Narration im Präsens

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
e-noon
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Do 31. Jan 2013, 13:37 - Beitrag #1

Narration im Präsens

Narration im Präsens anstatt im Präteritum? Ja oder nein? Wann und warum?

Ipsissimus
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Do 31. Jan 2013, 15:02 - Beitrag #2

Wenn mittels Ich-Erzähler dem Leser suggeriert werden soll, er sei mitten im Geschehen. Allgemeiner, wenn Dringlichkeit oder/und Akutheit vermittelt werden sollen.

Aber ist das in bestimmten Literaturgattungen nicht längst Quasi-Standard, z.B. in Hard-Boiled-Krimis oder anderen Formen von Hochgeschwindigkeitserzählungen?

Maglor
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Do 31. Jan 2013, 22:52 - Beitrag #3

Klassischerweise dann, wenn die Erzählung des auktorialen Erzählers auf die Gegenwart bezogen.

Warum eigentlich kein Präsens?
So wie bei Kafka?

Warum überhaupt Zeiten oder Verben?

Schon möglich. Ohne alles. :crazy:
Besser als Perfekt allemal.

Traitor
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Do 31. Jan 2013, 22:58 - Beitrag #4

Nein! Oder zumindest so selten wie möglich!

In den meisten Fällen wirkt diese Form auf mich extrem das wahrgenommene Textniveau senkend. Vielleicht zum Teil, weil ich sie aus Jugendbüchern in schlechter Erinnerung habe, wo sie mir oft als "du Leser bist zu dumm für Vergangenheitsform"-Maßnahme erschien. Aber oft wirkt sie auch einfach unglaubwürdig oder unnatürlich, denn sobald ein Buch eine klare Erzählperspektive hat, muss es eigentlich fast zwangsläufig in der Vergangenheit geschrieben sein, denn wer hat bitte während einer Handlung Zeit, zu erzählen, und wem erzählt er da?

Gerade fällt mir auch kein Buch ein, in dem die Form vorteilhaft genutzt wird, aber vermutlich vergesse ich da schon ein paar, sicher auch Klassiker. Aber sicher viel weniger als solche, die daran scheitern.

@Ipsi: Ich gebe zu, Hard Boileds fast nur aus Filmen zu kennen, aber ist das Klischee nicht eher "Es war ein regnerischer Nachmittag. Ich saß in meinem Büro, als es an der Tür klopfte...."?

Zitat von Maglor:Besser als Perfekt allemal.
Mit kleinem "p" wäre der Satz noch schöner. ;)


Gibt es eigentlich Science Fiction im Futur...? Oder Alternate History im kontrafaktischen Konjunktiv? :D

009
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Fr 1. Feb 2013, 01:40 - Beitrag #5

Zitat von Traitor:Aber oft wirkt sie auch einfach unglaubwürdig oder unnatürlich, denn sobald ein Buch eine klare Erzählperspektive hat, muss es eigentlich fast zwangsläufig in der Vergangenheit geschrieben sein, denn wer hat bitte während einer Handlung Zeit, zu erzählen, und wem erzählt er da?


Nun, in der heutigen Zeit mit der hypermodernen Technik ist sowas schon denkbar. Eine per Smartphone/Tablet geschriebene (diktierte) "Live-Geschichte", bei der es immer dann neues gibt, wenn der Protagonist etwas neues erlebt (oder etwas dafür hält).
Im Fernsehen mit Livestreams von Big Brother und dem Dschungelcamp doch wohl schon umgesetzt...

Traitor
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Fr 1. Feb 2013, 10:14 - Beitrag #6

Deine TV-Sendungen sind, wie im einen Fall schon der Name nahelegt, eher Äquivalente zu einem allwissenden Erzähler im Präsens. Die korrekte filmische Analogie wären "found footage"-Filme (z.B. Blair Witch Project, Cloverfield, Chronicle). Die kranken aber oft schon daran, dass doch Szenen vorkommen, in denen unmöglich jemand eine Kamera in der Hand gehabt haben kann. Ein Bucherzähler eines aufgezeichneten Live-Protokolls müsste entsprechend immer 1-2 Hände für sein Handy freihalten und auch während Dialogen laufend mitschreiben...

e-noon
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Fr 1. Feb 2013, 11:47 - Beitrag #7

Oh, so viele schöne Antworten :)

Ich habe in letzter Zeit ein paar Kurzgeschichten geschrieben und bin bei den letzten beiden unwillentlich (wie Traitor kann ich im Präsens geschriebene Geschichten meist nicht ausstehen) ins Präsens gerutscht. Jetzt käme es mir komisch vor, alles zu ändern, aber ich frage mich natürlich schon, ob diese plötzliche Präsensneigung eine tatsächliche Anforderung der, somit einen Gewinn für die Geschichte wiederspiegelt, oder ob es sich um ein Versehen handelt und die Geschichte besser wäre, wenn sie im Präteritum geschrieben wäre.

Aber das war nur der Ausgangspunkt. Präsens mit Ich-erzähler fände ich auch höchst befremdlich; ist mir aber bisher selten begegnet.

Fraglich ist nur, was Traitor mit "eine klare Erzählperspektive" meint. Eine personale Erzählperspektive? Oder den zuvor konkret genannten Ich-erzähler?

