Gegenwärtige Literaturepoche?

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Hirndach
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Fr 11. Aug 2006, 23:57 - Beitrag #1

Gegenwärtige Literaturepoche?

Ich weiß, es sind Sommerferien, aber seit wir vor langen Monaten im Deutschunterricht ein Referat über dieses Thema halten mussten, geht mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf.

Bis heute haben es die Literaturwissenschaftler geschafft, alle vergangenen Jahrhunderte in "Epochen" einzuteilen. Eine Literaturepoche hat charakteristische Merkmale, stellvertretende Autoren und herausragend wichtige Werke. Es gibt die Romantik, die Empfindsamkeit (ich wollte gerade 'die Epilepsie' schreiben), den Sturm und Drang, und so weiter, und so fort.

Das wirft doch die Frage auf: Wie wird man wohl in der Zukunft die Literaturepoche nennen, in der wir uns im Moment befinden? (Oder hat schon irgendjemand die benannt, und ich hab's bloß nicht mitgekriegt? Sind wir die Moderne oder war die schon? :0) Haben die Schreiber der heutigen Zeit überhaupt irgendwelche gemeinsamen Merkmale? Braucht man so was?
In unserer Gruppenarbeit haben wir über sowas lange diskutiert und haben uns ab einem Punkt immer nur im Kreis gedreht. Heutzutage gibt es unendlich viele Kategorien von Büchern; die Unterhaltungsliteratur wird ganz groß geschrieben. Oft geht es um die Einzelschicksale der Menschen, obwohl es auf der anderen Seite ja auch genug Autoren gibt, die die Missstände der Gesellschaft usw. kritisieren. Trotzdem kann heutzutage jeder schreiben, was und wie er will. Tabus gibt's im Gegensatz zu früheren Epochen kaum welche.

Tja, und was denkt ihr darüber?

janw
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Sa 12. Aug 2006, 00:56 - Beitrag #2

Die Moderne war schon...so in den 20ern des 20. Jahrhunderts. Was nach dem 2. Weltkrieg entstanden ist, wird teilweise - wie sinnreich^^ - "Nachkriegsliteratur" genannt, iirc zählt Borcherts "Draußen vor der Tür" dazu. Daran schließt sich mW die Postmoderne an, und zählen nicht die Jungen Wilden und die Neue Sachlichkeit auch in diese Zeit?

Was heute passiert, dafür scheint der Kunstbetrieb selbst nach Namen zu suchen, Spät-Postmoderne, Post-Postmoderne sind da benutzte Wort-Krücken.

Insgesamt ist die Entwicklung durch Auflösung formaler Beschränkungen und die Verschmelzung von Merkmalen unterschiedlicher Stilepochen gekennzeichnet, sowie teilweise durch die Zunahme multimedialer Aspekte, wenn dies auch sicher eher die bildenden Künste betrifft.

"Anything goes", würde der Laie sagen...

Lykurg
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Sa 12. Aug 2006, 10:42 - Beitrag #3

Hinsichtlich der benutzten, umstrittenen und noch in der Formung begriffenen Wortkrücken hat janw Recht. Was von einer Zeit bleibt und damit als epochenprägend angesehen werden kann, entscheidet die Nachwelt; insofern kann es kaum anders sein. Da werden ursprünglich als Schimpfnamen gedachte Bezeichnungen zum Charakteristikum umgedeutet (Barock, Biedermeier, Impressionismus), oder nachträglich Begriffe aufgepfropft, die man in der Zeit selbst weniger kannte (Sturm und Drang), oder aber selbstgegebene Bezeichnungen (Junges Deutschland) durch den Nachruhm der Autoren zum Kennzeichen einer Zeit.

Allerdings kenne ich die "Jungen Wilden" nur für die Malerei der 70er und 80er (wobei mir die literarische Verwendung entgangen sein mag, möglicherweise kommt sie auch noch in Gebrauch) - und die "Neue Sachlichkeit" gehört bereits in die 20er Jahre.

Ein paar Ansätze zu einer Strukturierung der Nachkriegsliteratur wären (teilweise mein eigener Senf, manches 'irgendwo' aufgeschnappt; die Auswahl der Autoren und Werke, die der Untermauerung 'meiner' Abschnitte dienen, sind selbstverständlich willkürlich und diskussionsbedürftig):

***

- Trümmerliteratur (1945-49)
Stimmungsbilder und Ansätze zur Verarbeitung der Kriegs- und Exilerfahrungen sowie teilweise der NS-Verbrechen (Borchert: Draußen vor der Tür; Seghers: Das siebte Kreuz, Mann: Doktor Faustus, Zuckmayer: Des Teufels General, Celan: Todesfuge)

