Sagt mir ieman waz is minne...?

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
janw
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Fr 23. Dez 2005, 04:40 - Beitrag #1

Sagt mir ieman waz is minne...?

Weil sich nun im "Eigene Gedichte"-thread eine Diskussion über das Wesen von Dichtung im allgemeinen und besonderen entsponnen hat, starte ich mal diesen thread, auf daß die Diskussion hier weiter gehen möge.

Der Titel stammt aus einem Minnelied von Walter von der Vogelweide, in dem er seine Vorstellung des Minnesangs darlegt. Gewiß ist der Begriff der Minne(-Dichtung) nicht mit unserer Vorstellung von Dichtung gleich zu setzen, aber das Zitat steht eben auch für den Bedeutungswandel, den der Begriff der Dichtung im Laufe der Zeiten erfahren hat.

Nun also, was ist Dichtung?

Feuerkopf
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Fr 23. Dez 2005, 10:16 - Beitrag #2

Für mich ist Dichtung Er-dachtes, Ge-dachtes und letzlich Ver-dichtetes.

Dann kann es auch bestimmte Form annehmen, streng, wie ein Sonnett oder rein auf das Silbenmaß beschränkt wie ein Elfchen. Es kann auch nur Form sein, damit spielen. Es kann absurd sein, lautmalerisch oder extrem bildhaft. Es darf an allen Regeln kratzen und alle verletzen.

Für mich darf Dichtung alles.

Wenn ich allerdings gewolltFormen einsetze, dann sollten sie auch stimmen. Meine Meinung.

Maglor
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Fr 23. Dez 2005, 12:04 - Beitrag #3

Ich würde Minnesang gar nicht als Gedicht bezeichnen. :P
Es handelt sich um Lieder. Natürlich sind aber Liedtexte Dichtung.
Nicht alles, was Dichtung ist, ist auch Gedicht.
Eingetümlichkeit der Dichtung ist, dass der Text kein Sachtext ist; er ist in irgendeiner Hinsicht fiktional. Die Grenzen sind dabei fließend.
Bei der Lyrik, letztlich nur ein Teil der Dichtung, kommt es vor allem auf den Klang der Worte an. Das Gedicht ist eine lyrische Kurzform.
Merkmale sind Metrum, Vers- und Strophengliederung und unter mständen auch Reime.
Gegenstand eines Gedichtes ist nicht die Erzählung einer Geschichte, wie etwa in Roman, Epos und Ballade, sondern die Wiedergabe einer Stimmung.
MfG Maglor

Feuerkopf
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Fr 23. Dez 2005, 12:20 - Beitrag #4

Mit dem Klang wird es hier schon etwas schwierig. ;)

Lykurg
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Fr 23. Dez 2005, 14:22 - Beitrag #5

Maglor, zwischen Lied und Gedicht würde ich nicht trennen. Lied ist eine Untergattung, eine andere wäre etwa Ballade oder Epos. Es gab aber auch (besonders in Renaissance und Barock) die Form des Lehrgedichts, insofern kann man den sachbezogenen Inhalt nicht ausschließen. Das hängt ganz einfach damit zusammen, daß man sich gereimte Inhalte besonders gut merken kann (-> Merkverse, didaktische Kinderreime etc.)

Ich möchte die Autorabsicht als weiteres (mein einziges?) Kriterium einführen. Was mit dem Anspruch geschrieben wurde, ein Gedicht zu sein, ist eines.

janw
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Fr 23. Dez 2005, 14:22 - Beitrag #6

@Maglor:
"Ich ging im Walde so für mich hin.
Um nichts zu suchen, das war mein Sinn."

Ich bin also im Wald gewesen, einfach nur so, um dort zu sein. Und diese in Reimform gesetzten Worte berichten davon. Ein Sachtext also, oder nicht?;)

Die Beschränkung auf rein Fiktionales sehe ich nicht als bestimmende Eigenschaft von Dichtung, eher als tatsächliche Beschränkung der Inhaltsauswahl im Mitteleuropa der letzten paar Jahrhunderte.

Bestimmende Eigenschaft ist für mich das Vorhandensein einer Form - auch ein bewußter Bruch derselben setzt Fragmente derselben voraus. Und so ist Dichtung für mich eben das Ergebnis von Verdichtung des Inhalts in ein erkennbares Wort-Muster, das selbstverständlich - wiederum bewußt - gebrochen werden darf.
Prosa gibt, was gedacht wird oder was geschicht, formal unverändert wieder, Dichtung, Lyrik, bringt es "in Form".

