MauriceAnalytiker
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Es folgt mein bisheriger Text zu dem Gedicht. Ich lasse dabei das englische Gedicht und die Einleitung weg, da beides für euch nicht interessant sein sollte. Es sei lediglich noch erwähnt, dass unter dem englischen Gedicht "Anonymous, Datalinks" steht. Nun aber mein bisheriger Text:
II. Hintergrundinformationen zu dem Gedicht
Das Gedicht stammt aus dem PC-Strategiespiel „Alpha Centauri“ aus dem Jahre 199X. In diesem übernimmt der Spieler die Leitung einer Interessensfraktion, die zusammen mit anderen teils wohlwollend und teils feindlich gesinnten Fraktionen einen von der Erde weit entfernten fremden Planeten besiedeln. Diese Fraktionen zeichnen sich durch individuelle Stärken und Schwächen aus und beginnen nach der Landung, um Macht und Einfluss auf dem neuen Planeten zu wetteifern. Dazu gehört, neue Siedlungen zu gründen und auszubauen, neue Technologien zu erforschen, untereinander auszutauschen oder zu stehlen, Handel und Diplomatie zu betreiben und letztlich auch den ein oder anderen Konflikt mit Waffengewalt auszutragen.
Erforscht der Spieler neue Technologien oder baut er zum ersten Mal ein neues Gebäude, wird er u.a. mit einem kleinen Audiokommentar belohnt. Baut er zum ersten Mal einen “Habitation Dome” (in der deutschen Version „Wohnkuppel“ genannt), wird ihm das hier thematisierte Gedicht vorgespielt. Der “Habitation Dome” hebt die Bevölkerungsgrenze einer Basis auf, sodass ihre Bevölkerungszahl theoretisch unbegrenzt wachsen kann – vorausgesetzt, die Bevölkerung wird ausreichend mit Nahrung und Sozialeinrichtungen versorgt.
Der Spieler bekommt das Gedicht im Spiel nur als Audiodatei präsentiert, findet eine schriftliche Version aber in den entsprechenden Textdateien im Spielverzeichnis auf CD oder Festplatte. Die in dieser Arbeit verwendeten Texte wurden vom Schriftbild so übernommen, wie sie vorgefunden wurden und nur in ihrem Schrifttyp an den der Arbeit angepasst. Die bei der ursprünglichen Version vorkommenden Sonderzeichen wurden entfernt, da davon auszugehen ist, dass diese nichts mit dem Inhalt des Gedichts zu tun, sondern nur programmierungstechnische Relevanz haben.
Im Spiel kommen zwei Arten von Texten vor: Zum einen gibt es Texte, die extra für das Spiel erfunden wurden und die von fiktiven Autoren stammen. Zum anderen enthält das Spiel eine Reihe von Zitaten von berühmten Philosophen und Schriftstellern (u.a. Kant, Nietzsche, Platon). Bei Texten, die von realen Autoren stammen, steht hinter dem Namen des Autors der Zusatz „Datalinks“ und da dies auch bei dem obigen Gedicht der Fall ist, ist davon auszugehen, dass es nicht eigens für das Spiel geschrieben wurde. Im Internet lassen sich einige Webseiten finden, auf denen „Bertrand Russell“ als Autor des Gedichts angegeben wird. Es ist davon auszugehen, dass damit der englische Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger gemeint ist, der zwischen 1872 und 1970 lebte. Leider konnte für diese Arbeit keine verlässlichen Quellen ausgemacht werden, die Russell als Autor des Gedichts sicher belegen. Auf Grund dieser Unsicherheit, wird die Frage nach dem Autor im Folgenden ausgeklammert.
III. Strukturanalyse
Der Text enthält keine Reime und besondere Melodie und ist fast wie ein normaler Prosatext strukturiert. Nur sein Zeilenverlauf macht es zu einem Prosagedicht. Das Gedicht besteht nur aus einer Strophe. Diese enthält fünf Sätze, die auf acht Zeilen verteilt sind. Ein Zeilenbruch nach dem Ende eines Satzes findet in der Zeile eins, drei, fünf, sieben und mitten im Satz in Zeile zwei, vier und sechs statt. Die drei mittleren Sätze, die jeweils zwei Zeilen umfassen, werden von jeweils einem einzeiligen Satz am Anfang und am Ende „eingerahmt“. Wenn eine neue Zeile innerhalb eines Satzes angefangen wird, werden die Wörter der neuen Zeile optisch zusätzlich hervorgehoben, indem sie etwas nach rechts verschoben stehen. Diese Aspekte und die Tatsache, dass Zeile eins und acht, zwei, vier und sechs und drei, fünf und sieben jeweils etwa gleich lang sind, verleihen dem Gedicht eine gewisse Symmetrie. Schaut man sich den Zeilenverlauf an, so lassen sich die unterschiedlichen Zeilenlängen als Wellenbewegung beschreiben. Dieser Zeilenverlauf baut mit Symmetrie des Textes je nach Perspektive eine Spannung zwischen Ordnung und Bewegung auf bzw. stellt eine Verbindung zwischen diesen beiden scheinbaren Gegensätzen her.
