Jonathan Littell - Die Wohlgesinnten

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Ipsissimus
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Do 26. Apr 2012, 14:38 - Beitrag #1

Jonathan Littell
Die Wohlgesinnten

Les Bienveillantes, éditions Gallimard, 2006 (französisches Original)
gelesene Ausgabe: Die Wohlgesinnten, Berlin-Verlag, 2008

Hinweis: Dieses Buch sollte nur von psychisch stabilen Menschen gelesen werden. Alle LeserInnen setzen sich der Ungeheuerlichkeit aus.

Gegenstand des Romans ist der Russlandfeldzug der Deutschen Wehrmacht im 2ten Weltkieg, beginnend mit der Überschreitung der polnisch-russischen Grenze durch die Wehrmacht bis zur Einnahme Berlins durch die Rote Armee. Die Geschichte hält sich auf ihren über 1400 Seiten bis in kleinste Details sehr genau an historisch belegte Sachverhalte, lässt diese aber in die Ich-Erzählung des fiktiven Offiziers des deutschen Sicherheitsdienstes Max von Aue einfließen.

Der Roman zeichnet sich durch drei wesentliche Umstände aus: die Erzählung erfolgt ausschließlich aus Täterperspektive unter völligem Ausschluss der Opferperspektive, sie verzichtet vollständig auf eine Verflechtung der Geschehnisse mit moralischen Bewertungen und sie erfolgt in einer fotorealistisch anmutenden Weise.

Hier erzählt ein Nationalsozialist, der völlig von der Notwendigkeit der Ausrottung von Juden, Zigeunern, psychisch Kranken und Bolschewiken durchdrungen ist, anderen befreundeten Nationalsozialisten in äußerst freimütiger Weise von der Vorgehensweise der Wehrmacht und der SS; man ist unter sich, es besteht keine Notwendigkeit, irgendetwas zu beschönigen oder in ein anderes Licht zu stellen. Von Aue ist sich zutiefst bewusst, dass von ihm und den anderen Offizieren des SD und der SS Unmenschlichkeit verlangt wird, er ist bereit, sich diesen Befehlen zu stellen und ihre Notwendigkeit mit zu tragen, auch da, wo er sie als unangenehme Aufgabe empfindet.

So erzählt er vor allem von all den alltäglichen Schwierigkeiten der Pflichterfüllung, von psychischen Problemen der Männer der Erschießungskommandos, von Offizieren, die Schwierigkeiten mit ihrem Selbstbild bekommen, vom Leben in der Etappe, vom allmählichen Abrücken von den Erschießungen hin zu Entwicklung der Vernichtungslager, Details des Kriegs gegen die Zivilbevölkerung in der russisch-ukrainischen Ebene und schließlich von der Wendung des Kriegsgeschehens.

Es ist ein endloser Strom von Grausamkeiten, im Kleinen wie im Großen, im äußeren Geschehen und in den inneren Reflektionen Aues, die jene Grausamkeiten begleiten. Aue ist kein genuin grausamer Mensch, er reflektiert vieles kritisch, wenn auch immer unter dem Vorbehalt, dass nichts ihn von der Pflichterfüllung abbringen kann. So kategorisiert er seine Mitoffiziere: es gibt die Schlächter, die aus Lust am Blutbad und an Folterungen töten, es gibt die Künstler, für die das Töten ein besonderes Handwerk ist, das zu Perfektion gebracht werden muss und es gibt diejenigen, für die das alle eine unangenehme Pflicht ist. Er selbst ordnet sich nirgends ein, er ist für sich selbst verloren gegangen. Das hindert ihn aber im späteren Verlauf nicht, im Einklang mit den Erfordernissen seines Selbsterhaltungstriebes Taten zu begehen, für die ein Splatterfilmautor wegen fehlendem Realismus ausgelacht würde. Es besteht kein Zweifel, dass derartige Taten begangen wurden.

Das Buch ist die Geschichte eines gigantischen Entgleisungsprozesses; mehr oder weniger alle erwähnten Personen beginnen als Menschen wie alle Menschen und enden in der vollkommenen Auflösung ihrer persönlichen Integrität in absoluter Bösartigkeit. Das gilt nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die ukrainischen und sonstigen Hilfstruppen.

