Iago and Cassio

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Mo 5. Dez 2011, 19:03 - Beitrag #21

Weder noch, ehrlich gesagt. Es gibt so viele Stellen in und außerhalb der Literatur, in die man bei Bedarf Sexuelles (feministisches/postkolonialistisches/antisemitisches/wai) hineindeuten kann, dass dies hier nur eine Spielerei ist. Wenn alles, was an homoerotischen Anspielungen in Klassiker hineingelesen werden kann tatsächlich beabsichtigt wäre, dann müsste man wohl von einer heterosexuellen Minderheit sprechen anstatt umgekehrt. Es spielen viele Faktoren eine Rolle; insbesondere das Konzept männlicher Freundschaft, das in der besagten Zeit andere Arten von Intimität vorsah als heute; dann ist es so, dass sehr viele Bereiche des Sexuellen mit Euphemismen, allgemeineren Ausdrücken und Metaphern aus dem Kriegsbereich bebildert werden, sodass im Sexuellen auch das Aggressive, allerdings auch leicht im Aggressiven das Sexuelle gelesen wird.

Ich denke, das Großartige an Shakespeare ist, dass sich viele Stellen in mehrerer Hinsicht deuten lassen, ohne, dass man sich für eine Deutung entscheiden müsste.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 5. Dez 2011, 19:09 - Beitrag #22

Ich denke auch, daß sich stärkere Stellen finden lassen sollten bzw. das einmalige Auftauchen einer Zweideutigkeit nicht direkt in dieser Richtung gelesen werden muß - wohl aber kann, wenn sich eine schlüssige Interpretation daraus ergibt; dann aber stets im Einklang mit weiteren Argumenten. Wie extrem dicht Shakespeare sexuelle Metaphorik anbringen kann, wenn er das wirklich möchte, zeigen andere Stellen zuhauf, an denen man es nicht erst hineinlesen muß.^^

Mit der Überlappung der Themenbereiche von Metaphern sprichst du einen wichtigen Punkt an, e-noon^^, wobei ich mich frage, inwieweit das eine zeittypische Erscheinung war, die sich in gewandelten Liebeskonzepten späterer Jahrhunderte allmählich auflöst, oder doch ein stark autorgebundener Sprachgebrauch.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 6. Dez 2011, 10:10 - Beitrag #23

na ja, bei so manchem Homosexuellen würdest du mit der Vorstellung der heterosexuellen Minderheit offene Türen einlaufen, e-noon^^ aber ich denke auch, dass diese Motive expliziter gestaltet sein müssten, wenn sie als Beleg für hintergründige Motivation gelten sollen; aus meiner Sicht sind sie eher Beleg dafür, dass natürliche Sprache nur in seltenen Fällen zu eindeutiger Semantik fähig ist.

Lykurg, Shakespeare wird wohl noch aus einer mittelalterlichen Drastik schöpfen, die Leutchen waren damals ja nicht annähernd so prüde, wie sie später dargestellt wurden. Insofern kann man das auch so auffassen, dass seine Darstellungskunst einen späten Höhepunkt der mittelalterlichen niederen Minne gibt, die nach ihm langsam in Prüderie degeneriert^^

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 6. Dez 2011, 14:34 - Beitrag #24

Ja, der Schwerpunkt läge auf langsam - wirklich prüde wurde man erst im 19. und frühen 20. Jh., vorher und selbst zu dieser Zeit gab es immer auch stark erotisiertes Schrifttum, ob nun offen oder verdeckt. Möglicherweise verschoben sich aber die Akzente theatralischen Handelns von der faktischen auf die emotionale Ebene - und später auf eine geistige?

Angesichts der mir bekannten Beispielen würde ich aber doch unterscheiden, daß niedere Minnedichtung eher in der Unterschicht abläuft, während bei Shakespeare sexuelle Aufladung überall auftaucht. Möglicherweise setzt er es auch verstärkt zur Charakterisierung von Figuren geringeren Standes ein oder zur ethischen Distinktion innerhalb der Gruppe, aber ich sehe darin eine bei weitem ausgereiftere bzw. bewußtere Setzung.

Vorherige

Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 4 Gäste