Hat er oder hat er nicht?

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 31. Okt 2011, 16:22 - Beitrag #1

Hat er oder hat er nicht?

gemeint ist natürlich Shakespeare, der gemäß "Anonymous", des neuesten Films von 2012-Regisseur Roland Emmerich, dem talentierten Schreiber der Shakespearschen Werke nur seinen Namen lieh. Man könnte auch andersrum fragen, hat Emmerich einfach nur ein paar literaturwissenschaftlich altbekannte Fragen zu einer Verschwörungstheorie aufgebläht, oder muss die Urheberschaft Shakespeares tatsächlich auf sachlicher Ebene bezweifelt werden?

Hier soll es weniger um den Film gehen als vielmehr um die Theorie der Nichturheberschaft Shakespeares.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Mo 31. Okt 2011, 16:41 - Beitrag #2

Gegenfrage: Ist das wichtig?
Irgendjemand hat eine bemerkenswerte Anzahl an Werken verfasst, die sich durch sprachliche Brillanz und zeitlose, fesselnde Charakterzeichnung einen Rang als Weltliteratur verdient haben. Es liegt nahe, diese Werke William Shakespeare zuzuschreiben, auch wenn keine Handschriften vorliegen und die (mit seinem Namen) gedruckten Werke erst Jahre nach ihrer Entstehung erschienen sind. Es gibt immer wieder Mutmaßungen um die Identität Shakespeares, aber anders als beispielsweise bei Homer wird auch heute noch nicht bezweifelt, dass die allermeisten seiner Werke von derselben Person geschrieben wurden, und dass diese Person William Shakespreare hieß. Mir ist auch noch keine plausiblere oder besser belegte Theorie zur Urheberschaft begegnet.

Daher halte ich deine erste Vermutung für richtig: Mit dem Film "hat Emmerich einfach nur ein paar literaturwissenschaftlich altbekannte Fragen zu einer Verschwörungstheorie aufgebläht."

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 31. Okt 2011, 17:00 - Beitrag #3

aber angenommen, es gäbe diesen anderen. Wäre es dann nicht eine Frage der urheberschaftlichen Gerechtigkeit, ihm den Ruhm zukommen zu lassen, den bislang Shakespeare einsteckt?

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 31. Okt 2011, 17:44 - Beitrag #4

Urheberschaftliche Gerechtigkeit - da packst du aber große Begriffe aus... In Shakespeares Zeit hätten sich jedenfalls wenige darum bemüht, er - (oder der Autor der Shakespearschen Stücke, den ich der Einfachheit halber ebenfalls Shakespeare nennen will^^) hat ja selbst fremde Sujets und deren Umsetzungen genial weiterverarbeitet, nach einem Urheber fragte man höchstens, wenn man sich auf einen antiken verfasser berief, mit dessen Namen man sich schmücken wollte, und die Namenssetzung auf den Titelblättern erfolgte dann ja bereits als werbewirksame Maßnahme; wer auch immer dabei eine Fehlzuschreibung vorgenommen haben sollte, hätte sicher seinen Grund dazu gehabt, gerade den Namen Shakespeare dafür herzunehmen, das bleibt aber in jedem Fall spekulativ.

Wir wissen herzlich wenig über William Shakespeare, noch weniger aber, wenn wir ihm die Autorschaft absprechen, zum Verständnis des Werks trägt das aber jedenfalls kaum etwas bei. Und wenn wir schon von Gerechtigkeit sprechen - wäre es gerechter, einem wahrscheinlichen Verfasser sein Werk ab- und einem Unbekannten zuzuschreiben, der ja qua Unbekanntheit nichts davon hätte?

Milena
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 1797
Registriert: 17.01.2005
Mo 31. Okt 2011, 19:09 - Beitrag #5

..wenn dies je überhaupt zurück zu verfolgen möglich ist, dann wird auch herauskommen, wer der andere ist, und dann finde ich, dass ihm (dem eigentlichen genie), auch nach seinem tod ehre zu gebühren ist...
ich denke, wenn dem der fall wäre, ist es wichtig, da shakespeare für mich jedenfalls aus einem ganz anderen blickwinkel zu betrachten wäre und vielleicht auch den weiteren generationen....

