Grusel

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
e-noon
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Mo 1. Nov 2010, 17:06 - Beitrag #1

Grusel

Philanthrop, der ich bin, habe ich soeben in einem Schreibforum, in dem ich angemeldet bin, jemandem geholfen, der eine Frage zur Erzeugung von "Grusel" hatte. Derjenige wollte wissen, wie eine auf einer Halloweenparty erzaehlte Geschichte gruselig wirken koennte. Ich habe ihm ein Beispiel geschrieben, und da ich eine Viertelstunde dafuer aufgewendet habe, moechte ich das ganze auch hier posten. Man beachte, dass ich den Text in einem Schwung geschrieben und nicht ueberarbeitet habe und verzeihe daher etwaige Fehler und Unzulaenglichkeiten (Achtung Bescheidenheitstopos).
Was meint ihr? Gruselig oder nicht?




"Tu das nicht einfach als Geschichte ab."
Damons Gesicht wurde schlagartig ernst. "Mein Cousin ist Krankenpfleger in einer Klinik für Geistesgestörte. Vor einem Jahr wurde eine Frau eingeliefert, die nach dem Tod ihres Mannes wahnsinnig geworden war. Den ganzen Tag saß sie apathisch auf ihrem Bett, die schwarzen Haare eine ungewaschene Mähne und der früher sehr schöne Körper ausgemergelt und voller Kratzspuren. Sie sprach nicht, hat kaum was gegessen - aber jede Nacht um zwölf Uhr fing sie an zu schreien."
Er machte eine Pause, als wäre er nicht sicher, ob er weiterreden sollte.
"Und? Was soll daran unnormal sein? Verrückte schreien nun mal und machen auch sonst seltsame Sachen", sagte sein Kumpel und zuckte gelangweilt mit den Schultern.
"Seltsame Sachen, ja?", erwiderte Damon mit ungewohnter Schärfe. "Seltsame Sachen wie die, dass sie ihre Arme blutig biss, jede Nacht um zwölf? Sie hatte nicht einmal eine Uhr, weil man alle gefährlichen Gegenstände aus dem Zimmer entfernt hatte. Woher hätte sie die Uhrzeit wissen sollen?"
"Was weiß ich... vielleicht ein gutes Gespür..."
"Woran ist ihr Mann gestorben?", fragte eine junge Frau mit blonden Haaren.
Damon wandte sich ihr zu.
"Das wollte mein Cousin auch wissen. Er dachte, er könnte ihr vielleicht helfen, wenn er den Grund für ihre Hysterie kennen würde. In der Akte stand, dass die Frau ihn selbst umgebracht hatte. Eifersuchtsdrama, hieß es. Es waren also wahrscheinlich Schuldgefühle mit im Spiel. Mein Cousin blieb in dieser Nacht länger in der Klinik und forschte im Internet nach Zeitungsartikeln zu dem Fall. Und er fand mehr als genug. Offenbar hatte der Mann dieser Frau eine Affäre, und in der Mordnacht hat sie an dem Armband, das sie ihrem Mann geschenkt hatte, ein blondes Haar gefunden. Sie tat zunächst, als wäre nichts, doch dann hat sie ihn mit einem schweren Gegenstand – wahrscheinlich ein Kerzenleuchter – niedergeschlagen und… ihn getötet.“
Damon zögerte wieder, doch die blonde Frau in der Menge war dichter an ihn herangerückt und hing an seinen Lippen.
„Wie hat sie ihn getötet?“, fragte sie begierig.
Er sah sie an.
„Die Polizei war sich nicht sicher, wie es möglich war… doch scheinbar hat sie seine Handgelenke aufgebissen und ihn verbluten lassen. Er ist gegen Mitternacht gestorben“
Die Frau sah ihn weiter mit seltsam aufgerissenen Augen an.
„Mein Cousin konnte es nicht glauben, aber es passte zu ihrem Verhalten – die Schreie um zwölf Uhr nachts, die Verletzungen an ihren Handgelenken. Sie musste schrecklich unter ihrem eigenen Verhalten leiden und enorme Schuldgefühle haben, die sie gegen sich selbst wandte.
Mein Cousin stand auf und wollte endlich – es war schon nach elf Uhr nachts – nach Hause gehen, da hörte er Schreie und Türenschlägen. Er war sicher, dass die Frau wieder zu schreien begonnen hatte, und ging nachschauen – doch ihre Tür war offen. Er lief in den Raum, doch das Bett war leer, nur leichte Blutspuren auf dem Laken. Er lief wieder hinaus auf den Gang und sah gerade noch, wie die Frau sich am Ende das Korridors gegen die doppelt gesicherten Glastüren warf, die nach draußen führten. Sie hätte ihren Schädel zerschmettern müssen; stattdessen zerbrach das Glas und sie floh mit einem schrecklichen, triumphierenden Lachen. Mein Cousin hörte jetzt auch anderswo im Haus Schreie und rief nach Hilfe. Zwei Pfleger der Nachtschicht kamen angelaufen und auch verstörte Patienten, die schrien und mit den Zähnen klapperten und wild gestikulierten. Zusammen liefen die drei Pfleger in das nächstgelegene Zimmer, in dem eine junge Frau schrie und auf das zweite Bett in ihrem Zimmer zeigte: Eine blonde Frau lag mit weit aufgerissenen, leeren Augen auf den weißen Laken, die sich mit Blut färbten. Blut, das aus ihren Handgelenken strömte. In dieser Nacht – gegen zwölf Uhr – waren alle blonden Frauen in der Klinik durch das Zerfleischen ihrer Handgelenke getötet worden.“