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Sa 24. Dez 2005, 07:10 - Beitrag #7

Schreiben ist besser als Nägelkauen. Hihi. :)

Manchmal ist nicht nur die Form zwecks Akzentuierung gebrochen, sondern die fortwährende Brechung einer nicht vorhandenen Form, wird durch eine Form akzentuiert. ;)

Ernsthafter: Das Ahnen einer Form kann für eine Überraschung verwendet werden, wenn die auf die Ahnung folgende Form anders ist, als die geahnte Form.

Der Nonkonformismus ist normkonform mit der Nonkonformität.

Es gibt nur eine Regel: Es gibt keine Regeln. ;)

Frohe Weihnachten!

Maglor
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Sa 24. Dez 2005, 23:05 - Beitrag #8

Was die Fiktionalität betrifft, so meinte ich keineswegs die reine Fiktionalität sondern eine Teilfiktionalität. Mit Literatur wird ja nicht unbedingt wertungsfreier Fotorealismus in Verbindung gebracht. ;)
Feuerkopf, das von dir zitierte Werk hat sehr wohl einen Rhythmus und einen Klang, nur eben keine Worte. Man kann es z.B. summen. Ich halte für Gedichte das Lautbild entscheidender, das Schriftbild ist nur die entsprechende Fixierung des Lautbildes. Gedichte sollen auch mal laut gelesen oder gar gesungen werden, wenigstens sollte man sich den Laut mit dem „inneren Ohre“ vorstellen. Lyrik kommt ja auch von Lyra!
Charakteristisch für das Gedicht ist die Kürze und Würze. Bei Schillers Glocke ist diese nicht unbedingt gegeben; der Titel Lied ist natürlich angemessen. Lieder können auch Gedichte sein.
Es mag vielleicht auch schon literaturwissenschaftliche Ordnungswut sein Gedicht und Ballade zu unterscheiden. Goethes Faust ist ein Drama, Homers Ilias ein Epos, beides keine Gedichte. Die Literaturwissenschaft unterscheidet drei Hauptgattungen: Lyrik, Epik, Dramatik. Die Epik enthält Erzählung, die Dramatik Handlungen und die Lyrik Stimmungen. Die Bindung an das Metrum ist daher weniger entscheidend wie der Inhalt.
Auch Ovids „Lehrgedichte“ über die Bienenzucht haben mit dem heutigen Gedichtsbegriff wenig zu tun. Lykurg hat natürlich recht, dass man früher anders mit der Literatur umging und sich nicht scheute auch Sach- und Fachliteratur in den Hexameter zu setzen.

MfG Maglor

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So 25. Dez 2005, 03:10 - Beitrag #9

janw, die Beschränkung der Dichtung auf das Fiktionale ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. überwunden. Beispiele dafür finden sich etwa in Uhlands historischen Balladen, aber auch in Fontanes zeitbezogenen Texten. Ein Vordenker war die gelegentliche Heinesche Politsatire. Noch realistischer (meine Gegenüberstellung von Fiktion und Realismus ist allerdings unglücklich) werden einige Dichter zu Anfang des 20. Jh., insbesondere Brecht und Benn. Es gab aber schon im Spätmittelalter die Form des Ereignisliedes, durch das politische Ereignisse (ob Krieg, Kreuzzug oder Königsmord) dargestellt und in erstaunlich kurzer Zeit vielerorts bekanntgemacht wurden. -

Auch Prosatexte sind oftmals "in Form gebracht", halten eine Stilstufe, benutzen bewußt eine besondere Wortstellung, verwenden refrainartige Motivwiederholungen, Klangspielereien etc. (aber das ist nur ein Umkehrschluß. Die Merkmale sind wohl nur Bedingung, nicht aber Beweis).

Spender, manche Leute sollten lieber Nägelkauen als schreiben... *an memoirenschreibende 'Musiker' denk*^^ - Zustimmung.