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 31. Okt 2011, 19:32 - Beitrag #6

Hinge davon ab, was man herausfände und wie. Bei einer klaren Zuweisung an einen anderen historisch faßbaren Autor wäre das natürlich eine Selbstverständlichkeit. Aber solange man sich auf dem Gebiet von vager Spekulation bewegt und keine argumentativ begründete Alternative bietet, nur ein "es war vielleicht alles ganz anders, also nehmen wir das einfach mal an", braucht man das auch nicht weiter zu verfolgen.

Allzu viele Kleingeister versuchen sich über die Neudeutung des Werks großer Denker bekannt zu machen, ohne das wirklich zu unterfüttern. Entsprechend wird man auch gerade in der Shakespeareforschung für jede beliebige Theorie ein paar oder ein paar Dutzend Vertreter finden.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mo 31. Okt 2011, 20:58 - Beitrag #7

Die Frage nach Shakespeares Identität und dem Urheber seiner Stücke reicht durchaus weit zurück, und die Infragestellung der allgemein angenommenen Identität Shakespeares hat IMHO durchaus Argumente für sich, wenn man das in seinen Werken enthaltene Wissen und Durchdringung mit dem damals für Menschen seines Standes zugänglichen Bildungsstand in Beziehung setzt.

In meinen Augen ist die Frage auch literaturkundlich lohnend, denn die Feststellung einer anderen Autorschaft könnte zu einem anderen Blick auf und zu einem anderen Verständnis seiner Werke führen, mehr noch bei möglichen mehreren Autoren. Fragen zur Eingebundenheit des oder der Autoren in politische Vorgänge böten sich an und nach einer damit verbundenen Rolle der Werke.

Wie immer ist aber ein Hollywoodfilm nicht der Weg, diesen Fragen nachzugehen, insofern ein weiteres Unterhaltungsprodukt.

Milena
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 1797
Registriert: 17.01.2005
Mo 31. Okt 2011, 21:03 - Beitrag #8

..Emmerich hat meines erachtens nur blödsinn produziert, leider mit grossem erfolg, so dass es mich nicht wundert, weiteren blödsinn produzieren zu müssen...

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Mo 31. Okt 2011, 21:05 - Beitrag #9

Hintergrund der Autorschaftsdebatten bei vielen der sog. „Antistratfordianer“ ist die Auffassung, der Dichter der Shakespeare’schen Werke könne kein einfacher Mann von geringer Bildung aus der Provinz gewesen sein. Dabei war die Grammar School in Stratford, die Shakespeare wahrscheinlich besucht hat, keine zweitklassige Ausbildungsstätte. Die Schüler wurden intensiv im Lateinischen und in geringerem Maß auch im Griechischen unterrichtet und schrieben schon während der Schulzeit kleine Dramen nach dem Muster der klassischen Stücke, die übersetzt und analysiert wurden; eine bessere Schulausbildung für einen Autor gab es gar nicht. [...]

Die Urheberschaftsdiskussion um die „wahre“ Verfasserschaft beginnt mit Delia Bacon. In ihrem Buch The Philosophy of Shakespeare’s Plays (1857) entwickelt die mit Francis Bacon nur zufällig namensgleiche Autorin die Hypothese, dass sich hinter den Shakespearestücken eine Gruppe von Dichtern/Schriftstellern mit Francis Bacon, Sir Walter Raleigh und Edmund Spenser verbarg. Ihre Publikation löste eine ganze Welle von Spekulationen aus, bei denen bis heute immer neue mögliche Kandidaten ins Spiel gebracht werden.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mo 31. Okt 2011, 22:48 - Beitrag #10

Genau genommen erklärte bereits 1846 ein Ralph Waldo Emerson, Schwierigkeiten damit zu haben, Shakespeares offenbares Leben mit seinem Werk überein zu bringen, und 1848 zweifelte Joseph C. Hart erstmals ganz offen seine Autorschaft an, da er Hinweise auf verschiedene Autoren gefunden zu haben glaubte.

