Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Feuerkopf
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Sa 31. Mai 2014, 10:48 - Beitrag #701

Kurze Frage zwischendurch:
Hat eine/r von euch mal was von Jürgen Becker, dem diesjährigen Büchner-Preisträger gelesen? Ich gestehe, ich kannte nicht mal seinen Namen.

Lykurg
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Sa 31. Mai 2014, 11:35 - Beitrag #702

Stimmt, ich vermutete auch, daß du das so meinst, blobbfish, wollte aber sichergehen. Du hast völlig recht, die napoleonische Zensur, mit der ich mich ja auch beschäftige, war natürlich deutlich antinationalistisch und wohl auch schärfer als das meiste zuvor (wohingegen dann in der späten Kaiserzeit die Schrauben wieder weiter angezogen wurden). Die finde ich als Besatzungszeit aber auch nicht gleichwertig; auch im Zeitraum 1945-49 wurde von den Besatzungsbehörden teils auch recht streng zensiert.

Nein, Feuerkopf, habe ich nicht und kannte ihn zuvor auch nicht.

janw
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Sa 31. Mai 2014, 11:52 - Beitrag #703

Ich kannte bisher nur den gleichnamigen Kabarettisten.
Aber manchmal sind Preise ja gute Aufwecker, durch die das finale Entsetzen vermieden werden kann, ein Werk nicht zu Lebzeiten des Schöpfers gekannt zu haben.

"Die Erinnerung gibt es nicht, man muss sie herstellen." In meinen Augen ein sehr interessanter Denkansatz.

Mal wieder zu viel gleichzeitig tun wollen.

Traitor
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Mo 16. Jun 2014, 22:40 - Beitrag #704

Walter M. Miller - A Canticle for Leibowitz
Großartige Postapokalypse über einen Orden von Kopisten-Mönchen und den Effekt, den nach Jahrhunderten die erste Entdeckung neuer Reliquien ihres verehrten (aber erst selig, noch nicht heilig, gesprochenen) Gründervaters hat. Nicht nur für SF-Freunde zu empfehlen, sondern auch für die der Bewahrung des geschriebenen Wortes.

Lykurg
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Di 17. Jun 2014, 12:18 - Beitrag #705

Lafontaines Flaming-Roman inzwischen beendet, er gewinnt zum Ende noch einmal gehörig an Fahrt, als die Zeitumstände hineinspielen, und schließt quasi in einer Apotheose bürgerlicher Lebensweise. Spannend, wie der Baron über seinen Schatten springt, ohne dessen gewahr zu werden, aber auch, wie brüchig sein geistiger Wandel bleibt. Ein wirklich gutes vergessenes Buch, dem man – nach ein paar deutlichen Kürzungen zugegebenermaßen – unbedingt mehr Leser wünschen würde.

Zwischendurch, in Ermangelung einer passenden Kirchhofmauer bei Gewitterguß in einem genialischen Café gelesen:

Georg Büchner: Leonce und Lena
Bösartigst-wunderschöne Nichtliebesgeschichte zweier Melancholiker, voller Spitzen gegen Adelskultur und zeitgenössische Erziehungskonzepte. Ein Steinbruch auch für passende Zitate, zum Beispiel der (folgerichtig hergeleitete) Ausspruch „Wer arbeitet, ist ein Schuft“.

Georg Büchner: Woyzeck
Ein Text, der sich immer wieder lesen läßt und immer neu erscheint (nicht zuletzt auch wegen divergierender Ausgaben aufgrund der unterschiedlichen Manuskriptfassungen). Harter Stoff, aus der Zeit gefallen und frisch geblieben wie nur weniges.

zZt
Tom Clancy: The Hunt for Red October
Begegnung mit der Romangrundlage eines meiner Lieblingsfilme; naturgemäß aufschlußreich wegen der größeren Tiefe, die die Figuren gewinnen, außerdem einige Abweichungen zwischen Buch und Film, die bisher allerdings meines Erachtens der andersartigen Kunstform Film geschuldet und geschickt gemacht sind. Man könnte höchstens konstatieren, daß die vielen Ideen und das Wissen der Hauptfigur im Film sich im Buch zu Recht auf mehrere Figuren verteilen, die im Film kaum eine Rolle spielen, also übermäßige Heroisierung im Film.

