Schuld und Sühne

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
e-noon
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Mi 15. Apr 2009, 14:07 - Beitrag #1

Abgetrennt aus dem "Welches Buch lest ihr gerade? 2" - Traitor

Dostojewski: Schuld und Sühne. Wie bei Anna Karenina von Tolstoi hatte ich mir auch von diesem allseits bekannten Klassiker mehr erwartet als spontane Gewaltausbrüche aufgrund wirrer Theorien. Allerdings hat mich die Geschichte eher gelangweilt, Schwester und geliebte Dirne gut über jeden Zweifel erhaben, Bruder/Geliebter, Hauptperson und Mörder von zwei älteren Damen wechselt in Fieberschüben und wahnhaften Ideen zwischen Liebe und Hass zu seinen Mitmenschen. Die willkürlichen Wechsel in der Stimmungslage waren eventuell eine tolle Neuerung und sollten dem tatsächlichen Innenleben möglichst nahe kommen, ich finde sie nervig. Insbesondere kamen gefühlt 100 Mal die Sätze "er betrachtete ihn/sie aufmerksam" (ohne diese besondere Aufmerksamkeit näher zu erklären) und "plötzlich war er verärgert".

Padreic
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Fr 17. Apr 2009, 18:07 - Beitrag #2

Letzteres eins meiner Lieblingsbücher ;). Vor ein paar Jahren wie im Rausch gelesen. Ich kenne Tolstoi nicht, aber für mich gehören die Charaktere zu den größten in der gesamten Weltliteratur, nicht nur Raskolnikow, sondern beispielsweise auch Porfirij Petrowitsch.
Ich meine, ich mag keine Reißbrettstorys. Ich lese gerad was von Simon Beckett ("Die Chemie des Todes") - das ist eine Reißbrettgeschichte. Doch bei 'Schuld und Sühne', man mag dem Werk vorwerfen, was man will, da ist keien Reißbrettstory, da sind keine Reißbrettcharaktere. Das ist existentiell Erlebtes und Gefühltes, in Form gebannt.

e-noon
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Fr 17. Apr 2009, 18:25 - Beitrag #3

Hatte schon beim Durchblättern des Threads gesehen, dass es eins deiner Lieblingsbücher ist ;-) Es mag an mir liegen, oder an den Russen, jedenfalls gefallen mir allgemein diese "psychologischen" Romane nicht, mir fehlte bei Rasnikoloff VÖLLIG die Selbstreflektion, ein normaler Mensch, oder vielleicht eher jeder Mensch, müsste meines Erachtens stutzig werden, wenn er einen geplanten und einen ungeplanten Mord begeht und gleichzeitig im Fieberwahn herumläuft, zwischen Selbstmordgedanken und Allmachtsfantasien schwankt etc...

Hm vielleicht sollte ich selbst mal stutzig werden...

Padreic
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Fr 17. Apr 2009, 23:53 - Beitrag #4

Was meinst du genau mit 'stutzig werden' und 'Selbstreflektion'?

Edit: Ich habe nochmal ein paar Zeilen gelesen aus dem Buch und kann durchaus verstehen, wenn man es nicht mag. Man muss schon irgendwie eins werden mit Raskolnikov. Solange man einen (vermeintlich?) klaren Kopf beim lesen behält, kann man es vielleicht nur als seltsam empfinden, wie Raskolnikow fühlt und denkt und handelt. Aber diese Klarheit, die wir haben, lebt sie nicht davon, dass wir in bestimmte Bereiche nicht schauen? Hat Raskolnikov nicht vielleicht in Gegenden geschaut, die wir meist meiden, und rührt nicht daher das, was wir als Wahnsinn bezeichnen würden, und dass er manche alltäglichere Klarheit in Verworrenheit verwandelte?

janw
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Sa 18. Apr 2009, 02:54 - Beitrag #5

Zitat von Padreic:Aber diese Klarheit, die wir haben, lebt sie nicht davon, dass wir in bestimmte Bereiche nicht schauen? Hat Raskolnikov nicht vielleicht in Gegenden geschaut, die wir meist meiden, und rührt nicht daher das, was wir als Wahnsinn bezeichnen würden, und dass er manche alltäglichere Klarheit in Verworrenheit verwandelte?