Dies geschah zu einer Zeit, als Shakespeare als der britische Nationaldichter per se verehrt wurde und als gleichzeitig allgemein eine analytische Sicht auf künstlerische Werke etabliert wurde.
Insofern ist durchaus daran zu denken, daß die "Heldenverehrung" zwangsläufig Zweifler nach sich gezogen haben könnte, und daß andererseits im analytischen Streben der Zeit übersehen wurde, daß die damals bestehende Faktenuntermauerung von Biographien mit Werksveröffentlichungen als auch biographischen Fakten und die klare Autorzuweisung von Werken im Zuge des mittlerweise entstandenen Verlagswesens nicht auf die Zeiten Shakespeares zu übertragen waren.

In meinen Augen könnte man aus der Existenz von Autoren wie Marlow den Schluss ziehen, daß die Volksbildung zu Shakespeares Zeiten doch zu einem hochwertigen literarischen Schaffen führen konnte, andererseits ist für mich das Zulassen von Zweifel Grundlage jeder Wissenschaftlichkeit, und eine Literaturwissenschaft, die sich zweifelnden Fragen verschließt, verlässt für mich den Raum geistiger Freiheit, hin zur Orthodoxie.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Mo 31. Okt 2011, 23:04 - Beitrag #11

Im Falle des Genie-Kults besteht durchaus die Möglichkeit, das dem Genie mehr zugeschrieben wird.
Das Sturm-und-Drang-Drama "Der Hofmeister" wurde anonym veröffentlicht. Bald schon Goethen zugeschrieben stammte es tatsächlich von Jakob Michael Reinhold Lenz, was sich erst später herausstellte.
Shakespeare lebte zu einer Zeit, in der man sich um die tatsächliche Urheberschaft nicht so sehr bemüht hat. Die Renessaince-Maler malten und ließen durch ihre Schüler malen. Am Ende galt jedes Bild der Werkstatt als ein echter Leonardo, über Details wird noch immer gestritten.

Im Grunde fehlen die konkreten Daten. Man kann viele Thesen aufstellen, die man weder beweisen noch belegen.
Für manche Menschen ist das natürlich ein interessantes Hobby. Mit Wissenschaft hat es das eher weniger zu tun. Im Zentrum steht oft die Lust am Widerspruch und der Wunsch etablierten Ansichten vorzuführen.
Vgl. "Erfundenes Mittelalter", Verschwörungstheorie etc.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 31. Okt 2011, 23:25 - Beitrag #12

Da bin ich völlig einer Meinung mit Maglor. Auch ich meinte ja schon, wenn einer das nachweisen kann, gerne. Aber solange es auf dem Gebiet der Spekulation bleibt und die Belege fehlen, stattdessen fragwürdige Autoren des 19. Jahrhunderts einen Quasi-Quellenwert dafür erhalten, daß sie näher an Shakespeare dran sind als unsere Generation^^, kann man sich das genausogut schenken. Daß die betreffenden Forscher "Verschwörung! Verschwörung!" schreien, wenn man sie ignoriert, wundert mich nicht weiter, bekräftigt ihre Position aber nicht. Auch in den Geisteswissenschaften kommt es auf Nachweisbarkeit und schlüssige Argumentation an. Da reicht ein "auch andere Autoren konnten damals gut schreiben" noch nicht aus.

Zugegebenermaßen überblicke ich die Anglistik nicht hinreichend, um es vollständig auszuschließen, aber analog könnte ich mir in der Germanistik schlecht vorstellen, daß eine ernstzunehmende These dieser Art wirklich gezielt und wirkungsvoll längerfristig unterdrückt würde. Wenn schon, finden Richtungskämpfe eher um bestimmte Methodiken statt, aber nicht in dem Maße um Fragen der Autorschaft. Da gibt es die Kategorie des zweifelhaften Werks und der offenen Autorschaft, und mit beidem kann man professionell umgehen, prüfen, belegen und diskutieren. Gerade zu den großen Autoren gibt es genügend Publikationsmöglichkeiten, um keine solche Monopolisierung zu bewirken.