Das Buch erzählt eine Geschichte, die wahrer ist als die Wahrheit, im besten und im fürchterlichsten Sinne. Und gerade der Verzicht auf moralische Wertungen erzwingt eine persönliche Positionierung des Lesenden.

Empfehlung: Schulpflichtlektüre in der 13ten Klasse anhand kommentierter Auszüge. Später persönliche Pflichtlektüre für jeden. Der Warnhinweis am Anfang ist nicht als Scherz gedacht.

janw
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Do 26. Apr 2012, 14:54 - Beitrag #2

Ich musste spontan an Breivik denken, besonders bei der Stelle
Zitat von Ipsissimus:Von Aue ist sich zutiefst bewusst, dass von ihm und den anderen Offizieren des SD und der SS Unmenschlichkeit verlangt wird, er ist bereit, sich diesen Befehlen zu stellen und ihre Notwendigkeit mit zu tragen, auch da, wo er sie als unangenehme Aufgabe empfindet.

Nur hat der die Problemlage und die zu ihrer Behebung erforderlichen Methoden und die Verlangung, daß diese umgesetzt werden müssten, selbst gedacht.

Lykurg
[ohne Titel]
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Do 26. Apr 2012, 16:43 - Beitrag #3

Ich sehe einen massiven Widerspruch zwischen deiner Kennzeichnung als Pflichtlektüre und der Gefahr für die psychische Gesundheit, die du in dem Buch siehst. Ich kann mir zwar mit beidem durchaus vorstellen, daß du recht hast, vermisse aber dennoch eine Auflösung. Darüber hinaus könnte ich mir vorstellen, daß viele Schüler (und Lehrer!) mit einer reflektionslosen, nicht wertenden Darstellungsweise schlicht überfordert wären, auch in Klasse 13 (die es doch gar nicht mehr gibt?) und danach. Heutige Unterrichtsmaterialien versuchen oft eher, den Schüler möglichst an beide Hände zu nehmen und diese im Bedarfsfall dann auch zusammenzuklatschen.

Ipsissimus
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Do 26. Apr 2012, 17:02 - Beitrag #4

na ja, gemeint war die Abschlussklasse eines Gymnasiums; für jüngere Leser ist das nur in Einzelfällen was. Und ja, das spannende Moment dieses Buches besteht darin, dass es unter die Haut kriecht, d.h. die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Geschehnissen wird durch eine empathische ergänzt. Zumindest ging es mir so, dass ich mich ständig fragen musste, was ich an Aues Stelle gemacht hätte.

Ich halte übrigens heutige Unterrichtsmethoden bekanntermaßen nicht für das Maß aller Dinge^^

Ich sehe darin keine direkte Gefahr für die psychische Gesundheit sondern lediglich für eine psychische Überforderung, der mensch sich in psychischen Krisenzeiten nicht noch zusätzlich ausliefern muss. Für die Schule habe ich ja deswegen auch nur eine auszugsweise Lektüre empfohlen, die die ganz schlimmen Grausamkeiten vermeiden und den Rest durch geeignete Kommentare noch abmildern könnte.

Traitor
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Di 1. Mai 2012, 11:47 - Beitrag #5

Ipsi, dein Schicksal wird es wohl auf ewig sein, so interessante Bücher zu lesen, dass ich sie aus dem "Welches Buch lest ihr gerade?" in eigene Threads abteile... ;)

Erfolgt die Charakterisierung von Aues und/oder des dritten Types ("diejenigen, für die das alle eine unangenehme Pflicht ist") weitgehend analog zu der von Soldaten auf der historisch später als richtig eingeordneten Seite eines Krieges, oder auch der von Revolutionären und Tyrannenmördern (z.B. Camus' "Les Justes")? Die schlimme, auch ihnen selbst verurteilenswerte Dinge tun, in der Annahme, sich damit für eine spätere, bessere Welt zu opfern? Oder wird doch ein allen Typen gemeiner nazideutscher Sonderweg der Perversion herausgearbeitet?