Den Leibowitz habe ich mir soeben bestellt. ;)

Maglor
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Di 17. Jun 2014, 22:14 - Beitrag #706

Jurek Becker: Jakob der Lügner

Ich bin fast fertig.
Besonders interessant ist die Erzählperspektive und die realistische Sprache, wenn sie auch manchmal nicht ganz flüssig ist. Gerade die Sache mit dem Erzähler macht die Geschichte durchweg spannend.
Ansonsten habe ich schon traurige Bücher gelesen. Eine plastische Schilderung der Gewalt des Holocausts bleibt weitgehend aus, aber so etwas muss ja auch nicht sein. Die Leute verschwinden einfach aus dem Ghetto.
Ansonsten ist es die Geschichte über einfache Juden aus Warschau, eben nicht die jene gewohnte Karikatur des jüdischen Intellektuellen oder Kommunisten, die üblicherweise gepflegt wird.

blobbfish
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Fr 20. Jun 2014, 23:34 - Beitrag #707

Du hättest, Ihro Gnaden Don Lykurgo, auch den Streifzug in Johann Kaspar Riesbecks Briefe einen reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder in Paris erwähnen können.

Aktiv lese ich das Buch nicht, ich habe zwar prinzipiell angefangen vorne zu lesen, finde aber auch gefallen per Register in Deutschland herumzuspringen. Mir gefällt das Buch ja sehr gut (er schreibt z.T. schöne Dinge über das heutige Hessen und wahre Dinge über fremde Städte in der deutschen Ferne). Für die meisten hier, die ein wenig Patritismus pflegen, ist das Buch aber ungeeignet.

Der erste Anblick des Innern der Reichs- und Hansestadt Hamburg ist sehr ekelhaft und abschreckend. Die meisten Straßen sind eng, dumpfigt und schwarz, und das gemeine Volk, welches sie durchwühlt, ist grob, wild und im Ganzen auch nicht sehr reinlich. Dobald man aber in einigen der bessern Häuser bekannt ist, bekommt man einen vorteilhaftern Begriff von der Stadt. In den Häusern der reichen Kaufleute herrscht Gemächlichkeit, Reinlichkeit, Pracht und zum Teil auch Verschwendung.


Von außen bietet die ungeheure Stadt Köln mit einem Wald von Mastbäumen und den unzähligen Kirchtürmen einen prächtigen Anblick dar. Allein, alle Pracht verschwindet, sobald man einen Fuß unter das Tor gesetzt hat. [...] Köln, Bruder, ist in jedem Betracht die abscheulichste Stadt von Deutschland. In ihrem weiten Umfang von drei Stunden findet man nicht ein sehenswürdiges Gebäude. Die meisten Häuser drohen den Einsturz. [...] In vielen Straßen liegt daher zu beiden Seiten der Mist vor den Häusern. [...] Einen Dritteil der Einwohner machen priviligierte Bettler aus. [...] Überhaupt ist Köln noch wenigstens um ein Jahrhundert hinter dem ganzen übrigen Deutschland zurück, Bayern selbst nicht ausgenommen. Bigotterie, Unsittlichkeit, Trägheit, Grobheit, sprache, Kleidung, Meublen, kurz alles zeichnet sie so stark von ihren übrigen Landsleute aus, daß man sie mitten in ihrem Vaterlande für eine fremde Kolonie halten muß.


Die Gegend zwischen Koblenz und Köln ist sehr schön und erstaunlich stark bewohnt. Eine schöne Stadt liegt an der anderen. [...] Bonn, die Residenzstadt des Kurfürsten von Köln, ist die größte und schönste Stadt zwischen Koblenz und Köln.