Die aktuelle Shakespeare-Werkausgabe beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Autorschaft, dem traue ich erst einmal mehr als ein paar skandalhaft aufgeblähten Forschermeinungen - geschweige denn einem Emmerich-Film! War 2012 nicht schon schlecht genug, einer der unplausibelsten und wissenschaftsfernsten Filme in der Geschichte Hollywoods? Die Tatsache, daß er das verfilmt, ist schon fast ein zitierfähiges vernichtendes Gegenargument gegen jegliche Thesen, die er äußert!^^

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 1. Nov 2011, 00:24 - Beitrag #13

Sind wir uns denn schon mal darüber einig, ob das ein ausschließlich rezeptionsgeschichtliches oder ein sachliches Problem ist? Wenn es nur ein rezeptionsgeschichtliches ist, brauchen wir nicht weiter zu fragen, Autor ist, wer dafür gehalten wird. Wenn es ein sachliches Problem ist, müssten die sachlichen Fragen der Anti-Stratfordianer sauber beantwortet werden. Und wenn diese Antworten tatsächlich schon gegeben wurden, müssten die Antworten ja zugänglich sein.

Aus meiner Sicht ist das Problem jedenfalls nicht schon dann gelöst, weil wir aus urheberrechtlicher Pietät oder literaturwissenschaftlicher Bequemlichkeit aus dem "als ob" ein "sic!" machen.

Davon völlig abgesehen stimme ich euch natürlich vollkommen zu, Emmerich ist der denkbar ungeeignetste Regisseur für einen derartigen Film. Er war ja auch nur der Aufhänger^^

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 1. Nov 2011, 01:27 - Beitrag #14

Ipsi, ich denke, man kann aufgrund der Faktenlage Zweifel an der allgemeinen Annahme hegen, derzufolge all das von Shakespeare stamme; die Rezeptionsgeschichte könnte IMHO unter diese Faktenlage subsummiert werden, sie stellt in meinen Augen einen Argumentesatz dar, der im Diskurs zu erörtern wäre, unabhängig davon macht sie die Klärung nicht wirklich leicht.

Zitat von Lykurg:Auch ich meinte ja schon, wenn einer das nachweisen kann, gerne. Aber solange es auf dem Gebiet der Spekulation bleibt und die Belege fehlen, stattdessen fragwürdige Autoren des 19. Jahrhunderts einen Quasi-Quellenwert dafür erhalten, daß sie näher an Shakespeare dran sind als unsere Generation^^, kann man sich das genausogut schenken. Daß die betreffenden Forscher "Verschwörung! Verschwörung!" schreien, wenn man sie ignoriert, wundert mich nicht weiter, bekräftigt ihre Position aber nicht. Auch in den Geisteswissenschaften kommt es auf Nachweisbarkeit und schlüssige Argumentation an. Da reicht ein "auch andere Autoren konnten damals gut schreiben" noch nicht aus.

Das Problem ist, daß für die Shakespeare-Forschung in England die Gesetze der Wissenschaftlichkeit offenbar nicht oder nur eingeschränkt gelten, die herrschende Meinung über die Autorschaft der ihm zugeschriebenen Werke ist nicht der Skepsis und Überprüfung zugänglicher Stand des Wissens, sondern doxa.
Natürlich ist kann man es wünschen, daß Kritiker ihre Kritik durch die Darstellung eines Alternativmodells auf der Grundlage eines möglichst umfangreichen und dichten Faktengerüstes untermauern, als Forderung greift es jedoch zu kurz: eine Theorie/herrschende Meinung bezüglich eines Sachverhalts muss nicht notwendig durch eine alternative Theorie ersetzt werden, sondern könnte auch schlicht durch die Darstellung von Zweifelsgründen in ihrer Gültigkeit hinterfragt werden. Selbst solche Zweifel laufen aber in der englischen Shakespeare-Forscherszene Gefahr, wie eine Lästerung des Säulenheiligen zu enden.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 1. Nov 2011, 01:40 - Beitrag #15

