janw, die Beschränkung der Dichtung auf das Fiktionale ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. überwunden. Beispiele dafür finden sich etwa in Uhlands historischen Balladen, aber auch in Fontanes zeitbezogenen Texten. Ein Vordenker war die gelegentliche Heinesche Politsatire. Noch realistischer
(meine Gegenüberstellung von Fiktion und Realismus ist allerdings unglücklich) werden einige Dichter zu Anfang des 20. Jh., insbesondere Brecht und Benn. Es gab aber schon im Spätmittelalter die Form des Ereignisliedes, durch das politische Ereignisse (ob Krieg, Kreuzzug oder Königsmord) dargestellt und in erstaunlich kurzer Zeit vielerorts bekanntgemacht wurden. -
Auch Prosatexte sind oftmals "in Form gebracht", halten eine Stilstufe, benutzen bewußt eine besondere Wortstellung, verwenden refrainartige Motivwiederholungen, Klangspielereien etc. (aber das ist nur ein Umkehrschluß. Die Merkmale sind wohl nur Bedingung, nicht aber Beweis).
Spender, manche Leute sollten lieber Nägelkauen als schreiben... *an memoirenschreibende 'Musiker' denk*^^ - Zustimmung.
Maglor, Lieder
sind Gedichte (s.o.), Balladen ebenfalls. (Wobei hier das Zusammentreffen lyrischer, epischer und dramatischer Elemente gattungsbegründend ist). Und daß Kürze und Würze für ein Gedicht charakteristisch sein sollen, halte ich für ein Gerücht. Man könnte sie allerhöchstens als ein mögliches Kriterium zur Beurteilung der Qualität sehen, aber auch das finde ich fragwürdig: Lies doch mal Bürgers "
Lenore" unter dem Gesichtspunkt der Kürze.^^ Auch Schillers bedeutendere Gedichte sind meist deutlich länger. "Würze" ist jedenfalls aus meiner Sicht ein äußerst subjektiver Wert, aber für jeden
guten Text (egal, welcher Gattung er angehört) unbedingt erforderlich. Was ist für dich eigentlich Goethes "
Reineke Fuchs"?
Ich muß dir aber zustimmen, daß das Lehrgedicht (egal ob antik oder frühneuzeitlich) für diese Betrachtungen wenig in Frage kommt, du stimmst hier mit
Hegel überein, für den der zuerst vollständig ausgeformte prosaische Inhalt die nachträglich angesetze künstlerische Form überwiegt. Eine kritische Haltung findet sich auch in Carl Spittelers Essays (1917):
[size=-1]Das Lehrgedicht spielt, wie man weiß, in der Weltliteratur eine ganz bedeutende Rolle, und zwar, wohl zu beachten, bei den poesiebegabtesten Völkern in ihrer allerbesten Zeit. [...][/size][size=-1] Wie aber sollen wir uns den Reiz erklären, den das Lehrgedicht ausnahmsweise auch auf einen wirklichen Dichter auszuüben vermag? Anwesenheitsgefühl überschüssiger Sprach- und Formvirtuosität bei augenblicklicher Abwesenheit der Inspiration. [/size]
Ein schönes Beispiel für ein modernes Lehrgedicht findet sich übrigens
hier, gerade für mich jetzt sehr passend...^^