Mankell - Kennedys Hirn

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Ipsissimus
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Do 10. Nov 2011, 14:39 - Beitrag #1

Henning Mankell
Kennedys Hirn
deutsche Übersetzung von Wolfgang Butt
Paul Zsolnay Verlag, 5. Auflage Januar 2006

ich bin nicht so der Mankell-Fan, aber dieses Buch hat mich, trotz des etwas reißerischen Titels, für sich eingenommen, eingenommen durch etwas, das ich als das "Herüberreichen der Fiktion in die Realität" charakterisieren möchte. Das Buch ist keine Dokumentation, es ist echte Fiktion, aber die Thematik brennt unter den Nägeln und die geschilderten Sachverhalte existieren, auch wenn die im Buch drum herum gewobenen Ereignisse fiktional bleiben.

Louise Cantor ist eine etwa 50jährige schwedische Archäologin, die für einen Vortrag in Stockholm für ein paar Tage von ihrer aktuellen Ausgrabung in Griechenland beurlaubt wird und nach Schweden zurückkehrt. Sie will dies dafür nutzen, um nach dem Vortrag ihren 25jährigen Sohn Hendrik zu besuchen, zu dem sie ein gutes Verhältnis zu haben glaubt. Sie findet ihren Sohn, zu dessen Wohnung sie einen Schlüssel hat, tot im Bette liegend vor. Es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Gewalttaten, und als die Polizei als Todesursache eine Überdosis Schlaftabletten ermittelt und die Akte mit dem Vermerk "Selbstmord" schließt, beginnt Louise Cantor, auf eigene Faust, Nachforschungen über die letzten Monate im Leben Hendriks anzustellen.

Diese Nachforschungen gestalten sich zunächst als sehr schwierig, aber im Laufe der Zeit findet sie heraus, dass sich Hendrik mit der Aids-Epidemie auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem in Mozambique, Tansania und Kongo beschäftigt hatte. Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass einige Unternehmer diese Epidemie zu verbrecherische Machenschaften in größtem Ausmaß nutzen und in als Krankenhäuser getarnten Anstalten gesunde, in der Regel schwarzhäutige Patienten mit Aids infizieren, um an diesen Menschen illegale und grausame Forschungen zur Entwicklung von Medikamenten gegen Aids zu betreiben. Mankell lässt in seinem Schlusswort keinen Zweifel daran, dass es diese Anstalten in der im Buch geschilderten Weise tatsächlich gibt und die Fiktion an dieser Stelle exakt die Realität abbildet.

Es gelingt Louise Cantor, die Umstände von Hendriks Tod einzukreisen und schließlich einen Mann zu treffen, der mutmaßlich für Hendriks Tod direkt verantwortlich und erwiesenermaßen Betreiber einer dieser Anstalten ist, ohne dass sie irgendeinen Beleg in die Hände bekäme, womit sie eines von beiden beweisen könnte. Das Gespräch endet damit, dass der Mann sie ob ihrer Machtlosigkeit mehr oder weniger auslacht und sie wegen ihrer Belanglosigkeit gehen lässt.

Zurückgekehrt nach Schweden erkennt sie dann, was sie machen muss, um mit ihrer eigenen Hilf- und Kraftlosigkeit fertig zu werden, sie wird die Geschichte der afrikanischen Aidsopfer, die Hendrik nicht mehr erzählen konnte, an seiner Stelle erzählen. Damit endet das Buch.

Der Titel, Kennedys Hirn, verweist auf den historisch belegten Umstand, dass nach der Ermordung Kennedys ein Teil seines Gehirns verloren ging. Es fehlten irgendwann einfach mehr als ein Viertel der nach der Tat eingefrorenen restlichen Hirnmasse, ohne dass je geklärt wurde, was damit passiert ist. Dieser Umstand wurde von der Regierung Lincoln geheimgehalten und erst gut 30 Jahre später öffentlich gemacht. Hendrik interessierte sich nun nicht für das Schicksal von Kennedys Hirn, er studierte vielmehr anhand der spärlichen Spuren, die er dazu zusammentragen konnte, wie die Mechanismen funktionieren, die derartige Geheimhaltung möglich machen, in der Hoffnung, dadurch Werkzeuge zu finden, die es ihm ermöglichen würden, die Geheimhaltungsschilde der Aids-Anstalten auszuhebeln. Das Buch deutet an, dass er letztlich deswegen getötet wurde.
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Der Roman ist nicht eigentlich spannend, im Kern der Geschichte steht auch nicht wirklich der Kriminalfall sondern die Annäherung einer Mutter an das Leben ihres Sohnes, das sie zu kennen glaubte, nur um herauszufinden, dass sie praktisch gar nichts davon wusste. Diese Annäherung ist in bedrückende psychologische Situationen und einen völlig desolaten politischen Kontext eingewoben, in dem es außer den Opfern und den wenigen Widerständlern im Grund nur noch Täter gibt, Neutralität scheint anhand der geschilderten Schicksale der Patienten unmöglich, weswegen der Roman folgerichtig auch nicht damit endet, einen spezifischen Täter durch Überführung und Bestrafung hervorzuheben. Louise Cantor weiß am Ende zwar, aber ihr Wissen bleibt belanglos - möglicherweise ein Mankellscher Seitenhieb auf die Wohlstandsgesellschaften, die auch wissen, ohne dass sich dadurch für die Armen und Ohnmächtigen der Welt auch nur das Geringste ändern würde.