Stuttgart [...]. Die Stadt ist wohl gebaut, und wird von einem schönen und starken Schlag Leute bewohnt. Das Frauenzimmer ist groß, schlank und rund. [...] Der Reichtum des Erdreiches und die Leichtigkeit, bei Hofe oder vom Lande Unterhaltung zu finden, sind Ursache, dass man hier sehr wohl lebt. Was man bei uns für 12 Personen aussetzt, reicht hier kaum für 6 hin. Dem Stuttgarter ist es daher zu Hause so wohl, daß er in einer Entfernung von 6.8 Meilen das Heimweh bekommt.


Alles Land, lieber Bruder, was von hier [Hannover, Anm. Mlf] gegen Norden und Nordwesten liegt, und von der Ems, und der Elbe begrenzt wird, ist teils purer Sand, teils echtes Froschland, Schlamm und Morast. [...] Hier, lieber Bruder, empfindet man erst, was Bergländer sind! In diesem ganzen Strich von Hamburg bis nach Emden, und da durch Westfalen bis hierher sah ich keinen einzigen Berg, keine einzige lachende Landschaft, keine schattigen Hügel, kein schönes Gehölze, kurz nichts von alledem, was einer Aussicht Leben geben kann.


Bremen ist eine ziemlich reiche Stadt von ungefähr 25 000 Seelen. [...] So finster und steif auch die Einwohner im Ganzen sind, so findet man doch unter dem bessern Teil derselben ganz artige Gesellschaften.


Hannover ist in jedem Betracht eine sehr schöne Stadt, von ungefähr 20 000 Einwohnern. [...] Die Gegend um die Stadt ist wenigstens nicht so traurig, als die tiefern Gegenden an der Weser, und das Land fängt hier an, sich etwas zu erheben.


Kassel ist eine sehr schöne und zum Teil prächtige Stadt von ungefähr 32 000 Einwohnern. [...] Das hessische Landvolk, lieber Bruder, ist Ganzen genommen bis zum Ekel häßlich. Die Weibsleute sind die eckigsten Karikaturen, die ich noch gesehen habe. Ihre Kleidung ist abscheulich. [...] Erdäpfel und Branntwein, den man den Kindern gibt, sind ihre vorzüglichsten Nahrungsmittel.

blobbfish
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Sa 28. Jun 2014, 17:37 - Beitrag #708

Geoerg Büchner: Danton's Tod.
Der Einstieg ist witzig düster, eine liebreizende Hochsprache mit viel Spielerei und Tiefe, relativ zügiger Übergang zu weniger schöner Sprache, dafür deutlich tiefgehender Inhalt. Das Beste am Werk: Liebhaber der Guillotine kommen voll auf ihre Kosten, sie findet Eingang in zahlreiche Wortspiele, das makaberste ist wohl die "Guillotinenromantik".

Maglor
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So 29. Jun 2014, 18:23 - Beitrag #709

Khaled Hosseini: Drachenläufer

Eine fesselende Geschichte, im Afghanistan der Nicht-mehr-Gegenwart spielt. Besonders beeindruckt hat mich an der Erzählung ihre schicksalhafte Entwicklung. Vergangenheit und Gegenwart des Ich-Erzählers stehen in einem spiegelbildlichen Verhältnis zu einander. Der Lauf der Geschichte ist dadurch zwar teilweise vorsehbar, aber im Grunde ist das auch ein Reiz des Buches.

blobbfish
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Mo 7. Jul 2014, 20:27 - Beitrag #710

Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray.

Der zweite englische Fehlgriff nach "A Room with a View", wenngleich thematisch anders orientiert. Wilde macht auch keinen Hehl daraus, dass er offenbar jede Menge Probleme in seinem Leben hatte. Dorian Gray darf wohl als Sinnbild für die Empfängnis der Bösartigkeit des Menschen dienen und Henry ist einfach nur der, der das Gift einflößt. Ansonsten eher ein Lobgesang auf Individualismus und Priorisierung des eigenen Lustgefühls, hin und wieder ein paar kleinere Zweifelchen. Wildes Sichtweisen, verdeutlicht entweder durch allgemeine Bemerkungen oder Monologe seiner Charaktere, kommen sehr absolutistisch und unfundiert daher, meinen aber mit Diskursen und Erkenntnissen in Bezug auf leben und das Leben aufräumen zu müssen, zugegeben, aus heutiger Sicht können jede Menge Diskurse und Umgangsformen, insbesondere aus England, als veraltet gelten. Eine Modernisierung was Erkenntnis etc. pp. angeht, kam erst später und war kontinental. Immerhin kann ich mich teils prächtig über seine Gedanken amüsieren.