IV. Erste inhaltliche Annäherung durch den Vergleich zweier Übersetzungen
Es folgen nun zwei deutsche Übersetzungen, von denen die erste aus der deutschen Version des Spiels und das zweite aus einem Ratgeber zu dem Spiel stammt:
1.
Ich sitze in meiner Zelle, hier in der Mutterwelt.
Sterbe ich, so legen sie meinen Körper in eine Kiste und
verscharren ihn in kalter Erde.
Und in all den kommenden Jahrmillionen werde ich niemals mehr
atmen oder lachen oder zittern.
So, willst Du nicht mit mir laufen und spielen hier in der
wimmelnden Masse der Menschheit?
Das Universum ersparte uns diesen Moment.
Anonym, Datalinks
2.
Ich sitze in meiner Zelle, hier auf der Mutterwelt.
Wenn ich sterbe, werden sie meine Leiche in eine Kiste packen und
Diese in der kalten Erde versenken.
Und in all den Millionen Jahren, die noch kommen mögen, werde ich nie
Wieder atmen oder lachen oder zucken.
So komm und laß uns laufen und spielen, hier inmitten der
Wimmelnden Masse der Menschheit.
Das Universum hat uns diesen Augenblick geschenkt.
Anonym, Datalinks
Bis auf die letzte Zeile, ähneln sich die beiden Übersetzungen sehr stark. Lässt man die letzte Zeile außer Acht, sind die Unterschiede bei der Übersetzung einzelner Wörter für die Bedeutung des Textes nicht relevant. In Bezug auf Zeilenaufbau und Wortstellung ist die erste Übersetzung näher am Original. Entscheidender Unterschied ist die Übersetzung des „spare“ in der letzten Zeile. Dieses wird in der ersten Version mit „ersparen“ und in der zweiten Version mit „schenken“ übersetzt. Bezieht man das „spare“ auf die Aufforderung des lyrischen Ichs mit ihm zu laufen und zu spielen, scheint diese Hoffnung in der ersten Übersetzung enttäuscht und in der zweiten Übersetzung erfüllt zu werden. Je nachdem wie „spare“ übersetzt wird, bekommt die letzte Zeile und damit das ganze Gedicht eine optimistische oder pessimistische Färbung.
Generell lässt sich das Gedicht inhaltlich in drei Abschnitte unterteilen:
1. Beschreibung der misslichen Lage (1.-5. Zeile)
2. Aufforderung die Lage zu ändern (6.-7. Zeile)
3. Bewertung der Umsetzbarkeit der Aufforderung (8. Zeile)
Der erste Abschnitt besitzt eine negative, pessimistische Stimmung, während der zweite Abschnitt positiv und optimistisch ist. Bei einer positiven Interpretation der letzten Zeile ist auch eine Einteilung in zwei Teile möglich, nämlich in einen pessimistischen Anfang und ein optimistisches Ende.
Der inhaltliche Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt spiegelt sich auch in der Wortwahl wieder. Die Verben „sitzen“, „sterben“, „legen“, „verscharren“ und die Substantive „Zelle“, „Kiste“ und „kalte Erde“ in der ersten bis dritten Zeile vermitteln eine düstere und passive Stimmung. Im zweiten Abschnitt unterstreichen die Wörter „laufen“, „spielen“ und „wimmelnde Masse“ die positive Atmosphäre, indem sie Freude und Aktivität suggerieren. Die Zeilen vier und fünf stellen dabei mit den Verben „atmen“, „lachen“ und „zittern“ den Übergang von Passivität zu Aktivität dar.
Des Weiteren lassen sich noch weitere inhaltliche Gemeinsamkeiten feststellen. Fast das ganze Gedicht über scheint das lyrische Ich ein wissenschaftliches, abgeklärtes Weltbild zu vertreten. Es ist sich dem voraussichtlichen Ende seiner Existenz mit dem Tod bewusst und beschreibt in nüchternen, sogar schon leicht resigniert wirkenden Tonfall, was mit ihm nach seinem Ableben passieren wird. In der letzten Zeile findet allerdings ein metaphysischer Bruch der Perspektive statt, indem das Universum personifiziert wird. Das Universum nimmt eine göttliche, schicksalhafte Position ein, indem es über das Glück des lyrischen Ichs und desjenigen, den es anspricht, entscheidet. Es ist interessant, dass nicht Gott oder das Schicksal die Situation bestimmt, sondern das Universum. Diese Personifikation des Universums lässt sich als Zusammenfall von metaphysischem und wissenschaftlichem Weltbild deuten.
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