Ipsissimus
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Di 1. Mai 2012, 14:13 - Beitrag #6

dass ich sie aus dem "Welches Buch lest ihr gerade?" in eigene Threads abteile...

möge es gelegentlich nützen^^

Littell ist sehr dafür gescholten worden, dass er in dem Buch keinen Deutungshintergrund anbietet (es sei denn, man wollte davon ausgehen, dass bestimmte Sachverhalte im Sinne einer Art "naturalistischen Moral" ihre moralische Bewertung in sich selbst tragen - was natürlich nur geht, wenn der Bewertungsmaßstab bereits gesetzt ist). Von Aues Reflektionen bieten jedenfalls nichts dergleichen. Er ist von Notwendigkeit durchdrungen, der Notwendigkeit eines überzeugten Nationalsozialisten, d.h. der Führerwille ist Gesetz. Davon ausgehend entwickelt er seine Überzeugung, dass es nicht damit getan ist, Befehle zu befolgen - das würde sie zu Tieren machen - sondern er und die Offiziere und Mannschaften der Sonderkommandos müssen selbst dann, wenn die Befehle ihnen aufs Äußerste unangenehm sind, diese verstehend durchdringen und durch das Verstehen zu den Befehl mittragender Erfüllung des Befehls zu gelangen.

Und nur vor diesem Hintergrund setzt er seine Kategorien - er verbindet damit nur praktische Hinterfragungen. Der blutgierige Sadist ist in bestimmten Situationen angemessen, muss aber permanent kontrolliert werden, damit er diese Situationen nicht überschreitet. Der Künstler muss auch permanent kontrolliert werden, weil er dazu neigt, Befehle in einer Weise auszulegen, die den Sinn des Befehls oft verfehlt. Nur dem Soldaten, der keine persönlichen Neigungen mit seinem Tun verbindet, ist zuzutrauen, dass allein der Aspekt der Pflichterfüllung sein Handeln bestimmt, ein Wert an sich aus der Perspektive Aues.

Aue reflektiert kritisch - technische Details, Angemessenheitsabwägungen, aber nie das Grundsätzliche. Da kann man wirklich manchmal verzeifeln. Er sagt ganz klar, dass der Russlandfeldzug und der begleitende Vernichtungsfeldzug nur durch eine Sache gerechtfertig werden kann: wenn die Deutschen gewinnen, denn das ist "unsere Gerechtigkeit". Er sieht auch, dass Deutschland, wenn es nicht gewinnt, Gegenstand der Gerechtigkeit der anderen wird. Er denkt derartige Dinge, während er in Kiew in Leichengräben ermordeten Juden den Gnadenschuss gibt, oder während er Informanten in den besetzten Gebieten mit "intensiveren Methoden" aushorcht, oder während er über neue Methoden nachdenkt, wie es den Männern der Erschießungskommandos leichter gemacht werden kann. Diese Dinge stehen nicht zur Debatte. Der Gedanke, dass Kritik Konsequenzen haben muss, kommt ihm nicht, bzw. er hält ihn für defätistisch.

In einer einleitenden Passage, aus ex post facto-Perspektive, stellt Aue das im folgenden Erzählte als allgemein menschlich dar. Die Nazis haben nichts gemacht, das alle anderen, in die gleiche Situation gestellt, nicht genau so gemacht hätten.

Ipsissimus
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Do 3. Mai 2012, 08:57 - Beitrag #7

es kommt mir so vor, als habe ich jetzt erst verstanden, was der Kern der nationalsozialistischen Ideologie ist: Wenn du stark genug bist, deinen Willen durchzusetzen, darfst du alles wollen. Du darfst nur nie schwach werden.

Irgendwie kommt mir das auch außerhalb des Kontexts bekannt vor.

janw
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Do 3. Mai 2012, 11:42 - Beitrag #8

Zitat von Ipsissimus:In einer einleitenden Passage, aus ex post facto-Perspektive, stellt Aue das im folgenden Erzählte als allgemein menschlich dar. Die Nazis haben nichts gemacht, das alle anderen, in die gleiche Situation gestellt, nicht genau so gemacht hätten.


es kommt mir so vor, als habe ich jetzt erst verstanden, was der Kern der nationalsozialistischen Ideologie ist: Wenn du stark genug bist, deinen Willen durchzusetzen, darfst du alles wollen. Du darfst nur nie schwach werden.