Ein Blick in Wikipedia zeigt, daß das Problem, so weit man eines darin sehen will, umfassend und erschöpfend behandelt wird. Die deutsche und insbesondere die englische Wikipedia haben jeweils eigene, äußerst umfangreiche Artikel zum Streit über die Shakespeare-Urheberschaft; die Artikel reflektieren eine überaus breite Forschungsdiskussion. Beide arbeiten mit einer Masse von Fußnoten, beim englischen sind es über 230 Fußnoten und eine Unmenge an weiteren Literaturangaben auf Monographien und Aufsätze insbesondere auch der letzten Jahre. Die Artikel sind übrigens, soweit ich sehe, durchaus neutral gehalten, sie eignen sich dazu, sich ein eigenes Bild zu machen.

Der deutsche Artikel sortiert die Literaturangaben nach vertretener Position, nach meiner Einschätzung läßt sich schon über den Tonfall der Titelgebung bei vielen der Anti-Stratfordianer-Schriften ein hohes Skandalisierungsbedürfnis erkennen, das ich leicht mit geringer Glaubwürdigkeit zu verbinden geneigt bin: "Das Shakespeare-Komplott", "The Shakespeare Enigma", "Marlowe's Ghost: The Blacklisting of the Man Who Was Shakespeare", "The Shakespeare Code", "Cryptographic Shakespeare"... ich könnte weitere auflisten. Die Prüfung dieser Schriften nehme ich nicht selbst vor, das überlasse ich den Spezialisten, die das offensichtlich - denn das zeigt die Fülle der Schriften aller Konfliktparteien - nicht ignorieren, sondern sachlich gegenanargumentieren (wenn auch möglicherweise teilweise in dem genervten Tonfall, der gegenüber Verschwörungstheoretikern irgendwann unvermeidlich wird). In meinen Augen ist etwa diese Argumentation nachvollziehbar und hinreichend, nach gegenwärtigem Stand die Sache nicht weiter verfolgenswert zu finden.

@janw: Inwieweit es sich bei wissenschaftlichen Vorgehensweisen anderer Fachrichtungen um das blinde Festklammern an einer feststehenden Lehrmeinung bzw. "doxa" handelt, entzieht sich meist meiner Kenntnis. Ich bin mit diesem Vorwurf allerdings sehr vorsichtig, wenn ich keine guten Belege dafür habe, da er ehrenrührig ist. Hier halte ich ihn in Anbetracht der intensiven Fachdiskussion für unangebracht.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Di 1. Nov 2011, 10:33 - Beitrag #16

Zitat von janw: das Zulassen von Zweifel Grundlage jeder Wissenschaftlichkeit, und eine Literaturwissenschaft, die sich zweifelnden Fragen verschließt, verlässt für mich den Raum geistiger Freiheit, hin zur Orthodoxie.

Definitiv, aber es geht ja auch nicht um (im Idealfall) begründete Zweifel, sondern um das Vorschlagen alternativer Theorien, die wesentlich weniger faktische Grundlage haben.

Sind wir uns denn schon mal darüber einig, ob das ein ausschließlich rezeptionsgeschichtliches oder ein sachliches Problem ist?

Es ist eine sachliche Fragestellung, die aber auf der Ebene relativ schnell beantwortet ist. Wenn sich dann jemand aus dem Ärmel schüttelt, dass er es aber viel wahrscheinlicher findet, dass Queen Elisabeth der eigentliche Autor der Shakespearestücke war, dann hat er das aus seiner Sicht zum Problem gemacht, für die meisten Kenner dürfte er damit nur Kopfschütteln hervorrufen.

Auf der sachlichen Ebene kommt man bei historischen Angelegenheiten, die mehrere Jahrhunderte zurückliegen, irgendwann zu dem Punkt, an dem man feststellen muss: "Wir haben die verfügbaren Quellen ausgewertet, alles deutet in diese oder jene Richtung, aber mathematische Sicherheit gibt es nicht."