Zitat von Donna Traitoria, anno 2005:Der Dorian Gray ist... faszinierend. Im Endeffekt eine einzige gigantische Phrasendrescherei, aber bei allem Kitsch und aller Handlungslosigkeit doch bemerkenswert gut geschrieben. Insgesamt aber wohl eher als Wortkunstwerk denn als literarisches Werk zu betrachten.

Ich habe bisher keinen Kitsch gefunden und wirklich gut geschrieben finde ich es auch nicht. Es ist geschrieben, aber verzücken tut es jedenfalls nicht. Ich habe das Gefühl, er versucht seine Charaktere hin und wieder schillern zu lassen, aber es gelingt ihm nicht so recht (und am Ende verdirbt er's sowieso).

Zitat von Donna Traitoria, anno 2005:Inzwischen ist der Dorian Gray seit zwei Wochen fertig. In der zweiten Hälfte ist auch noch eine stärkere Handlung und eine etwas herauskristallisierte Aussage, wenn diese auch extrem ambivalent bleibt, hervorgetreten, sodass das Buch nicht nur noch aus wunderschöner Sprache und genialen Phrasen besteht, sondern insgesamt wirklich genial ist, wenn auch zutiefst befremdlich.

Werde ich mir vormerken, vermute aber, dass ich auch diese Ansicht nicht teilen werde.

Maglor
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Mi 30. Jul 2014, 20:55 - Beitrag #711

Skandalös: Ich lese derzeit so ein ähnliches Buch. Es heißt allerdings "Das Bildnis des Dorian Gray". ;)
Auf fast jeder Seite findet sich ein guter Aphorismus. Wahrscheinlich nannte der Verräter so etwas mit Phrasendrescherei.

Traitor
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Do 7. Aug 2014, 09:33 - Beitrag #712

Zitat von Maglor:Auf fast jeder Seite findet sich ein guter Aphorismus. Wahrscheinlich nannte der Verräter so etwas mit Phrasendrescherei.
Korrekt.

Nachtrag zu Leibowitz: Das Buch besteht aus drei Teilen in großen zeitlichen Abständen. Die bereits gegebene Kurzrezension
Zitat von Traitor:Großartige Postapokalypse über einen Orden von Kopisten-Mönchen und den Effekt, den nach Jahrhunderten die erste Entdeckung neuer Reliquien ihres verehrten (aber erst selig, noch nicht heilig, gesprochenen) Gründervaters hat. Nicht nur für SF-Freunde zu empfehlen, sondern auch für die der Bewahrung des geschriebenen Wortes.

bezog sich erstmal nur auf den ersten davon, "Fiat Homo". Die beiden anderen ("Fiat Lux" und "Fiat Voluntas Tua") sind dann meines Erachtens deutlich weniger dicht und formvollendet. Aus Perspektive zweier Leibowitz-Äbte werden zentrale Episoden der Post-Post-Apokalypse, also der wiedererstehenden/-erstandenen Zivilisation, gezeigt. Da sind wirklich interessante Aspekte drin, und auch die historisierenden Rückbezüge auf den/die früheren Teil(e) sind schön gemacht. Aber doch bin ich mir nicht sicher, ob "Fiat Homo" als alleinstehende Novelle nicht noch stärker wäre.
Lykurg, hast du inzwischen eine Ausgabe erstanden, oder soll ich dir meine zukommen lassen?