Maglor
, Lieder sind Gedichte (s.o.), Balladen ebenfalls. (Wobei hier das Zusammentreffen lyrischer, epischer und dramatischer Elemente gattungsbegründend ist). Und daß Kürze und Würze für ein Gedicht charakteristisch sein sollen, halte ich für ein Gerücht. Man könnte sie allerhöchstens als ein mögliches Kriterium zur Beurteilung der Qualität sehen, aber auch das finde ich fragwürdig: Lies doch mal Bürgers "Lenore" unter dem Gesichtspunkt der Kürze.^^ Auch Schillers bedeutendere Gedichte sind meist deutlich länger. "Würze" ist jedenfalls aus meiner Sicht ein äußerst subjektiver Wert, aber für jeden guten Text (egal, welcher Gattung er angehört) unbedingt erforderlich. Was ist für dich eigentlich Goethes "Reineke Fuchs"?

Ich muß dir aber zustimmen, daß das Lehrgedicht (egal ob antik oder frühneuzeitlich) für diese Betrachtungen wenig in Frage kommt, du stimmst hier mit Hegel überein, für den der zuerst vollständig ausgeformte prosaische Inhalt die nachträglich angesetze künstlerische Form überwiegt. Eine kritische Haltung findet sich auch in Carl Spittelers Essays (1917):
[size=-1]Das Lehrgedicht spielt, wie man weiß, in der Weltliteratur eine ganz bedeutende Rolle, und zwar, wohl zu beachten, bei den poesiebegabtesten Völkern in ihrer allerbesten Zeit. [...][/size][size=-1] Wie aber sollen wir uns den Reiz erklären, den das Lehrgedicht ausnahmsweise auch auf einen wirklichen Dichter auszuüben vermag? Anwesenheitsgefühl überschüssiger Sprach- und Formvirtuosität bei augenblicklicher Abwesenheit der Inspiration. [/size]
Ein schönes Beispiel für ein modernes Lehrgedicht findet sich übrigens hier, gerade für mich jetzt sehr passend...^^

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So 25. Dez 2005, 05:16 - Beitrag #10

Spender, manche Leute sollten lieber Nägelkauen als schreiben... *an memoirenschreibende 'Musiker' denk*^^ - Zustimmung.
Bei Stings "Broken Music" trifft das nicht zu, finde ich. Das Original fand ich klasse, ich weiß natürlich nicht, wie die Übersetzung ist. Ansonsten habe ich noch keine Musikermemoiren gelesen. So etwas langweiliges interessiert mich sonst auch nicht. :D

Lykurg
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So 25. Dez 2005, 20:52 - Beitrag #11

Ich hatte 'Musiker' in Anführungszeichen gesetzt. Die Erinnerungen von tatsächlichen Musikerpersönlichkeiten, etwa Quasthoffs "Die Stimme" uvm. finde ich äußerst interessant, auch jemandem wie Sting würde ich einen reizvollen Text zutrauen. In Anführungszeichen aber bezog sich 'Musiker' auf den 'großen' Autor von "Nichts als die Wahrheit". Aber damit sind wir OT, schließlich produzieren Musiker noch seltener gedichtete Memoiren als ungedichtete Songtexte. ;)

Maglor
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So 25. Dez 2005, 22:00 - Beitrag #12

Meine Nachforschungen ergaben, dass das Gedicht und Dichtung mit verdichtet und abgedichtet von den Bedeutung her wenig gemein haben.
Tatsächlich geht "Dichten" auch das althochdeutsche Verb "dihton/tihton" zurück und diese entspricht semantisch den heutigen Verben schreiben und verfassen.
Heute bezieht sich Dichtung nicht nur auch das Gedicht sondern auch auf andere Gattungen der Literatur, anno dazumal wohl auf jegliches Schriftstück.

@Lykurg Gehe ich recht in der Annahme, dass du jedes Werk der Gattung Lyrik erst einmal Gedicht nennst?
Im Grunde ist dies auc die vorherrschende Defintion von Gedicht. ;)
Teilweise habe ich mich wohl in der Abgrenzung von Epik, Lyrik und Dramatik verloren.
Tatsächlich ist aber die Abgrenzung von Dramatik und Epik, die einzige Möglichkeit etwas unmetrischen als Gedicht zu bezeichnen. Nur die Definition durch Inhalt und Länge ermöglicht dies. Ist man Freund der volkstümlichen Gedichtsdefinition "hat Reime wird aber nicht gesungen" so fallen sogenannte "freie Rythmen" einfach weg.

