Wesen physisch oder psychisch verletzt wird. Es darf keine Zensur geben, denn Kunst ist die letzte Form, in der der Mensch nicht durch ein striktes Regelwerk eingeschränkt ist, die letzte Form der Freiheit. Kunst darf zu Diskussionen anregen, das war auch immer ihr Aufgabe, und sie darf die Menschen in Gruppen einteilen, in Befürworter und Ablehner, aber sie darf nicht zensiert werden.

Lykurg
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Sa 19. Nov 2011, 00:17 - Beitrag #17

Inzwischen habe ich, wie im Wblig bekundet, einen progressiv lipogrammatischen Roman gelesen, nämlich Mark Dunn: "Ella Minnow Pea" (und parallel dazu dessen deutsche Übersetzung "Nollops Vermächtnis", aus Freude an deren Qualität).

Spannend daran fand ich, daß die Technik eben nicht nur virtuoser Kunstgriff war, sondern darüber hinaus durch die Handlung begründet wurde. Der Roman bleibt erstaunlich lange orthographisch korrekt, erst als nur noch wenige Buchstaben übrig bleiben, wird zunehmend phonetisch geschrieben und ersetzt.

Ein besonders schönes älteres Lipogramm fand ich mittels Wikipedia, nämlich ein Gewittergedicht von Barthold Hinrich Brockes, das zwar nicht die Absicht hat, komplett auf ein Zeichen zu verzichten, dafür aber um so mehr durch gezielten Einsatz und Nichteinsatz des r den Klang des Textes zu modifizieren. Man sehe selbst...

Traitor
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Mo 21. Nov 2011, 23:44 - Beitrag #18

Danke für's Rauskramen, Lykurg, die hiesige Antwortschuldigkeit ist ja sogar noch 2 Jahre älter als die von meiner Liste. ;) Und glücklicherweise weiß ich auch noch halbwegs, wovon ich damals geredet hatte. Und der Fragende ist sogar noch aktiv.

Zitat von Padreic:@Traitor:
Kannst du die letzte deiner ehrbaren Motivationen noch genauer darlegen? Was macht ein literarisches Kunstwerk aus?
Die Autorenmotivation "Kunstwerk schaffen" hatte ich ja mit dem Rezeptionskriterium "Stil" verbunden. Zugespitzt meine ich damit rein ästhetische Aspekte des Werkes. Das verengt den Kunstbegriff aber wohl zu sehr, reine Ästhetik ohne Aussage ist eher Handwerk denn Kunstwerk. Daher dürften die beiden Dreibeine nicht ganz parallel liegen, aber doch eng beieinander.


Der Vollständigkeit halber Lykurgs Wblig-Rezension:
Zitat von Lykurg:Mark Dunn: Ella Minnow Pea: a progressively lipogramatic epistolary fable (2001]Nollops Vermächtnis[/b])
Ein Briefroman, aus dem im Lauf der Zeit immer mehr Buchstaben verschwinden, hier (anders als bei einigen anderen Oulipo-Texten) sehr schön durch die Handlung begründet: Von der Inschrift an Nollops Denkmal auf der gleichnamigen Insel fallen immer weitere Buchstaben herunter und werden vom sich zunehmend als totalitäre Priesterschaft gebärdenden Rat der Insel für verboten erklärt. Niedliche, etwas verwirrende Geschichte, da ziemlich viele Figuren vorkommen, deren Geschichten man nicht besonders aufmerksam folgt, weil der Text selbst immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Genial aber die deutsche Übersetzung, die die Auslassungen des Originals getreu reproduziert (wenn auch leider die deutschen Pangramme längst nicht so gut sind und sein können wie die englischen).

Maglor
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Mi 30. Nov 2011, 00:00 - Beitrag #19

Nicht so bekannt wie das ein-vokalige Gedicht "Ottos Mops", ist dieses Gedicht gleichen Autors, welches einem ähnlichen Problem gewidmet ist.

lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum

Ernst Jandl

In jenen Werk erkennt man noch das Primat der Aussprache. Die Frage der Tastaturseite und des Schriftbildes erachte ich als zweitrangig.
Die Oulipo-Werke der 1960er dürften allen Nicht-Tippsen ein Rätsel bleiben.

Lykurg
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Mi 30. Nov 2011, 01:09 - Beitrag #20

bdfjopqxyzäöüß kommen zwar nicht vor, das ist angesichts der Kürze des Textes aber noch nicht allzu auffällig. ;)

Mir kommt diese Denkweise übrigens auffallend musikalisch vor, mit dem Pangramm als literarisches Pendant einer Zwölftonreihe und diesen Einschränkungen als Versuch einer neuen Harmonielehre. Vielleicht allzu gesucht. Wie ist das mit Künstlern ohne eine bestimmte Farbe?


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