Nach langer Freizeitlesepause dann jetzt: Graham Greene - Brighton Rock. Im Gegensatz zu Havanna dann auch auf Englisch.

Lykurg
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Do 7. Aug 2014, 15:24 - Beitrag #713

Ich habe inzwischen eine erstanden (beim zweiten Versuch auch wirklich den Roman), sie harrt aber noch der Lektüre.
Oje, jetzt hab ich angefangen, hier zu antworten, das schob ich eigentlich bislang auf wg. Unübersichtlichkeit...

Ja, die Briefe des reisenden Franzosen hätte ich erwähnen können, aber dann käme ich gar nicht mehr hinterher, Bücher, in denen ich nur ein paar oder ein paar Dutzend Seiten lese, unterlaufen mir dann doch öfters; hier dagegen nehme ich nur vollständige Lektüren auf (es sei denn, ein Buch selbst hindert mich daran, in der einen oder anderen Weise).

Zuletzt war unter anderem dabei:

Voltaire: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 2
So begeistert, wie ich von Candide war, hoffte ich, hier vielleicht wenn auch nichts auf derselben Ebene, so doch irgendwie vergleichbares zu finden, das war aber nur bedingt der Fall. Unterhaltsam, teilweise ziemlich bissig waren insbesondere "Das Naturkind", "Die Prinzessin von Babylon" und "Amabeds Briefe", jeweils kirchenkritisch, autoritätskritisch (insbesondere die Prinzessin von Babylon) und jeweils mit dem Prinzip der künstlichen Distanzbildung (in Form eines jeweils "wilden" Protagonisten) zur Offenlegung von Mißständen. Leider wirken die Texte oftmals unrund (ohne damit ironisch zu spielen wie in Candide), weitere wie zB der "Mann mit den vierzig Talern" lohnen sich einfach nicht. So gesehen eine halbwegs erwartete milde Enttäuschung.

Zuvor
Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor (UA 1921)
Klassiker des modernen Theaters, von der Idee her (eine Familie von Dramenfiguren mit jeweils einem bestimmten Affekt pro Person kommt während einer Probe auf die Bühne und spielt sich selbst) lustig, damals sogar skandalös, letztlich steckte mir aber zu wenig drin.

und
Kurt Vonnegut: Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug (1969)
Basierend auf Vonneguts eigenen Erfahrungen als amerikanischer Kriegsgefangener in Dresden während der Bombardierungen, erzählt der Text in sehr eindrucksvoller Weise die Geschichte eines Mannes, der offenkundig aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse im Krieg den Realitätssinn verliert. In einer Reihe von Zeitsprüngen wird auf mehreren Ebenen das Kriegsgeschehen und seine Nachkriegserlebnisse (unter anderem eine Entführung durch Aliens) ineinander verschränkt und miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielte der Text auch insofern, als Vonnegut damit die Bombardierung Dresdens in den USA überhaupt erst bekannt machte bzw. die bis dahin ausschließlich propagandistische Sicht (als 'Rüstungsstandort') verändern half.

Außerdem
Fabio Geda: Im Meer schwimmen Krokodile (2011)
(Wahre) Geschichte eines afghanischen Jungen, der über Iran, Türkei und Griechenland nach Italien flieht. Sehr intensiver und heftiger Bericht über die Zustände in Afghanistan und dem Iran, von Menschen, die töten, und Menschen, die helfen; zugleich als Innensicht eines Hazara mit entsprechendem Blick auf die Paschtunen in gewisser Weise eine Ergänzung zum Drachenläufer.

Aktuell Terry Pratchett: Snuff.

blobbfish
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Sa 9. Aug 2014, 20:22 - Beitrag #714

Zitat von Donna Maglora:Skandalös: Ich lese derzeit so ein ähnliches Buch. Es heißt allerdings "Das Bildnis des Dorian Gray". ;)
Auf fast jeder Seite findet sich ein guter Aphorismus. Wahrscheinlich nannte der Verräter so etwas mit Phrasendrescherei.