Das Textformat ist meiner Ansicht nach ziemlich belanglos. Im Mittelalter schrieb man die Verse einfach hintereinander weg, also quasi im Blockformat. Nehme ich nun eigentliche Prosa und brösel sie in mehrere Zeilen auf... Entsteht so ein Gedicht?

MfG Maglor

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Mo 26. Dez 2005, 01:05 - Beitrag #13

Zitat von Lykurg:Ich hatte 'Musiker' in Anführungszeichen gesetzt. Die Erinnerungen von tatsächlichen Musikerpersönlichkeiten, etwa Quasthoffs "Die Stimme" uvm. finde ich äußerst interessant, auch jemandem wie Sting würde ich einen reizvollen Text zutrauen. In Anführungszeichen aber bezog sich 'Musiker' auf den 'großen' Autor von "Nichts als die Wahrheit". Aber damit sind wir OT, schließlich produzieren Musiker noch seltener gedichtete Memoiren als ungedichtete Songtexte. ] Eigentlich kenne ich nur die Memoiren eines einzigen Musikers... *g*

Naja, Stings "Broken Music" ist sicher auch die Ausnahme schlechthin, wird auch von einigen Kritikern als eine positive Ausnahme dieser Sparte Literatur gesehen. Wobei man sicher sogar darüber diskutieren könnte, ob Memoiren überhaupt zur Literatur zählen. Manche Leute sind ja sehr streng. Es kommt aber wohl darauf an, wie etwas geschrieben ist und nicht in welcher Sparte.

Wo wir gerade von streng reden. Feuerkopf halte ich für eine Minimalistin oder zumindest für eine Puristin, und mir fällt es oft schwer mich in solche Texte hinein zu versetzen, weil ich doch sehr zu Übertreibungen, blumiger Sprache und Wortspielen neige; es sei denn, ich reiße mich mal zusammen.

Trotzdem, auch Minimalistisches hat seinen Reiz, es kann manches vielleicht stärker ausdrücken, als Überbetonung, da Ungeschriebenes sehr von der Interpretation und somit von der Phantasie des Lesers abhängt. Minimalismus liegt damit wohl näher an der Literatur, wenn man unter Literatur die Möglichkeit der Interpretation versteht.

Zitat von Maglor:Das Textformat ist meiner Ansicht nach ziemlich belanglos. Im Mittelalter schrieb man die Verse einfach hintereinander weg, also quasi im Blockformat. Nehme ich nun eigentliche Prosa und brösel sie in mehrere Zeilen auf... Entsteht so ein Gedicht?
Interessant, dass du das erwähnst. Mir fällt dabei die Art ein, wie Suzanne Vega arbeitet. Sie schreibt wohl gerne persönliche subjektive Beobachtungen in ihr Tagebuch, bevor sie sie irgendwann einmal wieder aufgreift und verdichtet. Ich finde den Ausdruck "Verdichten" trifft die Enstehung von Gedichten ziemlich gut. Natürlich sind Reime auch sehr reizvoll. Die Vertonung ebenfalls, wobei das natürlich in eine andere Richtung geht und nicht jeder sieht Musikstücke als verdichtete Geschichten, was sie aber durchaus sein können.

Einige Male ist mir beim späteren Betrachten meiner Poesie aufgefallen, dass ich eigentlich eher ein Art Gefühlstagebuch führen wollte, nur heraus kam dabei etwas versartiges. Irgendwie finde ich diese Art der Textdarstellung reizvoll. Wahrscheinlich weil der allergrößte Teil der Texte, die man liest, in der normalen Form vorhanden sind, also wie Geschichten, wie Prosa. Ein wenig läßt sich mit Poesie auch persönliches in Mystik einsperren, von Rätsel umgeben. Das finde ich auch reizvoll, weil dies, trotz aller Übertreibung und dem Hang zum Psychedelischen, ein wenig die Tür zur Interpretation öffnet.

janw
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Mo 26. Dez 2005, 13:00 - Beitrag #14

Zitat von Lykurg:janw, die Beschränkung der Dichtung auf das Fiktionale ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. überwunden.

