Theater und Regietheater

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Lykurg
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So 30. Okt 2011, 18:44 - Beitrag #1

Theater und Regietheater

Zitat von janw:Lykurg, was für ein Theater?(!)

Don Giovanni im Kino gestern war nett, aber irgendwo beunruhigend, daß den Unterhaltungsproduzenten nach 200 Jahren nicht viel Neues einfällt.
Manon könnte mich noch reizen...
"Heute weder Hamlet...", ein Stück Metatheater. Das Stück begann mit dem üblichen Intendantenauftritt "Tut uns furchtbar leid, aber wegen Ausfalls eines Hauptdarstellers muß die heutige Veranstaltung leider entfallen, Geld zurück, etc. etc.", (echt genug gemacht, daß immerhin einer vor uns aufstand und sich den Mantel anzog; das gab spontan Applaus und einiges Gelächter) - dann öffnete sich aber doch der Vorhang und enthüllte den blaubekittelten (nicht-Kulissenschieber-sondern) hauptamtlichen Vorhangaufzieher, der sich darüber wunderte, daß das Publikum noch da säße. Sein den Rest des Abends währender Monolog begann mit den Worten "Heute weder Hamlet noch sonst irgendwas" und endete (nach langen und teils langatmigen Anekdoten und darin eingestreut seiner Lebensgeschichte als gescheiterter Schauspieler, während deren Erzählung er sich zunehmend in die Rolle Hamlets hineinsteigerte) mit seiner Selbstvergiftung und den geröchelten Worten "Und... der... Rest... ... ... ist... - "

Einige schöne Ideen drin und zwischenzeitig Beispiele guten Schauspiels, wenn er einige seiner alten Rollen vorführte oder vorspielte, wie verschiedene Charaktertypen von Schauspielern sich verbeugen; allerdings wirkte es auf uns eher wie eine Varieténummer, teilweise wie Taschenspielertricks, und entsprechend fühlten wir uns zunehmend vom Publikum distanziert, das begeistert Szenenapplaus gab und sich vor Lachen schüttelte, während es uns übertrieben, unecht und in der Hintergrundgeschichte völlig unglaubwürdig vorkam. Wir diskutierten nachher noch drüber, ob vielleicht auch das als schlechtes Spiel des Spiels im Spiel Absicht gewesen sein könnte, dafür gab es aber keine wirklichen Anhaltspunkte im Stück (und wenn, wäre es jedenfalls am Publikum völlig vorbeigegangen).

Der Don Giovanni aus der Met? Da ist ja auch abgesehen vom musikalischen wirklich nichts zu erwarten, die Met ist berüchtigt für ihre altbackenen Inszenierungen. Sie ist ja privat finanziert, und von den wichtigsten Sponsoren will offenbar niemand dem Regietheater eine Chance geben. Auch bei dem Hamlet-Stück war wieder deutlich, wie extrem gut die billige Polemik des Vorhangaufziehers gegen "den Regisseur" bzw. "die Regisseure" beim großenteils hochbetagten Publikum ankam.

Dagegen war ich sehr erstaunt von der Eröffnung des Bolschoi-Theaters vorgestern. Die Russen inszenieren ja auch generell sehr traditionell, aber diesmal haben sie sich was getraut: Nach Medwedjews großer Eröffnungsansprache vor 1.700 handverlesenen Gästen und dem noch verschlossenen goldbestickten Samtvorhang (nun wieder mit St. Georg und dem Zarenwappen statt mit Hammer und Sichel) öffnete sich selbiger und gab den Blick auf eine Horde von behelmten Arbeitern mit Preßlufthämmern und Baufahrzeugen frei, die in Baustellenkulissen einen Heidenlärm machten, der dann aber fließend in ein Stück von Glinka überging - die Bauarbeiter entpuppten sich als Chorsänger.

Ipsissimus
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Mo 31. Okt 2011, 12:33 - Beitrag #2

ich habe nichts gegen Regietheater, ich habe nur etwas gegen die meisten Inszenierungen, die Regietheater bisher geliefert hat, insofern als sie im Wesentlichen die Exaltiertheit (und oft genug Albernheit) der psychischen Situation ihres Regisseurs darstellen, dem Werk aber nichts zufügen und viele sogar kontraproduktiv für das Verständnis des Werks sind. Und Metatheater, wie das von dir besprochene Stück, teilen dieses Schicksal, wenngleich der Ansatz hier ein anderer ist.

janw
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Mo 31. Okt 2011, 13:07 - Beitrag #3

Ipsi, vielleicht liegt das Problem darin, daß früher jeder wusste, daß Schauspieler einen an der Mütze hatten, sie selbst es aber zu verbergen suchten, sie heute aber als Stars ernstgenommen werden und ihr Einen-an-der-Mütze-haben offen zelebrieren?

e-noon
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Mo 31. Okt 2011, 15:42 - Beitrag #4

Ich denke, dass es bei einer Gesamtinszenierung an dem Regisseur liegt und nicht an den Schauspielern, wenn einem Werk durch die Inszenierungsart nichts hinzugefügt wird außer "alle sind nackt".