- Wiederaufbau und Restauration in BRD und Österreich (1949-1963)
(neue lit. Gattung: Hörspiel; Eich, Jens, Böll, Hildesheimer, Bachmann u.a.; Romane und Erzählungen von Grass, Böll, Andersch u.a. - geprägt auch durch die Beschlüsse der "Gruppe 47")

- Neubeginn in der DDR
gesteuerte Literatur für die "Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft", Agitprop. 1959-1973 "Bitterfelder Weg": Arbeiterthemen sollen Überwindung der Klassenunterschiede bewirken - Seghers, Wolf: "Der geteilte Himmel", Müller, Becher)

- unabhängige Entwicklung in der Schweiz: Paradoxismen, fragiles Ich?
Frisch: Biedermann und die Brandstifter ("Lehrstück ohne Lehre"), Dürrenmatt: Die Physiker; Frisch: Stiller; 1970-2002 "Gruppe Olten" (Schreiben für den demokratischen Sozialismus)

***

- "Zwischen Utopie und Wirklichkeit" (1963-74)
Protestbewegungen NS-Aufarbeitung, Vietnamkrieg, APO - Frankfurter Schule gegen Existentialismus. gesellschaftskritische (bzw. sprachkritische) Lyrik: Grass, Enzensberger, Jandl; politische Dramen: Hochhuth, Kipphardt, (Handke)

- "Neue Innerlichkeit" (ziemlich umstritten) / Tendenzwende (~1975)
Bernhard: "Die Korrektur", Born, Brinkmann, Weiss: "Die Ästhetik des Widerstands", Wolf: "Kassandra", Walser "Seelenarbeit", Widmer

- 'Postmoderne' / Ermüdung, "Mittelmaß und Wahn" (als Themen^^) (1980er)
Wettrüsten, Umweltzerstörung, Endzeitvisionen, Depression, Weltuntergangsstimmung
Bernhard: Auslöschung, Grass: Die Rättin, Süskind: Das Parfüm

- 1989 und die Folgen
Wolf: "Was bleibt", Hilbig: "Ich" vs. Grass: "Ein weites Feld"

- Niedergang der Ideologien ?
Strauss: "Anschwellender Bocksgesang"; Kempowski: Echolot, Gernhardt: Kippfigur; kurzes Aufflackern der "Popliteratur" (Stuckrad-Barre u.a.)

- West-östliche Welle ?
Migrantenliteratur (und -schicksale), Entwurzelung der Europäer, 9/11-Verarbeitung
[In diesen Bereichen nenne ich lieber noch keine Titel, da muß noch Zeit ins Land gehen.]

janw
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Sa 12. Aug 2006, 10:57 - Beitrag #4

Borchert, zählt der zu Trümmerliteratur, oder zu Wiederaufbau und Restauration?

Eine sehr detaillierte Darstellung, Lykurg :)
Mir fällt auf, daß die Bezeichnungen überwiegend recht luzide sind, sie lassen erkennen, was gemeint ist - bis auf die Popliteratur. Muss man Stuckrad-Barre lesen, um zu wissen, worum es sich handelt?

Lykurg
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Sa 12. Aug 2006, 11:28 - Beitrag #5

Borchert starb schon 1947; in "Draußen vor der Tür", "Das Holz für Morgen", "Das Brot" u.a. geht es noch direkt um das tägliche Überleben und den Alltag des Kriegsheimkehrers. Insofern gehört er eindeutig zur Trümmerliteratur, ist ihr wichtigster Vertreter. (Ich ließ ihn ursprünglich weg, weil du ihn schon genannt und richtig zugewiesen hattest - füge ihn jetzt aber ein).

Man muß Stuckrad-Barre nicht lesen. - Und Popliteratur? Weiß sie das selbst? Naja, bei S-B ist es Society-Quark, er schreibt glossenhafte Satiren über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Dabei läßt er gelegentlich raushängen, daß er mal als Witzeschreiber der Harald-Schmidt-Show gearbeitet hat. Der Wiki-Artikel "Popliteratur" ist sehr schön bissig -
junge Schriftsteller, deren Hauptthema vor allem sie selbst und ihre kleinen Sorgen mitten im Luxus sind.
Deutlich gehaltvoller, wenn auch ebenfalls mit einer Tendenz zur Egomanie, ist etwa Florian Illies.

Windsbraut
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Sa 12. Aug 2006, 12:14 - Beitrag #6

Zitat von Lykurg:Man muß Stuckrad-Barre nicht lesen.


Diesen Satz möchte ich unterschreiben.