O gewiss, da hast Du recht. Ich wollte darauf hinaus, daß nach dem Mittelalter, wo das Gedicht sehr oft auch nicht-fiktionale Inhalte enthielt, in den folgenden Jahrhunderten, ja, eben bis in das 19. JH. Gedichte praktisch nur noch fiktional waren. Die Entwicklung von Satire und die Verpackung von Kritik in die Gedichtform stellt einen Bruch damit dar.
Irgendwie habe ich das Gefühl, daß dies vielfach im allgemeinen Bewußtsein noch nicht angekommen ist - wenn ich mich so in meiner Umgebung umsehe, wird das Gedicht noch immer eher mit der romantischen Dichtung in Verbindung gebracht.
Oder täuscht das?

Wenn ich mir Maglors etymologischen Fund vor Augen führe...ist die Prosa nur ein Kind der Lyrik, stand die Form am Anfang?

Zitat von C.G.B.Spender::Ein wenig läßt sich mit Poesie auch persönliches in Mystik einsperren, von Rätsel umgeben. Das finde ich auch reizvoll, weil dies, trotz aller Übertreibung und dem Hang zum Psychedelischen, ein wenig die Tür zur Interpretation öffnet.

Hast Du etwas gegen Psychedelisches?
Interpretierbar ist alles, sogar die Tagesschau^^

Traitor
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Mo 26. Dez 2005, 16:55 - Beitrag #15

Großenteils möchte ich es mit Lykurg halten:
Ich möchte die Autorabsicht als weiteres (mein einziges?) Kriterium einführen. Was mit dem Anspruch geschrieben wurde, ein Gedicht zu sein, ist eines.

Auf ein sehr entscheidendes wertendes Kriterium möchte ich aber nicht verzichten: die Lyrik ist eine Untergattung der Literatur, und somit muss alles, was sich Gedicht schimpfen will, zuallererst zumindest der elementarsten Kriterien nach Literatur sein. Dabei geht es mir nicht um Qualität und Aussage ("Literatur" im Gegensatz zu Trivialschrieb), sondern um die rein technische Bedingung, dass Literatur geschriebenes Wort ist. Feuerkopfs Bogen-Strich-Akkumulation mag abstrakte Kunst oder primitive Notenschrift sein, Literatur ist es nicht, und damit auch kein Gedicht. Auch manch Werk, das zwar aus Wörtern einer Sprache besteht, seine Wirkung aber allein daraus bezieht und beziehen will, dass diese in Spiralform oder derartigem angeordnet sind, ist ein bildliches Kunstwerk, kein literarisches, und damit kann es kein Gedicht sein. Was nicht heißt, dass echte Gedichte nicht auch bildlich gestaltet sein können. Aber das, was sie zum Gedicht und zum künstlerischen Werk macht, muss der Text selbst sein. Die Qualität eines Werkes muss sozusagen eine Formatierungs- und Präsentationsinvariante sein, auf dieses Formel lässt sich das Kriterium kondensieren.

Wenn ich einerseits so ein handfestes Kriterium anlege, warum belasse ich es dann innerhalb der als literarisch erkannten Werke Lykurgs unkritischem Kriterium, was davon ein Gedicht ist? Weil die exakte Abgrenzung der drei klassischen Literaturgattungen zueinander ein Ding der Unmöglichkeit ist, wie auch dieser Thread zeigt. Bei 90% aller Werke werden sich 90% aller Menschen einig sein, ob es ein Drama, ein Epos oder ein Gedicht ist. Aber die Grenzfälle sind so relevant, dass sie das System zerstören. Ich werde auch selbst durchaus Urteile fällen, was ich für ein Gedicht halte und was nicht, doch diese sind stets nur auf einem Mischmasch aus komplexen Regeln, Erfahrungen und Präferenzen begründet, sodass sie keine normative Kraft beanspruchen können. Will man wirklich klar katalogisieren, kann man sich also nur auf die Packungsbeilage verlassen.

Lykurg
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Mo 26. Dez 2005, 17:16 - Beitrag #16

bestätigend zu Maglor: In älterer Sprache findet sich gelegentlich auch die Bezeichnung "Dichter" für einen Autor von Prosatexten.

janw, offenbar hat Dichtung ihre soziale Funktion zwischen Hochmittelalter und früher Industrialisierung weitestgehend eingebüßt; möglicherweise besteht dort ein Zusammenhang mit der veränderten (=stärkeren) Position des Geistlichen in der Zwischenzeit.