Jetzt tue mal nicht so, als sei das meine Schuld, dass ich eine englische Ausgabe gelesen habe. Sowas kann schließlich jedem mal passieren. Ändert aber eigentlich nichts, die Aphorismen scheine ich dann wohl entweder überlesen oder sofort abgelehnt zu haben, möglicherweise habe ich sie dabei zu sehr eingebettet.

Im späteren, im zweiten Teil verliert das Buch aber noch sehr viel mehr an Substanz und das Auslassen von jedweder Nebenhandlung oder Behandlung von der Zeit bis zum Neueinsetzen der Handlung lässt das Buch auch nicht sehr differenziert und recht substanzlos erscheinen.

Zuletzt:
Fitzgerald: The Great Gatsby

Alles ist toll und großartig und der Rest ist irgendwie egal und wenn nicht zahlt man mit seinem Leben? Zeitweise blitzen zwar wirklich wunderschöne Stellen und Konstruktionen auf, wirklich angenehm macht das das LEsen aber dennoch nicht.

Derzeit:
Thomas Hardy: Jude the Obscure (1894)
Sein letzter Roman, danach hat er wegen zu vielen negativen Kritiken das Romanschreiben an den Nagel gehangen. Beides erscheint mir sehr nachvollziehbar, wenngleich der Roman alles andere als schlecht ist - vielmehr ist mehrheitlich das Gegenteil der Fall, bloß ist der Inhalt ist im Prinzip durchgängig nicht mit der damaligen Zeit kompatibel. Hardy hat sich im Fall dieses Roman das Thema der Heirat herausgepickt und dieses und deren Übel auf seine Protagonisten losgelassen. Die Protagonisten sind allesamt sozial und materiell mittellos, keinesfalls aber dumm oder ungebildet, wenngleich sie Schwächen und Fehler haben. Das Scheitern schwingt seit spätestens Seite 11 wie von Damoklesschwert über den Protagnositen, ganz besonders aber der Hauptfigur Jude. Spannend ist das Buch trotzdem, aber auch sehr zermürmend*, vor allem dann, wenn Hardy seine Protagnisten mit Ankündigung ins Verderben rennen lässt. Absolut bemerkenswert dabei ist trotz der unheimlich scharfen Kritik an der Welt, die Hardy schreibt, der völlige Verzicht auf Ironie, Sarkasmus oder Zynismus.

* [spoiler]Heute saß ich etwa als Zaungast einer Hochzeit auf einer Sandsteinmauer und las, wie Judes Sohn aus erster Ehe zunächst seine beiden Halbgeschwister, einer ein Säugling und anschließend sich erhang und einige Tage später seine zweite "Frau" eine frühzeitige Totgeburt hatte (er war der Meinung, (die) Kinder seien eine unnötige Bürde).[/spoiler]

Antonie de Saint-Exupery: Le peitite prince (1946)
Lese ich zusammen mit einem Bekannten zwecks Vermerhung und Festigung von Französischkenntnissen.
Bislang sehr kurzweilig, dafür aber mit ständigen Selbstbezügen. Inzwischen habe ich allerdings schon eine Abneigung gegen sowohl den Ich-Erzähler als auch den Prinzen entwickelt, da sie beide, welch Überraschung, in einer sehr kleinen Welt leben und der Horizont nur dasjenige darstellt, was das Ding ist, was abgrenz, was andere wissen müssen.

Feuerkopf
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Sa 23. Aug 2014, 15:30 - Beitrag #715

Ich fresse mich gerade durch den siebten Band der deutschen Version von "Game of Thrones" und gestehe, ja, es ist sauspannend.

Traitor
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Sa 23. Aug 2014, 17:16 - Beitrag #716

"Brighton Rock" ist dann auch mal ausgelesen. Einerseits sind die Konstruktion der nach dem anfänglichen Mord quasi automatisch ablaufenden Geschichte, die morbide Brighton-Atmosphäre, die Verwendung der Kleinstkriminellen als große Archetypen und viele kleine Szenen meisterlich. Andererseits nerven die Figuren mit ihren winzigen Horizonten und von Anfang an unüberwindbaren fixen Ideen auch sehr schnell.