An diesem Punkt ist die Shakespeare-Forschung. Sicher wird sich niemand neuen Beweisen verschließen, aber die Grundlage für die etwa 70 alternativ vorgeschlagenen Personen ist sehr dünn.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 1. Nov 2011, 11:14 - Beitrag #17

natürlich gibt es diese breite Forschungssituation^^ sag mir, Lykurg, wieviele Publikationen von Hardcore-Physikern der ernstzunehmenden Sorte benötigt man zur Widerlegung der Hohlen Erde-Theorie? Nicht wirklich viele, weil die Forschungslage doch einigermaßen eindeutig ist und man sich als Forscher im Prinzip genüsslich zurücklehnen kann, wenn mal wieder jemand sich mit Gewalt lächerlich machen will. Von den Argumenten der Anti-Stratfordianer scheint hingegen eine erhebliche Beunruhigung der etablierten Literaturwissenschaft auszugehen, zumindest das sehe ich als gegeben, unabhängig von der Frage, ob die Urheberschaft jemals wirklich bewiesen werden kann.

Die Gruppentheorie, die am Ende des deutschen Artikels erwähnt wird, scheint mir durchaus plausibel; natürlich teilt sie die Probleme anderer Alternativautorenschaften. Aber welcher Stein der Literaturwissenschaft aus der Krone bricht, wenn sie die Autorenschaft Shakespeares als eine von mehreren möglichen, von mir aus auch noch als die wahrscheinlichste, aber eben nicht als bewiesene, darstellt, ist mir nicht wirklich ersichtlich.

Und dass eine Auffassung in den Kanon eingegangen ist, besagt nichts über ihren Wirklichkeitsgehalt.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 1. Nov 2011, 11:56 - Beitrag #18

Ipsissimus, wie e-noon schon schreibt, landet man (im Gegensatz zur Hohle-Erde-Theorie, die sich z.B. empirisch recht gut widerlegen läßt - da mal nachbohren!) bei der Suche nach Shakespeare-Argumenten ebenso wie bei fast beliebigen anderen Fragen, die seine Zeit und Zeitgenossen betreffen, bei Problemen, die sich aufgrund von Quellenverlust nicht mehr eindeutig klären lassen. Eindeutigkeit führt aber dazu, daß man etwas mit einem Aufsatz widerlegen kann; erst bei komplexeren Fragestellungen ergibt sich das Potential zum Widerspruch und damit der Papierberg, der hierüber fabriziert wurde. Dann kann man aufgrund der vorhandenen Faktenbasis argumentieren und feststellen, daß Shakespeares Urheberschaft seiner Werke nicht letztgültig geklärt werden kann, wenn sie auch quellentechnisch weit sicherer belegt ist als z.B. Vergils Urheberschaft der Aeneis oder Horaz' Verfasserschaft der Epistula ad Pisones (auf die Griechen will ich gar nicht erst zu sprechen kommen^^).

Soviel zur sachlichen Ebene, der Rest ist, wie schon angesprochen, ein Rezeptionsphänomen - wenn man so will, ein doppeltes, da ein wesentlicher Aspekt dabei die Rezeption der eigenen Forschungsarbeiten ist. In der Physik macht man sich mit der Hohle-Erde-Theorie wunderschön lächerlich; nimmt man sich aber ein Themenfeld vor, das schwieriger falsifizierbar ist (idealerweise ein rein spekulatives Gebiet, das seine eigene Nichtbeobachtbarkeit postuliert, mit Heisenberg könnte sich vielleicht irgendwas anstellen lassen?) erreicht man Bekanntheit, ohne dafür wirklich etwas in der Hand haben zu müssen.