Zitat von janw: Interpretierbar ist alles, sogar die Tagesschau^^
Beifall. Infolgedessen auch Protest zu
Zitat von C.G.B. Spender:Minimalismus liegt damit wohl näher an der Literatur, wenn man unter Literatur die Möglichkeit der Interpretation versteht.
Hier fliegen einige Begriffe durcheinander. Gerade die gedrängt-verdichtet-verknappt-andeutende Form eines Gedichts erzwingt das interpretierende Lesen.
Der Literaturbegriff ist ja seinerseits strittig (für mich: das geschriebene Wort), aber kaum eine Literaturdefinition wird Lyrik ausschließen. Das geeignete Gegensatzpaar wäre Lyrik-Prosa. Minimalismus ist seinerseits ein Schreibstil (ein Attribut), der (das) unabhängig davon verwendet (gesetzt) werden kann, ob gebundene oder ungebundene Rede verwendet wird. - Die Gattungstrias Epik-Lyrik-Dramatik wirft ihre ganz eigenen Probleme auf, ist aber, wenn entsprechend dehnbar gesehen, im Allgemeinen ganz brauchbar.

PS: Ja, Traitor, danke für deine ordnenden Worte, die ich leider jetzt erst sehe. Ich stimme dir größtenteils zu. Allerdings akzeptiere ich auch Lautgedichte (Buchstabenbilder), und finde den Schritt zu Feuerkopfs Beispiel dann auch noch nachvollziehbar. Literatur ist geschriebenes Wort, aber verstehe ich auch dann auch bewußt nichtgeschriebenes Wort als literarisches Umfeld.

janw
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Mo 26. Dez 2005, 18:54 - Beitrag #17

Zitat von Traitor:Dabei geht es mir nicht um Qualität und Aussage ("Literatur" im Gegensatz zu Trivialschrieb), sondern um die rein technische Bedingung, dass Literatur geschriebenes Wort ist.

Zitat von Lykurg:Literatur ist geschriebenes Wort, aber verstehe ich auch dann auch bewußt nichtgeschriebenes Wort als literarisches Umfeld.

Nun, vielleicht haben wir es in der Tat mit einer weitren, fast vergessnen Gattung der Literatur zu tun, wenn wir uns echter Bildersprache nähern...
Die Kirchenfenster des Mittelalters gelten heute uns als Kunst, als Zweig der Malerei.
Doch waren sie damals nichts als Wort, verkündet denen, die nicht lesen konnten.
Insofern würde ich erweitern: Literatur ist codierte Information mit dem Zweck der Informationsvermittlung.
Natürlich stößt auch diese Definition wieder an Grenzen - worin liegt der Informationsgehalt in Feuerkopfs Zeichenabfolge?
Nun, Information ist alles, was Assoziationen auslöst, könnte man sagen...

Die Grenze zwischen Literatur und Bilderkunst, sie wäre, ach, dahin.

Traitor
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Mo 26. Dez 2005, 19:04 - Beitrag #18

@Jan:
Die Grenze zwischen Literatur und Bilderkunst, sie wäre, ach, dahin.

Viel schlimmer: die Grenze zwischen Literatur und Busfahrplänen wäre dahin. Nein, diese Definition taugt nun wirklich nichts ;)

@Lykurg: Mit der Kategorisierung "literarisches Umfeld" für wortlose Werke in literarischen Formen oder wortreiche Werke in fremden Formen könnte ich mich anfreunden.

janw
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Mo 26. Dez 2005, 19:17 - Beitrag #19

Traitor, nun, ich meinte es im Sinne einer technischen Bedingung, wie Du sie verwendet hast, eben ohne Berücksichtigung der Qualitätsfrage ;)

Im übrigen verharre ich immer wieder in Ehrfurcht vor der schlichten Sprache der Fahrplangestalter: "Werktags außer (6)" Was wollen uns diese Worte sagen...*g*

C.G.B. Spender
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Mo 26. Dez 2005, 21:05 - Beitrag #20

Hier fliegen einige Begriffe durcheinander. Gerade die gedrängt-verdichtet-verknappt-andeutende Form eines Gedichts erzwingt das interpretierende Lesen.
Genau das habe ich gesagt.

Durcheinanderfliegen tut hier IMO garnichts. Ich habe lediglich meine eigenen Vorstellungen dargestellt. Übrigens sind auch Begriffe interpretierbar, da sie eindeutig die Verdichtung einer Erklärung darstellen. :D

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