Zitat von Padreic, 13.05.2004:Den Michael Kohlhaas von Kleist hab ich mittlerweile durch. Es handelt von einem Mann, den an zwei Pferden und einem Knecht von einem adeligen Herren Unrecht geschehen ist und der nun in mehreren Rechtsinstanzen versucht, sich sein Recht einzuklagen, was aber aufgrund der weitläufigen Beziehungen des adeligen Herren scheitert. Letztendlich stirbt dazu noch seine Frau bei diesen Bemühungen. Nun sieht er sich von dem Recht, das ihn nicht mehr schützt, entbunden, sich selbst als Staatenlosen, der das Recht zur Selbstjustiz hat, was er dann auch wahrnimmt, wobei er zahlreiche Menschen tötet, Burgen und Städte niederbrennt, um den adeligen Herren zu bestrafen, der jedoch stets entflieht. Der Rest der Erzählung handelt dann hauptsächlich von der ihm versprochenen Amnestie, dem Rechtsverfahren gegen ihn und einer merkwürdigen Prophezeiung. Das ganze ist in einer etwas merkwürdigen Prosa geschrieben mit langen Sätzen und zum Teil sehr langen Absätzen. Dabei wird fast nur Handlung geschildert, weder Psychisches noch Kommentar kommen groß vor. So kommen auch trotz des großen Gegenstandes nur gut 100 Seiten zustande. Ich kann es wohl nicht voll empfehlen, viele mögen es auch als langweilig empfinden, mit den Charakteren kann man auch nur wenig mitfühlen, eben weil auf fast alle innere Schilderung verzichtet wird. Der Gegenstand der Erzählung ist dabei aber im Grunde höchst interessant, aber auch das wird gedanklich gesehen eigentlich nur durch Handlung ausgedrückt (höchstens in der Diskussion zwischen Luther und Kohlhaas kommt eine explizitere Dimension zum Tragen).
Mindestens Lykurg und Ipsissimus äußerten auch bisher, das Werk gelesen zu haben, also definitiv einen Thread wert.
Insgesamt für mich eine sehr interessante Erzählung, aber der Stil befremdete auch mich etwas, oder, um genauer zu sein, der Stilmix. An die langen Sätze und Absätze hatte ich mich schnell gewöhnt, aber es gab doch einige Fälle, wo zwischen Pseudo-Chronik und charakternahem Erzählstil gesprungen wurde, nicht nur der von Padreic erwähnte Lutherdialog. Besonders auffällig fand ich den Bruch nach der sehr detaillierten Einleitung über Kohlhaas' persönliche Erfahrungen mit Junker Tronka und die Diskussion mit seiner Frau zur extrem distanzierten Schilderung seiner Plünderungen. Dieser Stilbruch hat aber durchaus seine Wirkung, auch der Leser bekommt mit, dass an dieser Stelle etwas in Kohlhaas zerbricht und/oder freigesetzt wird.
Sehr irritiert hat mich, wie wenig Gewicht Kleist dem Tod der Lisbeth (Michaels Frau) beimisst. Die Misshandlung des Knechts Herse wird von Kohlhaas noch als entscheidendes Unrechtselement angeführt, zwar eher im Sinne einer Sachbeschädigung, ihn aber dennoch als recht wohlbesorgten Herrn ausweisend. Aber dass seine Frau, die ihm doch mehr wert sein sollte als Pferde und Knecht, von der Brandenburger Palastwache getötet wird, sorgt zwar für etwas Trauer und erhöht sicher (wenn auch nur implizit) die Raserei beim Mordbrennen. Aber irgendwie juristisch verfolgt wird das nie wieder, und auch vom Autor weitgehend unter den Teppich gekehrt. Meine Theorie wäre ja, dass Kleist sich als guter brandenburgisch-preußischer Untertan in seinem Buch den Vorgänger des eigenen Herrschers nicht anzugehen traute. Auch ansonten kommt der Brandenburger Kurfürst ja sehr viel besser weg als der Sächsische.
Ziemlich unpassend und unnötig fand ich dazu die im letzten Drittel dominierende Geschichte um die Zigeuner-Wahrsagerin. Außer dazu, den Sachsenfürsten weiter zu demontieren, trägt die doch eigentlich nichts zur ursprünglichen Geschichte bei. Und stilistisch mag dieses abergläubische Element auch nicht zur ansonsten politisch-juristisch-moraltheoretisch sehr scharfsinnigen Geschichte passen.
Ansonsten aber sehr schön dargestellt die mannigfaltigen Verstrickungen der Tronka- und Kallheim-Familien, Luthers wortgewaltiges Eingreifen, und natürlich das Grundthema, die Fragen nach Selbstjustiz, Kündbarkeit des Gesellschaftsvertrages usw. Lohnt sich eine "hat Kohlhaas Recht"-Umfrage oder -Debatte, oder kriegen wir dafür nicht genug Kontroverse beisammen?