Naja, Hitler hat ja seine Ideologie als Teil bzw. Ausdruck des Kampfes seines "Volkes" um "Raum" und gegen von ihm empfundene Überfremdung dargestellt, was ja mit entsprechender Weltsicht als mögliches Problem auch anderer "Völker" angesehen werden kann - die dann eben mit ähnlichen Mitteln handeln würden.
Das argumentative Mittel jedes Kneipenschlägers - "ja, wenn dir einer dumm kommt, dann haust du ihm doch auch eine runter, normal, oder?"

Ipsi, könnte das letztere nicht auf einer Interpretation der NS-Ideologie seitens des Autors beruhen?

Ipsissimus
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Do 3. Mai 2012, 13:48 - Beitrag #9

Ipsi, könnte das letztere nicht auf einer Interpretation der NS-Ideologie seitens des Autors beruhen?


Im Rahmen fiktionaler Literatur, natürlich. Wobei ich mir schwer tue mit dieser Einschätzung, natürlich ist von Aue und damit seine Perspektive Fiktion, aber die wiederum ist so was von realistisch ...


Ich bin mir bezüglich des Kneipenschlägers nicht ganz schlüssig. Natürlich hat es ganz massiv etwas davon, aber viele dieser Leute waren in aller Nüchternheit so was von durchdrungen von ihrer Ideologie.

Ganz schlimm fand ich zum Beispiel ein paar Gedanken, die sich von Aue zu einer Erschießung in Charkow machte, die ziemlich aus dem Ruder lief. Er erklärt sich den ausufernden, rasenden Gewaltexzess der Erschießungskommandos als eine Form von Mitleid. Als Form eines Mitleids, das sich in äußerster Zurückgenommenheit und Hilflosigkeit nicht mehr anders zu helfen weiß, als das Objekt des Mitleids so schnell und umfassend wie möglich und so brutal wie nötig zu vernichten, weil es sonst sich selbst nicht mehr aushält.

Bei solchen Passagen muss ich jedenfalls erst mal nach Luft schnappen.

Traitor
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Sa 5. Mai 2012, 15:18 - Beitrag #10

Von Aue ist also nicht primär ein Nazi, sondern ein Militär? Einerseits dürfte dieses Offiziersethos tatsächlich etwas sein, was nationsübergreifend ist/war, also wären bei entsprechenden politischen Entwicklungen wahrscheinlich auch in den Armeen anderer Länder ähnliche Monster entstanden. Andererseits kann man das auch als Anhaltspunkt für zeitliche Relativierung auffassen, dass diese klassische Offiziersschicht nur vor dem Hintergrund der noch halbwegs intakten Adelsgesellschaft existierte. Ohne heutige Militärs völlig von verwandten Geisteshaltungen freisprechen zu wollen...

In einer einleitenden Passage, aus ex post facto-Perspektive, stellt Aue das im folgenden Erzählte als allgemein menschlich dar. Die Nazis haben nichts gemacht, das alle anderen, in die gleiche Situation gestellt, nicht genau so gemacht hätten.
Ich schätze mal, dann dürfte es diese Einleitung sein, bei der für die Autorenbeurteilung am entscheidendsten ist, ob hier Littell selbst spricht.

es kommt mir so vor, als habe ich jetzt erst verstanden, was der Kern der nationalsozialistischen Ideologie ist: Wenn du stark genug bist, deinen Willen durchzusetzen, darfst du alles wollen. Du darfst nur nie schwach werden.
Ich würde sagen, das ist weniger der Kern der NS-Ideologie, als der entscheidende Wesenszug des NS-Machtapparats. Man sah ja gegen Ende ihrer Herrschaft sehr gut, und bekannte Alternativhistorien u.a. von Harris und Dick haben das ja besonders gerne aufgegriffen, wie wenig echten politischen Inhalt die NS-Größen teilten, und wie sehr es ihnen nur auf persönliche Macht ankam. Und diese Haltung hat die Gesamtgesellschaft sicher willig aufgesogen. Die ursprüngliche NS-Ideologie dagegen dürfte durchaus einige Inhalte gehabt haben, die nicht nur Kult der Stärke war, das "sozialistisch" im Namen hatte ja durchaus mal eine Bewandnis, und auch die ganze Völkischheit geht ja über reine Stärkendurchsetzung hinaus. Ich habe mich aber (glücklicherweise?) nie intensiv mit Primärquellen zu ihrer Ideologie auseinandergesetzt, wirklich beurteilen kann ich es also nicht.