Mankell hat durch diesen Roman meine Hochachtung errungen.

Traitor
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Fr 11. Nov 2011, 11:20 - Beitrag #2

Womit wir wieder bei der Frage wären, ob es nicht doch nur die persönliche Übereinstimmung ist, die die Grenze zwischen verdammenswertem "Übergriff" und Leistungen zur Erringung von "Hochachtung" festlegt... Oder darf halt ein sich nahe an der Realwelt haltender Thriller, was Fantasy nicht darf?
Dieser Umstand wurde von der Regierung Lincoln geheimgehalten
Auch noch ein zeitreisender Abe Lincoln ist in die Sache verwickelt? Wirklich eine üble Verschwörung! ;) Johnson vermutlich?

Ipsissimus
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Fr 11. Nov 2011, 18:53 - Beitrag #3

autsch^^ ja, natürlich Johnson^^

Mankell moralisiert nicht, zumindest nicht in diesem Roman, er stellt dar. Und da, wo Moral ins Spiel kommt, ist es eigentlich immer eindeutig, dass es sich um eine Innenperspektive, eine Bewertung seitens der Protagonistin handelt^^ ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sich ein Leser unter Umständen von der Argumentation ihres Antagonisten überzeugen ließe, die ist wirklich nicht ohne, zumal die Bewertungen seitens der Cantor immer unter dem Vobehalt der persönlichen Betroffenheit stehen. Sie weiß manchmal, wo sie tatsächlich nur fühlt^^


abgesehen davon, und das gilt für Krimis genauso wie für allen anderen Arten von belletristischer Literatur, glaube ich nicht an die eine allgemeinverbindlich gültige Leseart^^ und schon gar nicht auf Grundlage objektiver Kriterien^^ das unterscheidet Fiktion u.a. von Mathematik^^

janw
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Fr 11. Nov 2011, 21:38 - Beitrag #4

Nun, aber das Faktum der Menschenversuche unter dem Deckmantel medizinischer Versorgung besteht nun doch, oder? Und in wiefern sollte dies bei Zugrundelegung des allgemeinen westlichen Moralkonsens anderer subjektiver Bewertung unterworfen sein, als einer Sauerei?

Ipsissimus
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Sa 12. Nov 2011, 13:45 - Beitrag #5

jan, glaubst du an eine Art Sachverhalt-immanente Moral? Wo siehst du einen moralisch erhobenen Zeigefinger wenn geschrieben wird

"Gesunde Patienten wurden mittels Injektionen mit Aids infiziert, um an ihnen die Wirkung möglicher Aidsmedikamente zu testen"?

Entweder es war so oder es war nicht so. Aber Moral tritt da erst auf der Rezipienten-Ebene dazu, in der Verarbeitung durch die Leser, denen eben nicht gesagt wird

"Bösartige Ärzte infizierten gesunde Patienten mittels Injektionen mit Aids, um an ihnen die Wirkung möglicher Aidsmedikamente zu testen, mit denen sie sich dumm und dämlich zu verdienen hofften"?

Wo immer solche Bewertungen in dem Roman auftauchen, sind es Reflexionen von Louise Cantor, die darin versucht, dem Sinn des Todes ihres Sohnes auf die Spur zu kommen, also aus persönlicher Betroffenheit wertet. Mankell lässt es den Lesern aber frei, sich dem anzuschließen oder nicht.

Und was den "allgemeinen westlichen Moralkonsens" angeht - welchen meinst du damit? Den pragmatischen, den für die Politiker, den für die Geschäftsleute oder den für die Medien?

janw
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Sa 12. Nov 2011, 17:07 - Beitrag #6

Glaube an sachverhalt-immanente Moral...nein, keine Angst, so übel ist es nicht um mich bestellt^^

Meine Nachfrage bezog sich mehr auf
abgesehen davon, und das gilt für Krimis genauso wie für allen anderen Arten von belletristischer Literatur, glaube ich nicht an die eine allgemeinverbindlich gültige Leseart^^ und schon gar nicht auf Grundlage objektiver Kriterien^^ das unterscheidet Fiktion u.a. von Mathematik^^

also ist es Fiktion um einen realen Kernteil, der beim durchschnittlichen Leser eine moralische Berührtheit auslösen wird, ohne daß Mankell solche Regungen schürt, kann man das so sagen?