Als nächstes vermutlich Vance, Kempowski - oder endlich mal die Zwielicht-Wächter, damit der Trilogie-Totschläger weg kann.

blobbfish
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Di 26. Aug 2014, 20:11 - Beitrag #717

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen
Nette Tragödie, könnte aber fatalistischer sein, jedenfalls ist sie deutlich zu kurz.

George Elliot: The Mill on the Floss
Überaus arrogant und selbstgefällig geschrieben, daher nicht sehr angenehm zu lesen.

Feuerkopf
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Di 26. Aug 2014, 21:37 - Beitrag #718

Update. Bin im achten Band "Das Lied von Eis und Feuer" (GoT). Ein Warnhinweis für potenzielle Leser: Hängt euer Herz an keinen der Protagonisten, egal ob männlich oder weiblich. :shy:

Ipsissimus
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Mo 1. Sep 2014, 15:49 - Beitrag #719

Sabine Friedrich
Immerwahr

Deutscher Taschenbuchverlag, Januar 2014

Ein Roman, der die reale Lebensgeschichte von Clara Haber mit fiktiven Details anhand ihrer Tagebucheinträge anreichert, eine Biographie in semi-fiktivem Gewand mithin. Die Fiktivität wird zur Erzeugung einer emotionalen Nähe zu den Geschehnissen verwendet, die manche Leser unangemessen, andere faszinierend finden werden.

Clara Immerwahr, so ihr Mädchenname, war eine der ersten Frauen deutscher Nationalität, die zur Promotion zugelassen wurden und diese abschließen konnten; sie war insbesondere die erste deutsche Chemikerin, der dies gelang. In Breslau studierte sie Chemie, promovierte über die Lösungsfähigkeit von Metallen in wässrigen Lösungen - ihre Forschungsergebnisse erleben derzeit im Zuge der Diskussion um die Energieversorgung von Elektroautos eine Renaissance - und lernte ihren späteren Mann Fritz kennen.

Sie träumte davon, als Ehefrau und Mutter ihre Forschungstätigkeit fortzusetzen, wurde jedoch von Fritz - Zitat Tagebuch: ... einfach jede Natur, die [sich nicht rücksichtslos gegen ihn] durchsetzt, zugrunde geht! Und das ist mit mir der Fall … - in die Rolle der repräsentierenden, umsorgenden und allenfalls zuarbeitenden Professorengattin gedrängt. Als solche erlebten sie einige mäßig glückliche Jahre, bis Fritz nach den Arbeiten zur Ammoniaksynthese, die ihn weltberühmt machten und den Chemienobelpreis einbrachten, mit jenen Arbeiten begann, die seinen Namen für immer mit dem Stigma des Massenmörders verbinden sollten: die Erforschung der Möglichkeiten des Einsatzes von Chlorgas in der Kriegsführung und der praktischen Erprobung im Feld.

Sie fand dies unerträglich, stemmte sich mit aller Macht dagegen, riskierte und führte schließlich das Zerwürfnis mit Fritz herbei; alles vergeblich. Als letzter Protest und Fanal gegen die Tätigkeit ihres Mannes tötet sich Clara Haber am 2. Mai 1915 in ihrem gemeinsamen Haus in Berlin-Dahlem.

Zwei Tage später, ohne die Beerdigung abzuwarten, fährt Fritz auf den Balkan, um an der serbischen Front weitere Einsätze der Gaswaffe vorzubereiten und Experimente zu erweiterten Einsatzmöglichkeiten durchzuführen.

Ein paar Jahre später wird der deutsch-jüdische Chemiker und Chemienobelpreisträger Fritz Haber mit anderen zusammen die grundlegenden Arbeiten zur Entwicklung von Zyklon B durchführen.

Lykurg
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Do 4. Sep 2014, 22:07 - Beitrag #720

Das klingt nach einem wirklich faszinierenden Buch, Ipsissimus - und auf vielen Ebenen beklemmend.

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