Lykurg
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Mo 1. Nov 2010, 17:55 - Beitrag #2

Ja, deine Kurzgeschichte enthält eine Reihe von typisch gruseligen Elementen, insbesondere natürlich Rätsel, Übernatürliches/Spukhaftes, Wahnsinn und Mord. Die Nichtüberarbeitung merkt man ihr allerdings stellenweise an, aber ohnehin ist das nicht so mein Genre, es sei denn, es wird makaber (ist dann aber meist weniger gruslig).

e-noon
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Mo 1. Nov 2010, 19:40 - Beitrag #3

:shock: Ich bin so schlimm, ich hab grade Angst vor meiner eigenen Geschichte bekommen... klarer Fall von Supernatural-Overkill. "Grusel" ist auch absolut nicht mein Genre, darum war ich überrascht, dass mir überhaupt etwas zu dem Thema einfiel. Hatte wohl damit zu tun, dass ich mich so um eine unangenehme Aufgabe drücken und das vor mir selbst rechtfertigen konnte. Ich finde es allgemein eher schwierig, in Kurzgeschichten Grusel zu erzeugen (bzw. stelle es mir schwierig vor, da nie versucht. In Filmsequenzen vergleichbarer Länge gelingt das wesentlich besser (im Grunde reicht mir da schon die Musik und ich krieg Angst).

Lykurg
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Mo 1. Nov 2010, 20:03 - Beitrag #4

Generell ist es oft einfacher, sich vor Aufgaben zu gruseln, als vor Geschichten. Musik kann auch dabei helfen. Gib mir eine Tafel, ein Stück Kreide und hinreichend Fingernägel, und ich vertone deine Kurzgeschichte. ;)

Gute Beispiele für das Nichtfunktionieren von Grusel bei sehr kurzen Texten finde ich hier. Die Geschichten (bzw. einige davon) sind großartige Miniaturen schauriger, extrem pointierter Schockertexte, aber es kommt kein Gruselgefühl auf, weil es dafür viel zu schnell vorbei ist - eine Voraussetzung ist wohl, daß der Leser sich zumindest in gewissem Maße identifiziert. Am besten klappt es noch bei den Geschichtchen, die erst nach dem Lesen 'zünden', aber das ist eine andere Form des Schauerns als vor dem Textende.
Zitat von Florian Meimberg:Dr. Kay schwitzte. Er hatte 2 Minuten, um den Tumor zu entfernen. Behutsam durchschnitt er die Bauchdecke. Der Schmerz liess ihn aufstöhnen.

e-noon
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Mo 1. Nov 2010, 20:17 - Beitrag #5

Lieb gemeint, aber das lese ich mir jetzt nicht durch :D Dein Zitat war mir schon zuviel.
Bücher mit Grusel lese ich auch nur wenige, bin da aber sehr anfällig; was war das noch für ein Buch, nach dem Makeda und ich uns nicht mal mehr auf den Flur getraut haben? *grübel*
Von Petra Hammesfahr habe ich ein Buch gelesen, "die Puppe" oder so, damit kann man mich jagen - Puppen mag ich sowieso nicht *schauder*

Das unangenehme Gefühl von Fingernägeln auf Tafeln würde ich nicht als Grusel bezeichnen, auch wenn es gut zu einer Gruselatmosphäre passt. ^^

Lykurg
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Mo 1. Nov 2010, 20:26 - Beitrag #6

Manche der Geschichten sind auch überaus niedlich, oder nachdenklich, da gibt es lauter verschiedene Genreerfüllungen. Kleinkunstwerke, über die ich eigentlich längst mal was sagen wollte. -
Ja, ich finde das Geräusch auch grausig, aber vor allem wollte ich es als Mittel zum Zweck einsetzen - es ging ja nur darum, daß es zu einer solchen Atmosphäre paßt bzw. mithilft, sie zu erzeugen. Habe mal ein eindrucksvolles Beispiel für ein harmloses kleines Kurzfilmchen mit zwei konträren Musikunterlegungen gesehen... typisches Mittel bei Horrorfilmen ist ja auch, mal eben den Ton auszustellen. Wir sind halt doch nicht so visuell fixiert, wie wir meinen.^^

Maglor
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Mo 1. Nov 2010, 23:25 - Beitrag #7

Schön finde ich ja, wenn die Wirklichkeit unvermittelt durch irrationale Elemente gebrochen wird. Das ist hier nicht der Fall, es geht gleich in die Psychiatrie, was die Sache sehr vorhersehrbar macht, eigentlich recht klischeehaft. Zu viel Klarheit, zu wenig Nebel.

Gruselig im positiven Sinne finde z. B. ich auch Perspektivwechsel, in denen undurchsichtig zwischen allwissendem Erzähler und personalisiertem gewechselt wird.
Zum Vorlesen ist noch Lautmalerei interessant und natürlich der Wechsel in Stimme und Tempo.

Vielleicht noch ein Augen, Doppelgänger, psychotische und äquatorial-afrikanische Elemente.


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