"Warum überhaupt Zeiten oder Verben" ist auch ein höchst spannender Ansatz. Momentan gefällt mir ein üppiger, verschachtelter Satz besser als ein dahingekotztes "Jerry nebenan. Seine Alte besoffen. Klar, wie immer. Nüchtern ist out." - stark vereinfachte Sprache wird meist herangezogen, um stark vereinfachte Charaktere abzubilden, und die finde ich meist nicht so spannend. Ich lese nicht, um mehr über die Flecken auf dem Gehweg zu erfahren und wer sie wann warum dorthin gerotzt hat, sondern in gewissem Maße immer auch, um mich zu erbauen.

"Eine kleine Frau" werde ich demnächst einmal lesen müssen, das lässt sich sehr gut an.

Dass in Krimis so stark im Präsens gearbeitet wird, wusste ich als Krimiverächter noch nicht. Da hätte ich, glaube ich, gerade wegen der Geschwindigkeit auch Furcht vor einem "Kamera wackelt"-Effekt.

Traitor
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Fr 1. Feb 2013, 13:52 - Beitrag #8

Bei Kurzgeschichten halte ich Präsens noch am ehesten für angemessen, da meine ich mich auch ein paar ganz gelungene Beispiele zu erinnern.

Fraglich ist nur, was Traitor mit "eine klare Erzählperspektive" meint. Eine personale Erzählperspektive? Oder den zuvor konkret genannten Ich-erzähler?
Bei einem ich-Erzähler ist automatisch gegeben, dass die Geschichte in der imaginären Zwischenebene zwischen Geschehen und Leser tatsächlich in irgendeiner Form aktiv erinnert, erzählt oder aufgeschrieben wird. Bei den diversen Formen der dritten Person kann das, was man im technischen Sinne "Erzähler" nennt, einfach eine Art "Kamera" sein, die passiv berichtet. Es kann aber auch ein mehr oder weniger personifizierter tatsächlicher Erzähler sein - jemand, der die Geschichte seines Freundes erzählt, ein imaginärer Chronist, ein tatsächlicher (mehr oder weniger) allwissender Beobachter - egal, ob er vom Autor explizit genannt wird oder nicht. Das wäre dann ebenfalls "eine klare Erzählperspektive".
(Im Wesentlichen möchte ich also neben der stilistisch-technischen Kategorie "Erzähler" auch eine metafiktionale Kategorie des "(Nicht-)Erzählens" etablieren.)

"Warum überhaupt Verben" sprengt den Rahmen eines Literaturthreads, da müsste man schon die ganze Sprache reflektieren.

Krimi-Präsens war mir ein unbekanntes Phänomen. Vielleicht dient er dazu, Twist-bedingte Klischees wie "aber er sollte nicht ahnen" / "damals ahnte ich noch nicht" zu vermeiden?

Ipsissimus
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Fr 1. Feb 2013, 17:01 - Beitrag #9

Präsens ist in Krimis kein generelles Phänomen, sondern nur in vielen Hard Boiled Krimis, die also versuchen, den Leser durch die Sprache in die Situation mit einzubeziehen. Möglicherweise ist es auch nur ein Phänomen in den Hard Boileds, die ich lese, obwohl das ein statistischer Ausrutscher wäre, der normalerweise nicht zu erwarten ist^^

Maglor
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Fr 1. Feb 2013, 18:23 - Beitrag #10

Präsens beim Ich-Erzähler findet sich häufig in Briefen, die Teil einer Erzählung sind. Dort ist Präsens auch durchaus angebracht, wenn sich die Figur auf die Gegenwart bezieht.

Kafkas Erzählung "Eine kleine Frau" - dazu besser mehr im gleichnahmigen Matrix-Thread beschreibt der Ich-Erzähler weder das Gestern, noch das Heute oder Morgen, sondern den Alltag. Fast die gesamte Erzählung ist iterativ im Sinne des grammatischen Aktionsart, vergleichbar mit dem englischen "simple present".
Bei dieser kafkaeske Erzählung wäre das Präteritum nicht nur Imperfekt, sondern auch sinnentstellenend.

Ich glaube sowieso, dass der Tempora-Purismus der deutschen Schriftsprache ziemlich aufgesetzt und unnatürlich ist.

Traitor
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Fr 1. Feb 2013, 20:46 - Beitrag #11

Nur als Einschübe vorkommende Briefe sind natürlich, wie andere Medien-in-Medien auch, von den allgemeinen Überlegungen ausgenommen. Komplette Briefromane sind dann ein relevanter Sonderfall. Allerdings sind Briefe auch gerade Textformen, die sehr frei mit schwankender Zeitform umgehen, da oft Inhalte der Form "gestern x, heute y, morgen z" enthaltend.

Ich glaube sowieso, dass der Tempora-Purismus der deutschen Schriftsprache ziemlich aufgesetzt und unnatürlich ist.
Literarischer Purismus bezogen auf "nur ein Tempus pro Werk", oder sprachlicher Purismus technisch korrekter Tempus-Verwendung?

@Ipsi: Ist das ein nennenswerter Teil deines Lesepensums, den du uns im Wblig verschweigst? Oder eher eine Phase, die schon länger vorbei ist - obwohl nein, du sagst ja thematisch passend im Präsens "lese"... ;)

Ipsissimus
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Mo 4. Feb 2013, 17:37 - Beitrag #12

ich lese um einiges mehr, als ich hier vorstelle, Traitor^^ vieles erscheint mir einfach nicht vorstellungswürdig


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