Die Gruppentheorie - dem steht trotzdem die Kombination aus Autornennung und die Existenz der schon zu seiner Zeit berühmten Schauspieler- und Theaterunternehmer/dichterfigur Shakespeare entgegen. Möglicherweise sind weitere Werke zweifelhaft, das wäre zu prüfen, aber nicht von mir. Ich habe aber jedenfalls nicht den Eindruck, daß die Anglistik das Thema konspirativ unterdrückt, deswegen meine Stellungnahme.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Di 1. Nov 2011, 12:03 - Beitrag #19

Von den Argumenten der Anti-Stratfordianer scheint hingegen eine erhebliche Beunruhigung der etablierten Literaturwissenschaft auszugehen, zumindest das sehe ich als gegeben, unabhängig von der Frage, ob die Urheberschaft jemals wirklich bewiesen werden kann.

Weil die Anti-Stratfordianer ihre abstrusen Thesen mit Nachdruck und, wie von dir gezeigt, mit der geballten Kraft der Massenmedien in die Öffentlichkeit bringen, sodass beim Laienpublikum der Eindruck entsteht, hier werde eine irgendwie schon plausible, allgemein rumorende und Belege habende These unterdrückt; dies ist nur eben nicht der Fall. In einer ähnlichen Zwickmühle befinden sich Evolutionsbiologen: Die überwältigende Mehrheit sämtlicher ihrer Thesen ist überraschend gut belegt, begründet, logisch konsistent und mit wenigen Ausnahmen lückenlos; dennoch werden die wenigen Lücken von Kreationisten genutzt, um die ganze Theorie als unbewiesen hinzustellen und auf besagte kleine Lücken in einer gut funktionierenden Theorie ihr absurdes Konzept aus Thesen aufzustellen, die sie mit einem einzigen Buch begründen, anstatt sich die Welt, wie sie sich darstellt, anzusehen. Da solche einfachen und abstrusen Theorien aber gerne Anklang bei den Laien finden, muss man ihnen immer wieder etwas entgegensetzen, auch wenn sie sich aus wissenschaftlicher Sicht von selbst erledigen.

Aber welcher Stein der Literaturwissenschaft aus der Krone bricht, wenn sie die Autorenschaft Shakespeares als eine von mehreren möglichen, von mir aus auch noch als die wahrscheinlichste, aber eben nicht als bewiesene, darstellt, ist mir nicht wirklich ersichtlich.

Genau das tut sie ja auch. Nur umfasst "die wahrscheinlichste" hier eben sämtliche Publikationen der genannten Stücke sowie Belege von Zeitzeugen, während die 'anderen Möglichkeiten' keinen einzigen Beleg für ihre These haben (es steht ja auch nicht eine Gegenthese im Raum, sondern 70 verschiedene, mehr oder minder abstruse). Mit einer Aussage wie "Alle wissenschaftlichen Belege sprechen für die Autorschaft Shakespeares, aber auszuschließen ist eine dennoch unwahrscheinliche großangelegte Verschwörung etlicher Personen im Umfeld des Theaterwesens und des englischen Königshauses nicht" hätten sicher die wenigsten Literaturwissenschaftler ein Problem.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Di 1. Nov 2011, 12:10 - Beitrag #20

Ich kann mich Lykurg anschließen. Der von ihm erwähnte Artikel enthält Argumente, die mMn weit stärker sind als alles, was als Gegenargumente vorgeschlagen wird. Und vor allem gigantisch stärker als alles, was als Argument für irgendeine andere Person vorgeschlagen wird.

Im herkömmlichen Sinne des Wortes 'Beweis' in der Geschichtswissenschaft (und auch in vielen anderen Wissenschaften) kann man die Stratford-Theorie anscheinend als bewiesen oder nahezu bewiesen annehmen. Das schließt nicht andere Möglichkeiten aus, deklariert sie nur als sehr unwahrscheinlich. Ich will auf Parallelen zum Fall der fehlenden Jahrhunderte im Mittelalter aufmerksam machen (hier die deutsche Wikipediaversion, hier eine wesentlich ausführlichere englische Wikipediaversion). Was ist hier bewiesen, was nicht?

Eine mildere Variante der Gruppentheorie wäre, dass Shakespeare, wie viele Autoren, von irgendjemandem Unterstützung hatten beim Schreiben...

Nächste

Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste

cron