Wobei damit vielleicht die alltägliche Klarheit erst als solche deutlich wird - das wahre Wesen der Welt offenbart sich durch ihre Verfremdung, und damit erweisen sich auch alle Gewissheiten über die Welt als was sie sind, bloße Annahmen.
Klingt irgendwie nach Zen...

e-noon
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Sa 18. Apr 2009, 13:25 - Beitrag #6

Klingt hier nicht alles nach Zen? :rolleyes:
Ich würde mal sagen, ich habe auch schon rauschhafte Zustände erlebt und würde auch nicht sagen, dass die Gedanken von Raskolnikoff [sic] völlig fremd und unverständlich sind; einfach nur die Konsequenzen, die er sieht, und die er ohne die geringste Selbstreflexion annimmt, dass er hinterher gar nicht mehr an die Behinderte immer nette Schwester denkt, die er auch getötet hat...
Außerdem ist er dauernd im Fieberwahn, als seine Freunde würde ich ihn eher mal einweisen lassen als ihn durch die Straßen ziehen zu lassen...
Na egal ^^

Ipsissimus
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Sa 18. Apr 2009, 18:12 - Beitrag #7

Ich habe die großen Romane Dostojewskis immer als zwiespältig empfunden. Als eigenständige Geschichten im Raum des Trivialen angesiedelt, beziehen sie ihre ungeheure Wirkung eigentlich nur aus dem Umstand, dass sie real geschehen könnten, dass sie nicht im Feld des rein Imaginären angesiedelt sind. Und wenn ich mir jetzt versuchsweise vorstelle, einen lapidaren Doppel-Raubmord begangen zu haben, dann stellt "Verbrechen und Strafe" (wie der Roman dem russischen Titel zufolge korrekter übersetzt werden müsste und von Swetlana Geier 1994 auch neu übersetzt wurde) eine großartige Annäherung an den Strudel von Emotionen und irrationalen Rationalisierungen dar. die infolge einer solchen Tat jeden Menschen heimsuchen würden, der nicht zu der Professionalität eines Killers gelangen kann. Die Emotionen Raskolnikoffs sind die Emotionen normaler Menschen angesichts ihrer eigenen Ungeheuerlichkeit, und der Roman bezieht einen Teil seiner Tragik daraus, dass er das selbst zu spät erkennt.

Als Erzählungen sind die Romane Dostojewskis aufgrund besagter Trivialität eher langweilig^^ nicht zu vergleichen mit heutigen Kriminalgeschichten^^ aber in ihrer Erscheinungszeit starben die Leute noch an metaphysischem Entsetzen, und auch heute noch wäre die Aufarbeitung eines selbstbegangenen Doppelmordes ein Unterfangen, das eines Herkules würdig wäre^^ um mit so etwas vor sich selbst davon zu kommen, muss ein normaler Mensch schon sehr auf der Hut sein^^

(offtopic - der Vierfach-Mord von Eislingen mit anscheinend zwei 18- und 19jährigen Tätern aus dem innersten Kreis um die Opfer - das wäre so ein Fall. Vor allem in der Haut des Sohnes möchte ich nicht stecken, wobei ich nicht mal so sehr an den Mord selbst oder die Strafe denke, sondern an die Aufarbeitung, die vor ihm liegt)

Padreic
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So 19. Apr 2009, 00:08 - Beitrag #8

Was ist das denn, eine triviale Geschichte? Eine Geschichte, deren äußere Umstände nicht kompliziert sind? Ist es nicht bei vieler großer Literatur so, dass man die Rahmenhandlung schnell erzählen könnte?

Ipsissimus
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So 19. Apr 2009, 02:22 - Beitrag #9

ja, in dem Sinne habe ich das ungefähr gemeint; wobei ich betonen möchte, dass dies keine Wertung über das Gesamtwerk ist, sondern nur eine Bemerkung zu einem speziellen Aspekt des Werks. Ich finde Dostojewskis Romane sind alles, nur nicht trivial oder langweilig; er gehört auch zu meinen Lieblingsautoren

janw
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So 19. Apr 2009, 12:27 - Beitrag #10

e-noon, nein, nur habe ich das, was ich über den Teil der Handlung weiß, in dem Sinne gelesen, natürlich eine für Dostojewski völlig falsche Lesungsart. Aber in dem Moment das, was es in mir evoziert hat.
Der Aspekt der Verfremdung würde passen für ein Werk der Jahrhundertwende, und dann vor allem weiter westlich.

Ich denke aber, daß Padreic mit dem Verweis auf "die Gegenden, in die wir nicht schauen" nicht so falsch liegt, dieser "Strudel von Emotionen und irrationalen Rationalisierungen" (Ipsi) ist IMHO wirklich, was den sich mit seiner Tat auseinandersetzenden Täter einer grausamen Tat vom Rest der Menschheit unterscheidet - der Rest kann sagen, daß er mal etwas über die Stränge geschlagen hat, einen schlechten Tag, ein paar Glas zu viel, hier aber steht das Ich zur Disposition.
Dies beschrieben zu haben ist sicher eine gewaltige Leistung Dostojewskis und wäre sicher nicht möglich gewesen ohne seine Erfahrungen in einem zaristischen Straflager.

Die Vorgeschichte ist aber nun was anderes, erinnert das nicht irgendwie an Nietzsches Vorstellungen vom Übermenschen?


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