Ipsissimus
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So 13. Nov 2011, 10:58 - Beitrag #7

hängt das nicht vom Lesenden ab? Ich stelle mir gerade als solchen einen Pharmareferenten vor, der das persönlich für verwerflich hält, was ihn aber nicht davon abhält, tagsüber im Rahmen seiner Arbeit diese Medikamente weiterhin an den Arzt zu bringen. Oder um die Problematik geringfügig auszuweiten, wie ist es um die Moral jener bestellt, die zwar Tierversuche ablehnen, wenn sie sich verbrennen aber ganz selbstverständlich zur Brandsalbe greifen, für die sich Schweine die Seele aus dem Leib gequiekt haben, vor Schmerzen. Ist Empörung in diesen und unzähligen anderen Fällen irgendetwas anderes als Verschleierung, ein falsches Alibi? Ich denke, dass Mankell das weiß, zumindest hoffe ich das für ihn. Und daher auf Moral verzichtet, nicht aber auf die Darstellung von Sachverhalten.

janw
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So 13. Nov 2011, 12:41 - Beitrag #8

Man kann es so nennen, Verschleierung, falsches Alibi, oder auch Schizophrenie von Denken und Handeln.
Man könnte auch überlegen, ob Moral eine absolute Kategorie darstellt, oder ob sie dies darstellen kann oder nicht doch eher eine Leitlinie sein muss, die in der Praxis einer Einengung durch andere lebensbestimmende Randbedingungen (Bestreitung von Lebensunterhalt, Erhalt von Gesundheit) zugänglich sein muss, um lebbar zu sein - oder ob eine so verstandene Moral nicht proklamierte Beliebigkeit ist, behandelt mit einer jährlichen Ablasszahlung an Misereor oder Brot für die Welt.

Klingt auf jeden Fall nach einem lesenswerten Krimi, der vielleicht gerade durch die Nichtmoralisierung besonders eindringlich wirkt.

Lykurg
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So 13. Nov 2011, 13:27 - Beitrag #9

Ich glaube, daß derartiges Verhalten für uns sehr viel alltäglicher ist, als wir meinen - teils aus Unwissenheit natürlich, aber auch in vielen Bereichen, in denen wir es gar nicht so genau wissen wollen oder wider besseren Wissens. In manchem kommen wir kaum oder gar nicht umhin, Leistungen unethischer Forschung oder Produkte von semikriminellen Konzernen zu nutzen, und die Fähigkeit, damit umzugehen, ist eine notwendige Konzession moralischer Kategorisierungen an die Lebenswirklichkeit. - Das heißt natürlich nicht, daß die unethischen Verhaltensweisen so zu akzeptieren wären.

Ipsissimus
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So 13. Nov 2011, 15:21 - Beitrag #10

das handhabe ich ganz ähnlich, Lykurg, selektive Moral und Ethik, obwohl genau das einer der Punkte ist, die mich verzweifeln lassen würden, wenn ich nicht den Zynismus gewählt hätte

Traitor
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Mo 14. Nov 2011, 22:31 - Beitrag #11

Ich habe dem Buch mal seinen eigenen Thread spendiert.

LBJ, LBJ, how many brains did you lose today...? ;)

Moraldarlegung nur aus Charakterperspektive bedeutet noch lange keine eindeutige Distanzierung des Autors vom Gesagten, ebensowenig wie Darlegung durch einen Dritte-Person-Erzähler eine eindeutige Aneignung sein muss. Und da Mankell als politisch engagiert gelten kann, würde es mich schon verwundern, wenn er bei diesem Thema nicht werten wollte. Aber wenn er dies nicht oberlehrerhaft macht, sondern die Erzählung für sich stehen lässt und dem gebildeten Leser das Urteil zugesteht, ist das äußerst achtenswert, ja. Auf eine mit größter Wahrscheinlichkeit zu erwartende Leserreaktion aufgrund von Jans "Moralkonsens" oder zumindest großer Moralüberschneidungen wird er dabei wohl durchaus bewusst spekuliert haben.

Ipsissimus
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Di 15. Nov 2011, 13:26 - Beitrag #12

nein, Mankell distanziert sich nicht von den moralischen Vorstellungen der Cantor, er promotet sie aber auch nicht durch suggestive Darstellungsweise; er überlässt die Bewertung eben den Lesenden. Dass er auf politische Empörung abzielt, ist einigermaßen klar, aber er macht das eben nicht in stile catechismo wie Tolkien


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