Feuerkopf
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Sa 12. Aug 2006, 14:52 - Beitrag #7

Lykurg,
typisch ist allerdings in deiner Aufzählung die Beschränkung auf die sogenannte E-Literatur.
Inzwischen hat aber die vormals belächelte Belletristik den größten Teil des Buchmarktes abgedeckt. Ein Grass kann von den Verkaufszahlen eines Johannes Mario Simmel nur träumen. Ich habe bewusst Konsalik nicht genannt, weil mir der zu industriell und versatzstückhaft geschrieben hat, wenn auch höchst erfolgreich.

Ich denke, ab Anfang der 60er-Jahre kann man die Literatur ruhigen Gewissens der Popkultur zurechnen, denn es entstand ein Massenmarkt.
(Könnte das was mit dem Offsetdruck zu tun haben?)

Eines kennzeichnet den heutigen Literaturbetrieb auf jeden Fall:
Literatur ist kein Privileg der Eliten mehr, sie ist immer und überall verfügbar und für die meisten erschwinglich, denn es gibt öffentliche Büchereien und zudem Buchflohmärkte.

Lykurg
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Sa 12. Aug 2006, 15:30 - Beitrag #8

Feuerkopf, die Diskrepanz zwischen Verkaufszahlen und literaturgeschichtlicher Bedeutung (insbesondere für die Epochengliederung) ist keine Besonderheit des 20. Jhs. Der mW seinerzeit meistgelesene Autor des 19. Jhs. etwa war Friedrich Spielhagen, dessen Romane ungefähr auf denselben Erfolgsmodellen basierten wie die seiner modernen Nachfolger auf den Bestsellerlisten. Nur verschwinden diese Autoren irgendwann in der Versenkung, weil ihre Szenerien veralten und für diejenigen Leser, denen es nur um die Story geht, damit nicht mehr interessant sind, anderen dagegen zuwenig Reize bieten. Sie werden daher gewissermaßen regelmäßig wiedergeschrieben. Insofern sehe ich aber nicht, was Konsalik oder Simmel der Literatur jenseits des Marktes an Neuem gegeben hätten.

Dein zweiter Absatz hängt vom verwendeten Literaturbegriff ab. Wenn du sagst "Literatur ist das, was die meisten Menschen lesen", mag das stimmen - allerdings sind da dann die Zeitungen an erster Stelle. ;) Daß Lesen sich in den 60ern stark ausgebreitet hat, hing auch mit der zunehmenden Freizeit durch den wirtschaftlichen Aufschwung zusammen - dem wurde aber bald durch das Fernsehen entgegengesteuert...

Aber auch im frühen 20. Jh. lasen große Teile der damaligen Unterschichten Groschenromane. Heute trägt, ganz böse gesagt, das Fernsehen damit, daß es Idole zeugt, denen BLÖD eigentlich zu kompliziert ist, erheblich dazu bei, daß heute Bücher als lesenswert gelten, die dem "spießigen" Bildungsbürger der 50er viel zu trivial gewesen wären.

PS: Noch was zu lesen^^

Traitor
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So 13. Aug 2006, 23:26 - Beitrag #9

Gab es zum Teilaspekt der Sinnhaftigkeit der Verwendung des Begriffes der Moderne (und da sage einer, der Genitiv sei tot) nicht schoneinmal eine Diskussion, die ich jetzt gerade nicht finde? Oder bilde ich mir das nur ein, da ich sie im RL schon so oft geführt habe?

Ich denke, die Kernfrage ist nicht, wie die derzeitige Literaturepoche heißt, sondern, welchen Sinn der Begriff einer Literaturepoche überhaupt macht. Sicherlich ist die heutige Zeit ein besonders schwieriges Untersuchungsfeld, aber auch in der Vergangenheit war es doch so, dass die Epochen sich überschneiden oder in einer klar definierten Epoche mindestens genausoviel Literatur entstand, die dem Nominatstil nicht entsprach. Deshalb hielte ich es für sinnvoller, von Stilrichtungen statt von Epochen zu reden, die dann zwar natürlich Blütezeiten haben, aber die direkte Beziehung zu Zeitabschnitten ist meines Erachtens einfach zu uneindeutig in beide Richtungen.

Auch denke ich, dass die Unterteilung in Hohe Literatur und Belletristik kaum zu halten ist. Selbst große literarische Helden wie Schiller oder Lessing haben Zeugs geschrieben, das heutzutage bestenfalls als Groschenroman durchgehen würde; manch Science-Fiction-Werk, über das zu seiner Zeit von Literaten nur die Nase gerümpft wurde (und über das "Literaten" auch heute noch oft die Nase rümpfen) müsste bei vorurteilsfreier Betrachtung als einflussreiches literarisches Werk anerkannt werden; und warum genau "Der Richter und sein Henker" Literatur ist, der neue Eifel-Krimi aber nicht, ist schwer objektivierbar. Stilrichtungen bringen stets (meist) Werke in allen Bereichen des Qualitätsspektrums hervor.


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