Ipsissimus
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So 6. Mai 2012, 22:01 - Beitrag #11

nein, dann habe ich einen falschen Eindruck erweckt. Von Aue ist primär ein Jurist vom Typ "karrieregeil", der sich vom SD (Sicherheitsdienst) der SS anwerben lässt und von Anfang an nur in der administrativen Begleitung der Sonder(-Erschießungs-)kommandos zu Zwecken der Judenvernichtung eingesetzt wurde. Erst später muss er sich dann auch selbst die Hände schmutzig machen. Er ist unter Nationalsozialisten überzeugter Nationalsozialist, die Frage, was er unter anderen Umständen wäre, stellt sich ihm nicht. Er hält die Judenvernichtung für einen "Fehler", der aber aufgrund der besonderen Situation der NSDAP "unvermeidbar für Deutschland" ist und deswegen mit größtmöglicher Effizienz durchgeführt werden muss.

Ist wirklich die Frage, ob die "ursprüngliche NS-Ideologie" jemals mehr war als Alibi für diese persönlichen Machtansprüche.

janw
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Mo 7. Mai 2012, 20:26 - Beitrag #12

Ich habe mir mal den wikipedia-Artikel dazu durchgelesen.
Danach handelt es sich bei Aue (ohne von) um einen Elsässer, der mit einem Bündel familiärer Kindheitsprobleme belastet ist, u.a. Vaterverlust, für den er seine Mutter hasst.
IMHO nicht unbedingt ein geeignetes Setting, um einen verallgemeinerbaren Deutungshintergrund zu liefern. Es sei denn den, daß die nationalsozialistische Bewegung in der Weimarer Zeit ein Sammelbecken in vergleichbarer Weise Belasteter oder Gescheiterter war, für die die von Hitler gelieferte Herrenmenschenideologie und die Identifikation einer gesellschaftlichen Gruppe als Gegner einen Weg zur Kompensation von Selbstwertdefiziten darstellte.

Die propagandistische Ausschlachtung bzw. Umdeutung des Versailler Vertrages als Versuch, das deutsche "Volk" zu schädigen, die Darstellung "der Deutschen" als quasi Traumatisierte, die durch Hitler "zu neuer Größe" gelangen würden, könnte man so als Versuch ansehen, Traumatisierung zu normalisieren, wodurch Hitler automatisch größeren Teilen der Gesellschaft als Hoffnungsträger erscheinen würde.

Die geschilderten Verarbeitungen der Massakererlebnisse sind in meinen Augen psychologische Selbstschutzmechanismen, vergleichbar den Pflichterfüllungsaussagen und Verantwortungsabweisungen Eichmanns.

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Di 8. Mai 2012, 00:45 - Beitrag #13

er stellt sich selbst im Buch als "von Aue" vor, wird aber im Laufe der Handlung beinahe beliebig mit oder ohne "von" angesprochen.

Ich denke, bezüglich der Ursachen des Nationalsozialismus führen Verallgemeinerungen ohnehin in die Irre. Von Aue ist hochintelligent, bisexuell, hat etwas latent Schäbiges in seiner gesamten Charakterzeichnung. Seine Ausgangslage als junger Hochschulabsolvent mit Doktortitel ist de jure hervorragend, doch ist er zu diesem Zeitpunkt durch seine Bekanntschaft mit einem Offizier des SD schon ... angetastet, bereits in einer ethischen Schieflage, was aber nicht sofort zu expliziten Auswirkungen führt - erst im Laufe des Entgleisungsprozesses wird sichtbar, dass von Aue zwar kein brutales Schwein ist, unterirdisch aber immer mehr die Eigenschaften einer perfiden Ratte ausbildet, bis diese Eigenschaften an die Oberfläche durchbrechen.

Ich denke, es wird im Offizierskorps von Wehrmacht und SS solche Karrieren gegeben haben. Meines Erachtens ist es äußerst schwierig, die Ausrottung ganzer Regionen zu betreiben und dabei anständig zu bleiben.


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