@Lykurg: Die Inszenierung bestand also aus einer Person, die erzählte und schauspielerte? Wie lang ging das Ganze?

janw
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Mo 31. Okt 2011, 17:38 - Beitrag #5

e-noon, Regisseure und Schauspieler sind IMHO in dem Punkt des "etwas anders seins" gleich, viele Regisseure haben mal als Schauspieler angefangen.

Wobei meine Charakterisierung von heute mittag etwas negativ wirkt, was nicht beabsichtigt und gemeint war.
Es sollte eine gewisse "andere Sicht der Welt" ausdrücken, durch die Schauspieler in der Lage ist, dem Rest der Menschheit den Spiegel vorzuhalten.
In Ipsis Sinne bestünde das Problem dann wohl darin, daß Regisseure und Schauspieler vielfach eben dieses heute nicht mehr tun, sondern stattdessen ihre eigene Verfasstheit zelebrieren.

In Russland dagegen offenbar wohl noch nicht...

Zu Don Giovanni aus der Met muss ich sagen, daß es altertümlich war von der Ausstattung her, Bühnenbild und Kostüme entsprachen der Renaissance, sogar die Tanzmusik wurde von einer entsprechenden Gruppe aufgeführt.
Die Szenen mit dem wandelnden Denkmal wirkten durchaus schauerlich.
Insgesamt fand ich es allerdings in Teilen etwas lang.
Unnötig fand ich die Interviews in der Pause, die teilweise gezeigt wurden - es ist klar, daß dann der jeweilige Auftrittsort der beste bisher und das Publikum wunderbar und das Stück unübertroffen genial und herausfordernd ist. Phrasen statt tieferer Einblicke zum Verständnis des Stücks oder vielleicht seiner Bedeutung für den Regisseur selbst.

Lykurg
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Mo 31. Okt 2011, 18:37 - Beitrag #6

e-noon, ich habe kaum auf die Uhr gesehen, aber es gab eine Pause, auf die ich lieber verzichtet hätte, wenn dafür eine halbe Stunde vom Stück gestrichen worden wäre. Alles in allem dürften es vielleicht eindreiviertel Stunden reine Spielzeit gewesen sein. Er hat sich ab und zu Frauenkleider angehalten, aber nackt war er nicht.^^
Zitat von Ipsissimus:... gegen die meisten Inszenierungen, die Regietheater bisher geliefert hat, insofern als sie im Wesentlichen die Exaltiertheit (und oft genug Albernheit) der psychischen Situation ihres Regisseurs darstellen, dem Werk aber nichts zufügen und viele sogar kontraproduktiv für das Verständnis des Werks sind.
Ich bin ja auch ein eher kritischer Theatergänger und lege Wert darauf, daß man mir ein Stück vorsetzt, mit dem ich etwas anfangen kann, das mir etwas zurückgibt. Dabei greife ich aber neugierig auf die Leistung eines Regisseurs zurück, der mir seine Lesart des Stücks anbietet. Zwangsläufig wird die subjektiv sein, und möglicherweise würde ich vieles völlig anders verstehen oder finde auch oft genug, daß eine Inszenierung das Stück verschlimmert. Andererseits habe ich oft genug erlebt, daß ein völlig aus der Zeit gefallenes Werk durch einen interessanten Interpretationsansatz neue Aktualität gewann oder in einen völlig anderen Kontext gesetzt seine Gültigkeit bewahrte, etwa denke ich gern an diese Antigone zurück (was allerdings weniger das Verdienst der - recht zurückhaltenden - Regie war als das des Bearbeiters und damit quasi Protoregisseurs Brecht). Viele Stücke des 18. und 19. Jahrhunderts sind uns heute unzugänglich, wirken unfreiwillig komisch oder banal, weil unsere Lebenswirklichkeit so eine andere ist. Ein guter Regisseur kann hier Wunder wirken - oder exaltierten Schund abliefern - aber gerade das, die Frage, was man daraus mitnimmt, liegt dann wieder im Auge des Betrachters.

janw, angesichts der historistischen Inszenierung ist dann ja auch naheliegend, daß sich die Frage "was hat sich der Regisseur dabei gedacht" erübrigt.^^ Die Interviews dienten einfach nur dazu, die Pause zu überbrücken, das aber mit echtem Inhalt zu füllen, gelingt auch bei anderen Konzertübertragungen in den seltensten Fällen. - Das wandelnde Denkmal kann und darf auch schauerlich wirken, ansonsten verstößt man ein gut Teil gegen den Sinn des Stücks, meine ich - das ins Lächerliche zu ziehen, wäre... naja, je nachdem, was man draus macht, aber das sehe ich schon skeptisch.


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